Transgender in der Familie: Mädchenbub, Bubenmädchen
Wenn der Bub an seinem Bubsein zweifelt, das Mädchen kein Mädchen mehr sein mag, wenn Kinder gar nicht mehr mitmachen wollen bei der Einteilung der Menschheit in Buben und Mädchen – ja, was dann? Dann sind die beteiligten Eltern sehr oft ziemlich ratlos. Denn diese Fragen sind zwar nicht ganz neu, werden neuerdings aber immer virulenter, weil immer häufiger ganz offen gestellt: Wann bin ich ein Mann, wann eine Frau? Bin ich vielleicht beides, ein bisschen, nicht ganz, mal dies, mal jenes? Geschlechtsidentitäten jenseits der Norm gab es immer schon. Es wurde nur nie darüber geredet. Das hat sich geändert – und zwar deutlich.
„Jede Elterngeneration hat ihre eigenen Themen, bei denen sie innerlich ins Schleudern gerät, schlicht, weil es keine oder wenige Erfahrungen aus der eigenen Kindheit gibt, an denen man sich orientieren könnte“, schreibt Verena Carl, Journalistin und Autorin aus Hamburg (und selbst Mutter eines genderfluiden Teenagers). Gemeinsam mit der Sexualwissenschafterin Christiane Kolb hat sie deshalb über dieses Thema ein Buch geschrieben: „Queere Kinder“, eine „Orientierungshilfe für Familien von LGBTQIA+-Kindern und -Jugendlichen“.
Im profil-Interview führt Carl das Grundproblem näher aus: „Viele Eltern unserer Generation dachten, sie wissen ganz gut Bescheid über diese Themen, haben vielleicht auch schwule oder lesbische Bekannte, hatten auch schon mal von Transgeschlechtlichkeit gehört, aber es war im Grunde nie ein großes Thema. Das hat sich jedoch geändert, was sicher am gestiegenen Selbstbewusstsein der Betroffenen liegt, die öffentlicher auf sich aufmerksam machen. Gleichzeitig schaukelt sich da auch etwas hoch, weil es bei diesem Thema seit einigen Jahren einen massiven Kulturkampf von rechts gibt.“
Eine intensive persönliche Zerrissenheit
Für eine Studie des Markt- und Meinungsforschungsinstituts Ipsos aus dem Jahr 2021 wurden rund 20.000 Menschen zwischen 18 und 74 Jahren in 27 Ländern zu ihrer Geschlechtsidentität befragt, dabei ergab sich eine eindeutige Tendenz: Vier Prozent der Angehörigen der Generation Z (Jahrgang 2000 und jünger) beschrieben sich selbst als transgender oder non-binär, während nur zwei Prozent der Millennials (geboren in den 1980er- und 1990er-Jahren) und ein Prozent der Generation X (1970er-Jahre) sich so identifizierten. Der Trend zur Auflösung der klassischen Geschlechtsidentitäten ist also längst nicht mehrheitsfähig, aber doch signifikant.
„Jede Elterngeneration hat ihre eigenen Themen, bei denen sie innerlich ins Schleudern gerät, schlicht, weil es keine oder wenige Erfahrungen aus der eigenen Kindheit gibt, an denen man sich orientieren könnte.“
Viele Eltern von non-binären (also nicht in den klassischen Geschlechterrollen einsortierten) oder transidentitären (die Geschlechterrolle wechselnden) Kindern, mit denen Carl und Kolb für ihr Buch sprachen, erzählten von einer intensiven persönlichen Zerrissenheit, einem Widerspruch zwischen Fürsorge-Willen und mehr oder weniger reflektierter Ablehnung. Ein typisches Zitat: „Wir möchten ihre Entscheidung respektieren und gleichzeitig nicht das Gefühl haben, nach ihrer Pfeife zu tanzen, einer Laune zu folgen.“
Wobei es doch erhebliche Unterschiede gibt: Fragen der sexuellen Orientierung (also etwa ein Outing als homo- oder bisexuell) stellen Eltern meist nicht mehr vor unüberwindliche Probleme, schlicht weil die gesellschaftliche Akzeptanz insgesamt gewachsen ist. Deutlich schwieriger wird es für Familien, wenn Kinder ihre Geschlechtsidentitäten hinterfragen, also etwa eine Trans-Identität erkunden.
