Gesellschaft

Wischful Thinking

Sauerteig ansetzen, ökologisch abbaubare Putzmittel anrühren und dem Gatten abends Liebling-wie-war-dein-Tag-Kuscheligkeit kredenzen: Im Netz tobt der Hausfrauen-Kult. Ist das „Tradwife“-Phänomen nur ein tragisch-komischer Trend mit Ablaufdatum oder Auftakt eines ernst zu nehmenden Backlashs?

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Die Kinder haben Lust auf ein ordentliches, herzhaftes Sandwich mit Grillkäse? Kein Wimpernschlag des Nachdenkens ist notwendig: Flugs wird der Sauerteig angesetzt. Schließlich gilt die Prämisse „homemade“ für alles, selbstredend auch für den Mozzarella, der aus warmer Kuhmilch unter milden Blicken angerührt und zur Kugel geformt wird. Die acht flachsblonden Kinder, die um Hannah Neeleman wuseln und später glückstrahlend die Käsefäden aus dem knusprig gebräunten Sauerteig ziehen, sehen aus, als wären

sie aus einem Mashup aus Astrid Lindgrens „Bullerbü“ und einem Norman-Rockwell-Gemälde gepurzelt. Der Mann zur „Mrs. American 2023“ könnte ohne Weiteres als das Dezember-Model des Rodeoreiter-Kalenders 2019 durchgehen. Zehn Millionen Follower hecheln den ländlichen Hardcore-Idyllen der 34-jährigen Ex-Balletteuse auf Instagram und TikTok unter dem Titel „ballerinafarm“ hinterher, was die achtfache Mutter zur Königin des neuen Herdtriebs macht.

Ein Herdtrieb, der unter dem Schlagwort #tradwife“ oder #tradwives“ (ein Hybrid aus „Tradition“ und „Ehefrau“) allein auf TikTok insgesamt bisher 600 Millionen Aufrufe verbuchen kann. Vor ihrem traditionellen Kirchgang zelebrieren die Waltons 2.0 (Boomer können sich noch schemenhaft an die US-Schollenfamilie Walton aus dem Vorabend-TV erinnern) noch ein Frühstück mit nestwarmen Eiern und ofenfrischen #easyrecipe-Muffins. Bei ihrer Dankesrede zum „Mrs. American 2023“-Titel (der Missentitel für die schönste verheiratete Amerikanerin) hauchte Neeleman in einem Las-Vegas-Casino auf die Frage, wann sie sich in ihrem Leben am meisten ermächtigt gefühlt habe, folgende Worte ins Mikrofon: „Ich habe dieses Gefühl bis jetzt sieben Mal gespürt, als ich diese heiligen Seelen auf die Erde gebracht habe. Jedes Mal, wenn ich das neugeborene Baby in meinen Armen gehalten habe, ist das Gefühl der Mutterschaft das stärkste Gefühl, das ich je empfunden habe.“

Die Ballerina-Mischpoche zählt sich zur Religionsgemeinschaft der Mormonen, in der im Gegensatz zu früheren Jahren zwar nicht mehr die Polygamie (für Männer) hochgehalten, aber dennoch ein scharf konturiertes Wertesystem zelebriert wird: Family first, weibliche Selbstverwirklichung findet ausschließlich in den eigenen vier Wänden statt, keine Verhütungsmethoden, der Mann stellt den Ernährer und Versorger, und die Aufgabe der Frau besteht darin, ihm das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Keine Widersprüche, kein Alkohol, kein Kaffee, nur Selbstgemachtes auf den Tellern. Mit einem Wort: tiefster Fünfzigerjahre-Fundamentalismus – oder wie es die „New York Times“ nannte: „der totale Anti-Girlboss-Lifestyle“.

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort