Tokio Hotel
Interview

Tom und Bill Kaulitz von Tokio Hotel: „Wir wollten nur wegrennen vor dieser Karriere“

Mit der Band Tokio Hotel wurden Bill und Tom Kaulitz zu Teenie-Stars – bis ihnen der Ruhm und die eigenen Fans zu viel wurden. Hier erzählen sie von ihrer Flucht nach Los Angeles, die so mancher Berater als Karriereselbstmord bezeichnete. Sie haben ganz prächtig überlebt.

Drucken

Schriftgröße

Ein Zoom-Gespräch zwischen Wien, Berlin und Los Angeles, digitales Interkontinentaltreffen mit Tom und Bill Kaulitz, den Köpfen der Band Tokio Hotel. Seit 2010 leben die Zwillingsbrüder und Ex-Teenie-Stars in Kalifornien, pendeln für Shows, TV-Auftritte und Studioaufnahmen zwischen Berlin, Paris, New York und Kalifornien. Im Interview (Bill sitzt in einer Hotelsuite in Berlin, Tom in seiner Heimat Los Angeles) geben sie sich als perfekt eingespielte Sparring-Partner, spielen sich die Pointen zu und nehmen sich gegenseitig aufs Korn. Die Rollenverteilung: Bill redet forsch drauflos, schlägt gedankliche Haken und kommt vom Hundertsten ins Tausendste, während sich Tom im Hintergrund hält und trockene Witze liefert. Dieser Tage erscheint das sechste Tokio-Hotel-Album (nostalgischer Titel: „2001“), eine Art Werk- und Lebensschau von den Anfängen im kleinen Örtchen Loitsche bei Magdeburg bis heute. Zunächst muss allerdings, der aktuellen Weltlage geschuldet, über die politische Situation in der neuen Heimat und über den Krieg in Europa gesprochen werden.

Sie leben seit mehr als zehn Jahren in Los Angeles. Wie nehmen Sie die Ergebnisse der Midterm-Wahlen und die politische Entwicklung in den USA wahr?
Tom
Wir sind natürlich ständig bestens informiert, schließlich haben wir mit „Kaulitz Hills“ einen Wissens- und Politik-Podcast, da haben wir selbstverständlich eine Verpflichtung unseren Hörern gegenüber! (beide lachen) Ansonsten habe ich die letzten Wochen mit Vorbereitungen für unsere Tokio-Hotel-Shows verbracht und hier in Los Angeles kaum Tageslicht gesehen.
Bill
Leider dürfen Tom und ich in den USA immer noch nicht wählen – das ist sehr schade.
Ihre Tournee wurde wegen des Ukraine-Krieges um ein Jahr verschoben. Wie gehen Sie damit um?
Bill
Dieser Krieg ist furchtbar. Man denkt da nicht viel über sich selbst nach. Ich habe viele Freunde in der Ukraine und in Russland, deren Familien in Gefahr sind, deshalb ist es für mich auch sehr persönlich. Gleichzeitig blutet uns das Herz, weil die Fans so lange auf uns gewartet  haben.
Tokio Hotel hat in Russland eine große Fanbase, auch in Sankt Petersburg und Moskau waren Konzerte geplant, für die es jetzt keine Ersatztermine gibt.
Bill
Ja, wir haben lange überlegt, wie wir mit unseren russischen Fans umgehen sollen. Für uns als Band ist es schwer, den richtigen Umgang zu finden …
Tom
… aber die Absage der Konzerte war die einzig logische Konsequenz.
Tom Kaulitz

„Meine ersten ‚Bild‘-Titel hatte ich mit 15, als ich nach den Sommerferien wieder zurück zur Schule ging.“ - Tom Kaulitz

Schon 2006 traten Tokio Hotel zum ersten Mal in Moskau auf, damals waren die Teenie-Stars gerade 16 Jahre alt. Das Konzert war ausverkauft; das im Jahr zuvor erschienene Debütalbum „Schrei“ hatte Tokio Hotel unter anderem die Auszeichnung als „Worlds Best-Selling German Band Of The Year“ bei den World Music Awards eingebracht. Nach der Bandgründung 2001 und dem Mega-Hit „Durch den Monsun“ (2005) legten die vier Schüler aus der ostdeutschen Provinz einen beachtlichen Senkrechtstart hin. Ihr Motto: Raus in die Welt – und weg aus Ostdeutschland, wo konservative Tendenzen, Neonazis und DDR-Nachwehen das Leben prägten. Die Beziehung zu ihrer Heimat verarbeiteten Tokio Hotel dieses Jahr erstmals auch in einem Song – gemeinsam mit der Band Kraftklub auf deren Single „4x4“. Man hört: Die Geschichte einer Flucht aus einem Deutschland mit Spargelfeldern und schwarz-rot-goldenen Flaggen in Kleingartenanlagen, umspielt von Kraftklub-Indie-Punk und dem neuen Elektro-Sound von Tokio Hotel.