Über die Anzahl der Betroffenen in Österreich können nur Schätzungen abgegeben werden, die Sozialversicherungsträger kamen Ende 2020 in einer Studie auf etwa 400 bis 600 Personen, die in Österreich medizinische Maßnahmen zur Geschlechtsangleichung – also Hormonbehandlungen oder chirurgische Eingriffe – unternommen haben. Umfragen zur Selbsteinschätzung als „geschlechtsinkongruent“ – also nicht mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmend – ergeben sehr viel höhere Zahlen, nämlich bis zu 0,6 Prozent der erwachsenen Bevölkerung, das wären in Österreich über 40.000 Personen.
Ein Leitfaden der Stadt Wien zur „sozialen Anerkennung im eigenen Geschlecht“ hält dazu fest: „Die Themen Geschlechtsidentitäten und Transgender werden gesellschaftlich und medial breit diskutiert. Es gibt heute mehr Offenheit, Unterstützung und Akzeptanz. (…) Diesem Umdenken ist es zu verdanken, dass heute deutlich mehr Transgender-Personen schon in jungen Jahren den Weg in ihr eigenes Geschlecht suchen und finden.“
Bei dieser Suche sind Eltern gefordert, oft überfordert. Erschwerend kommt hinzu, dass das Thema meist in der Pubertät akut wird, in einer Zeit also, die ohnehin von Selbstfindungs- und Abgrenzungsprozessen geprägt ist: Körper verändern sich, soziale Beziehungen werden neu geordnet, Eltern kritisiert.
Nur eine Phase?
Da liegt die Grundsatzfrage schnell auf dem Tisch: Ist es „nur eine Phase“, die man halt überstehen muss? Wird es sich „auswachsen“? Verena Carl gibt dazu eine erste, vorläufige Antwort: „Es macht einen Unterschied, ob ein Kind zu Anfang der Pubertät ohne Erfahrung mit Begehren und Verliebtheit provokant behauptet: ‚Ich bin bi‘ (was trotzdem wahr sein kann) – oder ob ein:e Jugendliche:r nach einer langen Zeit mit depressiver Verstimmung, Rückzug und geschlechtlich indifferentem Style einen neuen Umgang mit andersgeschlechtlichem Vornamen fordert.“
In jedem Fall raten Carl und Kolb dazu, in der Reaktion auf ein möglicherweise herausforderndes Outing nicht vorschnell zu handeln, schon gar nicht mit spontanen, emotionalen Urteilen. Kinder haben ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, auf eine Entfaltung ihrer Persönlichkeit in Bezug auf Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung. „Eltern sollen nicht urteilen, sondern lieber nachfragen – aber immer auch mit sich selbst wohlwollend umgehen: Wenn man verunsichert ist, muss man nicht gleich ein schlechtes Gewissen haben, weil man etwas nicht sofort mit offenen Armen unterstützt.“ Ganz klar muss aber sein, „dass man nicht seinen eigenen Frust beim Kind ablädt. Denn das braucht Unterstützung.“
Der Knackpunkt bleibt die prinzipielle Ungewissheit: Was, wenn sich eine geschlechtsangleichende Maßnahme später als Fehler herausstellt? Die meisten dieser Maßnahmen sind irreversibel, und tatsächlich kursieren tragische Fallgeschichten von Menschen, die eine Transition in ein anderes Geschlecht unternommen und es anschließend bereut haben.
Dazu eine gute Nachricht: Professionelle Hilfe etwa in Form von niederschwelliger Information ist für fast alle Problemlagen vorhanden und verfügbar (beispielsweise auf dem Portal gesundheit.gv.at unter dem Stichwort Geschlechtervielfalt oder auf regenbogenportal.de der deutschen Bundesregierung). Auch die wohl heikelste Frage in diesem Zusammenhang muss (und soll) niemand allein klären – nämlich die nach geschlechtsangleichenden Maßnahmen im Fall einer Trans-Identität. Eine Änderung im Lebensstil oder in der äußeren Erscheinung mag schwierig genug sein; Hormontherapien oder geschlechtsangleichende Operationen sind ganz andere Kaliber.
