Interview

Toni Faber: „Da haben wir uns schwer versündigt“

Der Wiener Dompfarrer Toni Faber ist so etwas wie der Popstar unter Österreichs Geistlichen und spart nicht mit Kritik an der eigenen Institution. Ein Gespräch über Homophobie, Rebellion und die Kunst, dabei „den Bogen nicht zu überspannen“.

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In einer Zeit extremer Verunsicherungen verbucht die Kirche 2022 mit über 90.000 Austritten in Österreich ein Rekordtief. Wie erklären Sie sich das?
Faber
Die gebundene Zugehörigkeit an eine Glaubensgemeinschaft ist leider am Verdunsten. Viele wollen sich nicht mehr in konventionelle Formen pressen lassen. Doch die Sehnsucht nach Antworten auf die Frage „Worauf kann ich mich verlassen?“ bleibt. Da muss sich die Kirche neue Antworten einfallen lassen. Damit den Menschen wieder klar wird: Wenn du in dieser solidarischen Gemeinschaft lebst und dafür zahlst, hat das einen Mehrwert.
In der katholischen Kirche kann es aber Jahrzehnte dauern, bis es neue Antworten gibt. Bei Themen wie Frauen im Priesteramt, Aufhebung des Zölibats oder Anerkennung homosexueller Lebensgemeinschaften hat man den Eindruck, dass es immer wieder ein kurzes Aufflackern von Reformwillen gibt, aber man sich dann doch auf Druck von Rom darauf einigt, lieber abzuwarten. Das Heft haben also noch immer die alten, weißen Männer im Vatikan in der Hand?
Faber
Daran hat sich gerade der Synodale Weg in Deutschland abgearbeitet (eine Reformbewegung der Deutschen Bischofskonferenz und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Anm.), wo 90 Prozent der Stimmberechtigten, darunter auch Bischöfe, für dringende Reformen gestimmt haben. Das war dann dem Papst, obwohl er um Vorschläge gebeten hatte, doch zu steil.
Der Papst wirkt manchmal erfrischend liberal, dann enttäuscht er wieder durch ein Festhalten an alten Traditionen wie der Ausgrenzung von Frauen für das Priesteramt.
Faber
Obwohl er viele Zeichen gesetzt hat, lässt er in dieser Causa nicht mit sich reden. Warum, weiß ich nicht. Doch schon bei seiner Wahl hat Franziskus den Hermelin mit den Worten „Die Zeit des Karnevals ist vorbei!“ zur Seite geschoben. Aber die Kirche ist in vielen Dingen eben noch nicht so weit. Wir sind nun einmal ein 2000 Jahre altes Schiff, dem es, zugegeben, an Geschwindigkeit und Wendigkeit mangelt. Mir geht es auch zu langsam. Gleichzeitig birgt dieses Schiff einen großen Raum, aus dem vieles wachsen kann. Wir brauchen doch gerade in den aussichtslosesten Situationen Menschen, die uns Halt geben, ein Fundament des Vertrauens. Gäbe es das nicht, müssten wir doch verzweifeln, depressiv werden oder zum Alkohol greifen. Erst kürzlich saß der ukrainische Botschafter hier bei mir, und wir haben genau darüber geredet.
Anlässlich der Kriegsverbrechen, denen sein Volk ausgesetzt ist, könnte man auch die naive Frage stellen: Kann das Gottes Plan sein?
Faber
Ich halte mich in solchen Fragen immer an die sinngemäßen Worte eines verzweifelten Vaters: „Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben in all den Situationen, wo ich nicht glauben kann.“ Diese Hilfe brauchen wir, um das Leid bewältigen zu können, um Rückschläge besser ertragen zu können. Und gleichzeitig lässt die Tragödie in der Ukraine auch viel Gutes sichtbar werden, wovon auch der Botschafter überzeugt ist: überwältigende Hilfeleistungen, Solidaritätskundgebungen, die Kraft des Selbstbewusstseins und das radikale Eintreten für westliche Werte. Die Lebensrealität ist nun leider einmal sehr blutig. Wir sind nicht gewohnt, das zu ertragen.
Die Leidensgeschichten vieler Heiligen transportieren die kirchliche PR-Botschaft: Wenn du auf Erden viel durchmachen musst, wirst du dafür später mit dem ewigen Leben belohnt.