Mit Tokio Hotel und Kraftklub haben sich zwei ostdeutsche Bands zusammengetan und einen politischen Song veröffentlicht. Darin heißt es unter anderem: „Etwas mit Heimatministerium kann für mich keine Heimat sein.“ Wird aus Tokio Hotel noch eine aktivistische Band?
Bill
Bisher haben wir ja gar keine politischen Songs geschrieben. Das war ein Ausflug in eine neue Welt, den ich extrem gut fand. Die Lyrics zu „4x4“ haben Kraftklub geschrieben, und Felix (Sänger Felix Kummer, Anm.) meinte, er hätte dabei sofort an uns gedacht. Wir sind aus der ostdeutschen Provinz abgehauen und hätten unser Ding durchgezogen, hätten das gemacht, was sich viele nicht trauen würden.
Spüren Sie das Bedürfnis, als Künstler politischer zu werden?
Tom
Wir haben mit Tokio Hotel immer neue Pläne. Wer weiß, vielleicht machen wir in zehn Jahren mal eine politische Platte.
Bill
Ich bin der Überzeugung, dass man Sachen nicht planen kann – auch Erfolg nicht. Für Erfolg ist Authentizität das Wichtigste. Das ist bei unserem Podcast (dem tatsächlich extrem erfolgreichen „Kaulitz Hills“, Anm.) so, und bei „Durch den Monsun“ war es nicht anders. Niemand wollte diesen Song veröffentlichen, auch die Plattenfirma meinte, dass das kein Hit sei. Ausgesucht hat es dann die Freundin des Plattenfirmen-Bosses. Sie fand das Lied unglaublich sexy.
In der Retrospektive wird auch „Durch den Monsun“ von 2005 gern als politischer Song beschrieben, als Aufschrei der Mobbingopfer und Hymne für Menschen, die nicht zum Mainstream passen. Haben Sie mit Ihrer Musik gar etwas verändert?
Bill
Es ist schön, dass wir heute viele der Komplimente bekommen, die wir uns zu Beginn unserer Karriere erarbeitet haben. Es kommen immer wieder Menschen auf uns zu, Fans von damals, und sagen, wie sehr wir sie mit unserer Musik beeinflusst hätten. Viele hätten sich erst dank uns getraut, ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen zu leben, oder als Junge Make-up zu tragen. Für viele waren wir der Soundtrack ihrer Jugend.
Tom
Wenn wir sagen, dass wir keine politischen Songs machen, heißt das für uns, dass wir jetzt nicht die SPD besingen wollen. Unsere Botschaften verpacken wir mit anderen Stilmitteln und mit einer bildlicheren, blumigeren Sprache, als das vielleicht Kraftklub machen.
Bill Kaulitz

„Kunst funktioniert nicht, wenn man versucht, sich an Formeln zu halten.“ - Bill Kaulitz

Gute Arbeitsteilung ist alles: Während die Zwillingsbrüder Tom und Bill Kaulitz (33, Tom ist genau zehn Minuten älter) im Vordergrund (Jetset, Fernsehshows, Interviews) stehen, leben Bassist Georg Listing (35) und Schlagzeuger Gustav Schäfer (34) betont glamourfrei in ihrer alten Heimat Magdeburg. Nach zwölf Jahren (Band-)Fernbeziehung zwischen Sachsen-Anhalt und Kalifornien kam nun die Zeit, die Band-Historie zu feiern: „2001“, ihr sechstes Album in Originalbesetzung, ist nicht nur geschickte Selbstvermarktung („Durch den Monsun 2020“), sondern spielt auch mit dem aktuellen Y2K-Trend. Die Mode der Nullerjahre ist zurück (Skilehrer-Sonnenbrillen, bauchfreie Tops, grelle Farben) und damit auch der Sound zwischen schimmerndem Elektropop, Herzschmerz-Balladen und Indie-Gitarren. Anspieltipp: „Bad Love“. Mehr Tokio Hotel geht nicht.