In den geltenden „Empfehlungen für den Behandlungsprozess bei Geschlechtsdysphorie von Kindern und Jugendlichen“ des Gesundheitsministeriums wird das Prozedere klar definiert: Die Richtlinie fordert ein multidisziplinäres Vorgehen – nämlich einen Zusammenschluss von Psychiatrie, Psychologie und somatischer Medizin. Vor sämtlichen Maßnahmen steht eine gemeinsame Diagnostik und Indikation durch Psychotherapeuten, Kinder- und Jugendpsychiaterinnen, klinische Psychologinnen und pädiatrische Endokrinologen; zudem finden körperliche Eingriffe in der Regel erst am Ende eines mehrstufigen Prozesses statt. Zunächst ist eine psychotherapeutisch begleitete Erkundung der eigenen Geschlechtsempfindung angezeigt, die auch Ansätze vermitteln kann, um einen möglichen Leidensdruck zu verringern; in weiterer Folge ist auch die soziale Erprobung – in psychotherapeutischer Begleitung – des Geschlechtsrollenwechsels, also ein Alltagstest in der neuen Rolle (in der Schule, im Beruf) ein wichtiger Schritt. Erst danach sollten, so die Richtlinien, allfällige körperliche Interventionen angegangen werden, auch dies unter ständiger Beobachtung und Selbstreflexion.
Der Knackpunkt bleibt die prinzipielle Ungewissheit: Was, wenn sich eine geschlechtsangleichende Maßnahme später als Fehler herausstellt? Die meisten dieser Maßnahmen sind irreversibel, und tatsächlich kursieren tragische Fallgeschichten von Menschen, die eine Transition in ein anderes Geschlecht unternommen und es anschließend bereut haben. Die Häufigkeit solcher De-Transitionen ist unklar und umstritten; seriöse Studien gehen von höchstens drei Prozent aller Transitionen aus. In der Abwägung steht dagegen die Gewissheit: Wenn Menschen sich mit ihrem Geburtsgeschlecht nicht identifizieren und ihnen eine therapeutische Behandlung vorenthalten wird, hat das sehr häufig dramatische Auswirkungen. Die Suizidrate unter transgeschlechtlichen Menschen ist wesentlich höher als im Bevölkerungsschnitt.
Verena Carl haben die Recherchen zu „Queere Kinder“ ein gewisses Umdenken beschert: „Vor fünf Jahren hätte ich noch gesagt: Schön und gut, lasst die Jugendlichen sich mal entwickeln, und wenn es nach der Pubertät immer noch nötig ist, können sie ja eine Behandlung vornehmen. Das ist insofern trügerisch, als dadurch später massivere Eingriffe nötig werden können. Weil sich der Körper inzwischen unweigerlich in Richtung seines genetischen Bauplans entwickelt. Deshalb können Pubertätsblocker eine sinnvolle Sache sein.“ Solche Mittel können – nach fachärztlicher Diagnostik und Indikation – bei vorpubertären Kindern eingesetzt werden, um die Geschlechtsentwicklung zu bremsen und „Zeit zur Erkundung der Geschlechtsidentität zu gewinnen“ (wie es die Expertinnen- und Expertenkommission des Gesundheitsministeriums formuliert).
In einem Interview beschrieb der US-Schauspieler Elliot Page („Juno“, „Inception“) seine späte Transition zum Mann als „größte Freude, sich endlich wirklich selbst zu sehen. Ich weiß, dass ich für andere heute anders aussehe, aber für mich fange ich erst an, wie ich selbst auszusehen.“ Auf dem Weg dahin liegen unweigerlich sehr viele, teils unangenehme Fragen. Das macht die Sache schwierig, kompliziert und bisweilen schmerzhaft. Aber immerhin: Es gibt Antworten.