Faber
Was da manche mitmachen mussten, wie der zigfach durchbohrte heilige Sebastian, ist wirklich schlimm. Als ich Gottfried Helnwein bei seiner Gestaltung des Plakats gegen Gewalt an Frauen gebeten habe, es weniger blutig anzugehen, hat er nur gesagt: „Hast du schon einmal in deinen Dom geschaut und gesehen, was deine Heiligenfiguren für Qualen ertragen mussten?“ Wir sollen das Leid natürlich nicht anstreben, aber wir brauchen den Glauben, um diesem Leid etwas entgegensetzen zu können.
Sie gelten als liberaler und unkonventioneller Dompfarrer. Sie haben gleichgeschlechtliche Paare gesegnet, mit 0,1 Sekunden Zeitintervall, wie Sie in einem Interview bekannten, offensichtlich damit man Ihnen daraus formal keinen Vorwurf machen kann. Ist diese Form subversiver Rebellion nicht auch frustrierend?
Faber
Ich würde mich mit der Behauptung, nur dann gut arbeiten zu können, wenn all diese Probleme gelöst sind, selbst belügen. Ich möchte außerdem Teil einer verfassten Kirche bleiben und meine Verantwortung nicht verlieren. Gleichzeitig darf man den Bogen auch nicht überspannen. Ich würde der Kirche keinen Dienst tun, wenn ich austrete. Ich sehe meine Aufgabe darin, innerhalb der Institution an einem zeitgemäßen Erscheinungsbild zu arbeiten. Aber Sie haben insofern recht, als dass Dinge, die ich vor 40 Jahren für abgehandelt gehalten habe, bis heute Thema geblieben sind.
Wurden Sie für solche Aktionen von Kardinal Schönborn abgemahnt?
Faber
Es gab schon Diskussionen und Gespräche. Allerdings hat der Kardinal mich auch genau deswegen in einer ORF-Pressestunde vehement verteidigt, indem er sagte, dass die pastorale Sorge um alle Menschen in jedem Fall über jedem Gehorsam innerhalb des Verbotsbogens steht.
Die Kirche ist für viele auch wegen ihrer Homophobie nicht vertrauenswürdig. Immer wieder gibt es, trotz der liberalen Haltung des Papstes, Zitate hoher Würdenträger, die von Homosexualität als einer Krankheit reden, die nicht Teil von Gottes Plan sei. Gleichzeitig behauptet der geoutete katholische Priester Krzysztof Charamsa, dass der halbe Vatikan schwul sei.
Faber
Ich sehe darin leider einen Zusammenhang. Einen großen homosexuellen Anteil gibt es. Daraus erklärt sich auch die latente Homophobie innerhalb der Institution. Mir ist völlig egal, ob jemand hetero- oder homosexuell ist, nur fällt es manchmal auf, dass die besonders laut gegen diese Lebensform wettern, die selbst dazugehören. Das ist eine Scheinheiligkeit, die uns nicht gut ansteht.
Auch aus gleichgeschlechtlichen Verbindungen entstehen Kinder – neben Adoptionen etwa durch Leihmütter im Ausland oder Samenspenden. Wie stehen Sie dazu?
Faber
Es gibt tatsächlich Priester, die sich weigern, Kinder, die auf diesem Weg entstanden sind, zu taufen. Das finde ich unmöglich und menschenverachtend. Jedes Kind soll getauft werden, wenn sich die Eltern das wünschen. Ich bin kein Moralist und Richter, meine Tür steht allen offen.
Kardinal Schönborn konstatierte im vergangenen März, dass der Zölibat ein Kirchengesetz und kein göttliches Recht sei. Er bezog sich damit auf ein Zitat von Papst Franziskus, der ein paar Tage zuvor den Zölibat als „provisorisch“ bezeichnet hatte. Würde eine Abschaffung des Zölibats die Austrittszahlen beeinflussen?
Faber
Das glaube ich nicht. Wenn wir uns die evangelische Kirche in Deutschland ansehen, hat sie, ohne Zölibat und mit Frauen im Pfarreramt, ähnliche Austritte zu bewältigen wie die katholische Kirche bei uns. Für mich hat sich der Zölibat als eine durchaus lebbare Variante erwiesen. Ich muss nicht verheiratet sein, ich muss keine Familie haben – auch aus Solidaritätsgründen mit den vielen, denen es ähnlich geht. In einer gelungenen Ehe und Elternschaft liegt nicht das alleinige Glück des Lebens, das wird überstrapaziert. Von den vielen Paaren, die ich sehr gerne traue, wird circa die Hälfte sich trennen. Das ist eine statistische Wahrheit. Es schadet uns meistens nicht, auf Ehe, Sexualität und Kinder zu verzichten. Deswegen sind wir nicht zu bemitleiden.
Wie beurteilen Sie das kirchliche Argument, dass Priester ohne diesen weltlichen Kontext sich besser auf ihr Amt konzentrieren können?
Faber
Die Verbrämung, dass wir wegen des Zölibats freier, vornehmer und heiliger sind, halte ich für einen großen Blödsinn. Aber abgesehen davon: Trotz des medialen Aufschreis durch das Papst-Zitat wird der Zölibat in den nächsten Jahren nicht abgeschafft werden.
Es wird weiter, ganz klassisch, Pfarrersköchinnen geben, die in inoffiziellen Beziehungen mit dem jeweiligen Pfarrer leben. Und Kinder, denen ein Teil ihrer Identität genommen wird, weil sich ihre Väter nicht zu ihnen bekennen dürfen. Ihre Zahl wird in Österreich auf 500 geschätzt. Wird da eine Kultur des einvernehmlichen Wegschauens gepflogen?
Faber
Das wird schon auch wahrgenommen. Aber natürlich ist das für die Kinder eine unwürdige Situation. Ich hätte wahrscheinlich in einer solchen Situation das Priesteramt verlassen. Aber es gibt auch andere Möglichkeiten. Bei mir in der Dompfarre habe ich zum Beispiel einen ehemaligen evangelischen Priester und drei uniert orthodoxe, die als römisch-katholische Beichtpriester fungieren. Die haben auch, ehrlich gesagt, mehr Ahnung von Ehe- und Familienproblemen als ich.
Eine nahezu ähnlich große Austrittswelle wie im vergangenen Jahr gab es 2010, als die eklatanten Vertuschungen der katholischen Kirche offenkundig wurden. Erst kürzlich gab es zahlreiche Medienberichte, dass Papst Johannes Paul II. in seiner früheren Funktion als Bischof von Krakau zahlreiche Missbrauchsstraftaten innerhalb seiner Diözese unter den Teppich gekehrt hat. Derselbe Papst, der 2014 von Franziskus heiliggesprochen wurde.
Faber
Das war leider jahrelang die gängige Methode. Man schickte die Täter zum Therapeuten und versetzte sie dann später.
Und bei den Ombudsstellen versickerten oft die Beschwerden über Missbrauch und wurden nicht ernst genommen. Versetzungen bedeuteten oft nichts anderes, als dass die Täter in einer anderen Pfarre oder in einer anderen Schule ihren Missbrauch fortsetzen konnten.
Faber
Da haben wir uns schwer versündigt. Und den Opfern noch weitere Schmerzen zugefügt, indem ihre traumatisierenden Erlebnisse im Nachhinein kleingeredet wurden. Kardinal Schönborn hat damals aber sehr schnell gehandelt und 2010 die Opferanwaltschaft-Kommission unter Waltraud Klasnic ins Leben gerufen. Ich durfte damals an vorderster Front mit dabei sein. Da wurden Kriterien entwickelt, die nicht nur in Österreich, sondern auch in anderen Ländern zum Vorbild wurden. Ich möchte hier noch hinzufügen, dass von den Missbrauchstätern, die in den Kinderheimen der Stadt Wien ihr Unwesen trieben, kein einziger angeklagt und somit auch nicht verurteilt wurde. Das wurde mit Entschädigungen geregelt.
Das schmälert das Unrecht der Kirche nicht. Sie waren als junger Priester Zeremonienmeister bei Kardinal Hans Hermann Groër, der im Jahr 1995 aufgrund von in profil aufgedeckten Missbrauchsvorwürfen von ehemaligen Schülern des Knabenseminars Hollabrunn zurücktreten musste. Das war der erste Paukenschlag in Österreich, durch den ein verrottetes System offengelegt wurde. Zeigte Groër je so etwas wie Reue?
Faber
Ich stellte ihm natürlich damals die Frage nach den Vorwürfen. Aber er antwortete nur in etwa so: „Wenn ich das alles gemacht hätte, was man mir vorwirft, dann hätte ich doch nie Lehrer sein können …“ Komplette Realitätsverweigerung. Tatsache war, dass sexuelle Nötigung in seinem Weltbild nur mit Geschlechtsverkehr gleichzusetzen war. Übergriffige Berührungen empfand er nicht als Unrecht. Das hat sich alles seither drastisch geändert.
Nicht nur die Missbrauchsskandale und die Modernisierungsbehäbigkeit der Kirche bewirken viele Austritte – auch die Kirchensteuer.