Ihr neues Album nennen Sie nach dem Gründungsjahr der Band „2001“. Sind das nostalgische Lieder?
Bill
Als Band waren wir für „2001“ zum ersten Mal seit Langem wieder zu viert im Studio, haben viel Zeit miteinander verbracht, getrunken und Pizza gegessen. In über 20 Jahren hat sich unser Gefühl zueinander nie verändert, obwohl wir auf unterschiedlichen Kontinenten und völlig anders leben. Wenn wir uns heute neu begegnen würden, hätten wir wohl nicht viel miteinander zu tun. Unsere Tokio-Hotel-Welt hat sich für uns aber nicht verändert. In dieser Blase bleibt alles gleich, und es fühlt sich ein bisschen an, als seien wir für immer zwölf.  Auch das wollen wir feiern auf dem Album.
Tom
Das Album spiegelt die Zeit von 2001 bis heute wider, es kommen sehr viele Tokio-Hotel-Facetten zusammen. Es gibt klassische Bass-Gitarre-Schlagzeug-Songs, aber auch Songs, die nach elektronischer Tanzmusik, nach Synthiepop oder Indierock klingen.

 

Tokio Hotel 2007

Kaulitz-Kajal: Die Band bei den MTV Music Awards 2007 in München

Als Sie beide 2010 nach Los Angeles gingen und eine Band-Pause einlegten, wurde Tokio Hotel von vielen schon zu Grabe getragen.
Tom
Unser Vorteil war: Als Zwillinge waren wir immer zu zweit und als Band zu viert unterwegs – eine starke Gruppe. Als Band sind wir auch in Verträgen festgesteckt, die wir heute nicht mehr unterschreiben würden. Durchgemacht haben wir immer alles gemeinsam, als Familie.
Bill
Es gibt ein E-Mail aus dem Jahr 2008, das lange eingerahmt auf meinem Schreibtisch stand. Ein Anwalt hatte in Großbuchstaben und im Hass an mich geschrieben: „Du bist völlig wahnsinnig, das ist Karriere-Selbstmord!!!“ – Ausrufezeichen, Ausrufezeichen, Ausrufezeichen. Wir haben uns in unserer Karriere nicht nur Freunde gemacht.
Bereuen Sie Ihre Sturheit manchmal?
Bill
Natürlich gibt es viele Entscheidungen, die ich rückblickend anders gefällt hätte, aber ich bereue nichts. Andererseits waren wir immer authentisch, haben unsere Musik selbst gemacht. Heute sage ich: Wir hatten stets ein rebellisches Herz, haben nie nur nach den Regeln gespielt und jeden Kampf mit der Plattenfirma und im Musikbusiness aufgenommen. Ich kann mit falschen Entscheidungen gut leben, wenn ich weiß, dass ich sie selbst getroffen habe.
Zur neuen Single „Happy People“ haben Sie einen eigenen TikTok-Tanz kreiert. Geht man heute, mit Social Media im Kopf, anders an einen Song heran?
Tom
Nein, zum Leid der Plattenfirma, die würde sich das wohl wünschen. TikTok ist bei jedem Meeting ein Riesenthema.
Bill
Auch einen TikTok-Hit kann man nicht planen. Kunst funktioniert nicht, wenn man versucht, sich an Formeln zu halten. Man kann nur mit Sachen Erfolg haben, die man selbst liebt.

Jugendhelden: Fans bei einem Tokio-Hotel-Konzert 2007 in Köln

Die Fluchtgeschichte der Kaulitz-Brüder geht so: 2010, am Zenit ihrer Karriere, verschanzte sich die Band in ihrer Villa im Hamburger Umland vor den eigenen Fans, vor Stalkern und Medien – hinter einem zwei Meter hohen Zaun, Securitys und Überwachungskameras. Die Band wurde zu dieser Zeit abgöttisch geliebt – und von Fans anderer Bands regelrecht gehasst. Aus Sicherheitsgründen konnten sie nicht auf Musikfestivals auftreten; stets war da die Angst, von der Bühne gejagt zu werden, wie in der RBB-Doku „Hinter die Welt“ zu sehen ist. In seiner Autobiografie „Career Suicide. Meine ersten 30 Jahre“ (2021, Ullstein Verlag) schreibt Bill Kaulitz über diese Zeit: „Ich bin damals kaum noch vor die Tür. Wenn ich allein im Auto saß, ohne Bodyguard, bekam ich Todesangst.“ Nach einem Einbruch in ihre Villa, bei dem ihre Sachen von Fans durchwühlt wurden, stand der Beschluss fest: Die Zwillinge würden, um wieder unbehelligt leben zu können, nach Los Angeles übersiedeln.

Wie geht man als Künstler damit um, wenn die Menschen sich mehr für das Privatleben und das Celebrity-Dasein als für die Musik interessieren?
Bill
Das ist Fluch und Segen. Als uns der Celebrity-Kult zu viel wurde, die ganzen Geschichten, die über uns geschrieben wurden, die Fotografen, die uns belagert haben, sind wir nach Amerika gegangen. Wir wollten nur wegrennen vor dieser Karriere. Wir haben uns ein paar Jahre zurückgezogen und den Reset-Button gedrückt. Heute leben wir den Luxus, nur noch die Dinge zu machen, auf die wir wirklich Lust haben. Im Alter – und das klingt jetzt furchtbar altklug, mit gerade mal 33 Jahren – bekommt man eine gewisse Entspanntheit.
In Ihrem Spotify-Podcast „Kaulitz Hills“, in dem Sie freimütig aus Ihrem Leben erzählen, kommentieren Sie auch aktuelle Schlagzeilen über Ihr Privatleben. Warum lesen Sie diese Dinge überhaupt noch?
Tom
Das machen wir nur für den Podcast. Meine ersten „Bild“-Titel hatte ich mit 15, als ich nach den Sommerferien wieder zurück zur Schule ging. Damals hat mich das natürlich ganz anders getroffen. Mittlerweile ist das wie ein Ping-Pong-Spiel zwischen uns und den Medien. Wir nehmen es mit Humor.
Bill
Wir geben schon seit Jahren keine Boulevard-Presse-Interviews mehr, reden nicht mit der Yellow Press und machen keine Deals mit Tageszeitungen. Zu Beginn unserer Karriere haben wir uns oft von Zeitungen erpresst gefühlt. Diese Blätter hatten stets eine böse Story in der Hinterhand, wenn wir mal kein neues Material geliefert haben. Unter Druck wollten wir uns nicht mehr setzen lassen. Und irgendwann stand ohnehin schon alles über uns geschrieben.

Nun ja, nicht alles. Die Zwillinge sind umtriebig, haben ihren Podcast und saßen als Juroren in Castingshows wie „Deutschland sucht den Superstar“ oder „Germany’s Next Topmodel“. Vor allem Tom Kaulitz steht seit den ersten Gerüchten, er sei mit Super-Model Heidi Klum (49) liiert, wieder hoch prominent auf den Klatsch-Titelseiten. Im Sommer 2019 heirateten Klum und Kaulitz auf einer Luxusjacht auf Capri, via Instagram teilen sie regelmäßig verliebte Selfies. Als sich Heidi Klum in diesem Jahr bei ihrer illustren Halloween-Party in Los Angeles als Wurm verkleidet präsentierte, stand Tom Kaulitz als Fischer daneben, an dessen Haken Klum baumelte. Bill Kaulitz war, getreu dem maritimen Motto, als Drag-Version der Meerjungfrau Arielle kostümiert.

Sie betreiben auch ein eigenes Modelabel namens „Magdeburg – Los Angeles“. Was verbindet Pop und Mode?
Bill
Ich wollte immer die große Bühne. Mir war klar, dass ich kein Singer-Songwriter mit Gitarre am Lagerfeuer sein möchte. Die Leidenschaft für Musik, für David Bowie, für Outfits, Frisuren und Make-up war immer gleich groß – und Tokio Hotel eine visuelle Band, in der ich Bühnenoutfits kreieren und Narrenfreiheit haben kann. Tom könnte die ganze Zeit nur im Studio verbringen und neue Musik produzieren. Wenn ich den ganzen Tag mit Jogginghose herumsitzen würde, würde ich eingehen wie ein kleines Blümchen.
Wie viel Kunstfigur steckt in Bill Kaulitz?
Bill
Ich habe das nie als Rolle gesehen, die ich ablegen kann. Das Popstar-Sein nimmt für mich den größten Platz in meinem Leben ein. Das heißt nicht, dass es keine privaten Momente gibt. Die möchte ich auch nicht mit der Öffentlichkeit teilen. Aber ich bin noch immer der gleiche Bill, wenn die Kamera aus ist, wenn alle nach Hause gehen und die Tür abschließen. Ich mache keinen Feierabend vom Bill-Kaulitz-Sein.

Interview: Philip Dulle, Lena Leibetseder

Tokio Hotel - 2001 - Cover

Tokio Hotel: „2001“ (Sony Music)

Philip Dulle

Philip Dulle

1983 in Kärnten geboren. Studium der Politikwissenschaft in Wien. Von 2009 bis 2024 Redakteur bei profil.

Lena Leibetseder

Lena Leibetseder

war bis Oktober 2024 stv. Online-Ressortleitung und Teil des faktiv-Teams.