Faber
Das spielt sicher auch eine Rolle. Für viele bedeutet aber eine Abmeldung nicht, dass sie ihren Glauben an die Hutstange hängen.
Gewähren Sie den Ausgetretenen das Recht, eine Beichte abzulegen?
Faber
Unbedingt. Uns geht es darum, den Menschen das Gefühl zu geben, dass sie in den größten Krisen jemanden in Rufweite haben, der Mut und Hoffnung macht. Erst kürzlich hat eine zutiefst verzweifelte Frau wegen einer laut ihres Onkologen aussichtslosen Krebsdiagnose mit mir Kontakt aufgenommen. Sie musste ihrem Arzt erklären, dass sie an Wunder glaube und das Leben mehr ist als eine Diagnose. Ich sehe es als eine meiner Aufgaben, den Glauben an Wunder zu ermöglichen. Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.
Würden Sie einer Muslima in einer ähnlichen Situation auch mit Trost und Rat zur Seite stehen?
Faber
Natürlich, genauso. Der Papst schickt auch niemanden weg. Auch zur Fußwaschung am Gründonnerstag hat Papst Franziskus muslimische Frauen und Gefangene eingeladen. Das gefällt mir so sehr an Franziskus: Sein Primat ist, dass wir ungeachtet aller Glaubensüberzeugungen und religiösen Konfessionen vor allem eine Menschheitsfamilie sind. Der Papst ist übrigens ein Vorreiter im Dialog mit dem Islam; auch Kardinal Schönborn reiste schon auf dessen Wunsch hin nach Saudi-Arabien.
Kürzlich erhielt ein Kollege von mir das Schreiben eines erbosten atheistischen Vaters, weil die Kinder im Kindergarten im Zuge des Ramadan dazu angehalten wurden, Spielzeug-Fasten zu betreiben. Wie stehen Sie solchen Aktionen gegenüber?
Faber
Man kann den Kindern schon spielerisch solche Rituale näherbringen, allerdings sollte man dann über alle Fastenrituale in allen Weltreligionen sprechen. Mir ist schon klar, dass oft 90 Prozent in den Wiener Schulen Muslime sind, dennoch sollte man sich dabei eine Offenheit behalten.
Auch Kreuze in den Klassenzimmern bewirken verlässlich Empörung.
Faber
Ich bin für Kreuze in den Klassenzimmern. Wenig überraschend, aber klammern wir jetzt einmal Christus dabei aus: Es sind doch zwei übereinandergelegte Balken, mit denen Muslime wie Christen eine spirituelle Verbindung nach oben kriegen. Ein Schuldirektor hat mir nach so einer Diskussion gesagt: „So, mir reicht’s. Ich lasse jetzt die Kreuze für die Klassenzimmer in einer Behindertenwerkstatt anfertigen, dann segnen Sie sie. So traut sich niemand, sie herunterzunehmen.“ Und so ist es dann auch geschehen.
Sie werden auch gerne als „Seitenblicke“-Pfarrer punziert, segnen Teppichfilialen, Buffets, sogar Aquarien. Kommt das unter den Kollegen gut an?
Faber
Nicht immer. Aber das altgediente Gebrauchschristentum mit Sonntagsmessen ist im Abklingen. Manche beschweren sich beim Kardinal über mich, der denen dann aber oft das Wort mit der Frage „Und wie viele Wiedereintritte hast du dieses Jahr schon geschafft?“ abschneidet.
Sind Sie beim Rückholen verlorener Schäfchen Klassenerster?
Faber
Ja, ich bin vorn dabei. Letztes Jahr habe ich wieder 100, wie schon in den 20 Jahren davor, zum Kirchenwiedereintritt gebracht. Manche natürlich auch deswegen, weil eine Taufe, Firmung oder Hochzeit in der Familie bevorsteht. Eine Frau hat mir unlängst gesagt, dass sie seit 2004 „nur in einer Auszeit“ gewesen ist. Ich fühle mich als eine Art Werkzeug, um den Menschen die Verbitterung gegen die Kirche zu nehmen. Und die ist leider sehr oft da.
Stimmt es, dass Sie sogar Richard Lugner bei seinem Neunziger segneten?
Faber
Ich durfte die Festrede bei der Feier halten. Und begann mit den Worten: „Für eine Heiligsprechung reicht es noch nicht, und für eine Grabrede ist es zu früh …“ Seine neue Freundin heißt übrigens Täubchen. Das gefällt mir, weil es so eine biblische Note hat.
Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort