Transsexualität: Die Geschichte von Gaby und Gabriel

Die Geschichte von Gabriel und Gaby handelt von tiefem Unglück und unerwarteter Befreiung; von hart erkämpfter Selbstbestimmung und schuldhafter Ignoranz. Und von einem Schicksal, das sich so oder ähnlich überall wiederholen kann.

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I. Die Verwirrung

Gaby laufen Tränen über die Wangen, als sie von ihrer Kindheit erzählt. Warum hatte es so kommen müssen? Hatte es denn überhaupt so kommen müssen? Gaby ist heute 23 Jahre alt und sucht immer noch nach Antworten.

Gaby hieß früher Gabriel. Er hatte eine um drei Jahre ältere Schwester. Die Familie wohnte in einem kleinen Dorf. Der Vater verdiente gutes Geld, es fehlte an nichts. Eines Tages bekam Gabriel, er war damals fünf Jahre alt, von seinem Onkel einen roten Traktor geschenkt. Der Traktor war in einen Karton verpackt, und das blieb er auch. Lange Zeit stand er in einer Ecke des Kinderzimmers. Gabriel erinnert sich, dass er nie damit gespielt hat.

Der Vorfall mit dem roten Traktor fiel wahrscheinlich niemandem auf. Doch in Gabys Erinnerung war dies der erste Moment, als sich eine Diskrepanz auftat. Gabriel hätte sich eigentlich freuen müssen, ein Traktor war ein tolles Spielzeug für einen Fünfjährigen, doch er konnte sich nicht darüber freuen.

Gabriel mochte seine Schwester. Mit ihr und einer Cousine spielte er oft Andere-Kleider-anziehen. Gabriel trug dann die Sachen seiner Schwester. Die drei hatten viel Spaß dabei, doch wenn sie verkleidet ins Esszimmer zu den Eltern gingen, war das Gabriel unangenehm. Er fühlte, dass seine Mutter und sein Vater nicht wollten, dass er sich anzog wie seine Schwester. Solange er allein war, hatte er nicht das Gefühl, etwas Falsches zu tun.

Die Eltern sagten nichts. Nur der Onkel, der ihm den Traktor geschenkt hatte, nannte Gabriel manchmal spöttisch "Gabriela".

Mit Buben aus der Nachbarschaft spielte Gabriel fast nie. Er blieb lieber allein und fuhr mit dem Rad umher.

Dann kam Gabriel in die Volksschule. Da gab es die Mädchen und die Buben, und weil Gabriel ein Bub war, landete er eben bei denen. Beim Turnen, im Werkunterricht und auch in den Pausen.

Fußball war eine Plage. Gabriel verabscheute es, ein Fußballleibchen anzuziehen und dem Ball hinterherzulaufen. Er stand stattdessen wie angewurzelt auf einem Fleck auf dem Rasen und wartete, bis die Stunde vorüber war. Wenn der Turnlehrer ihn fragte, warum er nicht mitmachte, lief Gabriel einmal hin und her und stellte sich danach wieder auf denselben Punkt. Er hätte lieber mit den Mädchen geturnt, die machten Gymnastik. Er traute sich aber nicht zu fragen.

In Handwerken war es dasselbe. In den beiden Schulfächern bekam Gabriel schlechte Noten; meistens einen Dreier oder Vierer.

Die anderen Buben konnten mit Gabriel nichts anfangen, und er mit ihnen auch nichts. In den Pausen saß er allein auf seinem Platz, während die Buben sich balgten und die Mädchen beisammensaßen und redeten. Gabriel sah aus wie die anderen Buben in seinem Alter. Kurz geschnittene Haare, Hosen, Leibchen. Aber mehr Gemeinsamkeiten mit ihnen gab es nicht.

Gaby hat kaum schöne Erinnerungen an die Kindheit. Unbeschwertes Spielen mit der Schwester, die Liebe der Mutter. Der Vater war selten da.

Und immer dieses Unwohlsein, nirgends dazuzugehören. Gabriel lernte schon sehr früh tiefe Einsamkeit kennen.

Mit elf kam er in die Hauptschule, und alles wurde noch schlimmer. Bald setzte die Pubertät ein, "komisch" sei das gewesen. Die Buben und die Mädchen lebten jetzt in voneinander völlig getrennten Welten. Die, in der Gabriel sich bewegen sollte, bestand aus Blödsinn machen, raufen, bubenhaften Streichen. Weil Gabriel damit nichts anzufangen wusste, richteten sich rasch alle Aggressionen gegen ihn. Er war der perfekte Außenseiter.

Einer fing an, ihn zu hänseln, alle anderen machten mit. Elf Buben gegen Gabriel. "Schwuchtel", schimpften sie ihn. Gabriel wusste anfangs nicht, was "schwul" bedeutete. In seinem Elternhaus und in seinem Umfeld kam das nicht vor.

In der dritten Klasse kam ein neuer Schüler in die Klasse. Er hatte bis dahin das Gymnasium besucht und war körperlich viel stärker als Gabriel. Jeden Tag schlug er ihn. Die anderen standen dabei.

Nach der Schule ging Gabriel nach Hause zu seiner Mutter. Sie wartete mit dem Essen auf ihn, er machte die Tür hinter sich zu und fühlte sich endlich wieder sicher. Er musste alles loswerden, erzählte ihr, wie gemein die anderen zu ihm waren, und sie tröstete ihren Sohn. Am Abend, wenn der Vater von der Arbeit heimkam, berichtete ihm die Mutter , was passiert war. Dann gingen sie zum Direktor der Schule, immer wieder. Der sprach mit Gabriels Mitschülern, aber das half nicht. Wenn die Lehrer während der Pausen aus dem Klassenzimmer verschwanden, gingen die Burschen auf Gabriel los. Gabriel wurde bewusst, dass ihm niemand helfen würde; dass auch die Lehrer sich lieber raushielten. Gabriel sah sich nicht als Bub. Buben, das waren die, die ihn malträtierten. Mädchen war er auch keines. Als er kapierte, was "schwul" bedeutete, änderte das auch nichts an seiner Verwirrung . Der Heranwachsende verstand sich nicht als zugehörig zu einem der Geschlechter. In der Pubertät spürte er, dass ihn eher Männer interessierten. Einen seiner Lehrer fand er hübsch, doch er dachte nicht länger darüber nach und sagte es auch niemandem.

Gabriel trug immer noch Jungenkleidung, und in seinem Zimmer hingen Poster von Tieren und eines des Teenie-Schauspielers Jimi Blue Ochsenknecht. Der Realität entfliehen konnte er, wenn er sich TV-Serien wie "Charmed","Sabrina, total verhext" oder "Gute Zeiten, schlechte Zeiten" ansah.

Im Urlaub in Kroatien sah Gabriel am Strand einen Mann mit starker Körperbehaarung. So wolle er niemals aussehen, sagte er entsetzt zu seiner Mutter. Er wolle keine Haare im Gesicht und keine tiefe Stimme bekommen. Die Mutter versuchte, ihren Sohn zu beruhigen. So etwas sei von Mann zu Mann verschieden.

Manchmal verschwand Gabriel im Keller und zog da die Schuhe seiner Mutter an oder probierte ihr Make-up. Als sie ihn einmal so erwischte, wurde sie wütend. "Schau dich an, wie du aussiehst! Wieso machst du das?"

Gabriel kam der Gedanke, dass er lieber ein Mädchen wäre, doch er verwarf dies rasch, weil er dachte, es gebe ohnehin keine Möglichkeit, eines zu werden. Vielleicht, so hoffte er, könnte er im nächsten Leben ein Mädchen sein.

Das stärkste Gefühl in all den Jahren war die Traurigkeit.

Gabriels Leistungen in der Schule verschlechterten sich. Der anfangs gute Schüler rutschte immer mehr ab, wurde von der ersten Leistungsgruppe in der zweite versetzt, ehe er in der 3. Klasse Hauptschule zu seiner Mutter sagte, er könne nicht mehr. Sie suchte eine andere Schule, die war größer und etwas weiter weg. Es dauerte kaum zwei Wochen, da begann die Tortur von Neuem. Irgendjemand in der Klasse hatte schon von Gabriel, dem Sonderling, gehört, und wieder fielen alle über ihn her. Bloß waren es jetzt 21 Mitschüler, und Gabriel erschienen sie noch größer und stärker als die an seiner alten Schule. Auch die Mädchen beteiligten sich am Mobbing gegen Gabriel.

Kurze Zeit ging Gabriel zu einer Psychotherapeutin , doch solange er weiter zur Schule gehen musste, litt er unverändert. Er wechselte in eine Wirtschaftsfachschule, die sich im selben Gebäude befand. Jeden Tag um sechs Uhr, wenn Gabriel aufstehen musste, hatte er Bauchschmerzen. Die Vorstellung, malträtiert zu werden, ließ ihn verzweifeln. Die Angriffe gegen Gabriel wurden perfider. Im Unterrichtsfach Kochen musste jeder Schüler am Ende seine Küchenzeile sauber machen. Nachdem Gabriel das gemacht hatte, ging er sich umziehen. Als er zurückkam, war seine Küchenzeile wieder dreckig. Ein anderes Mal fand er ausgespucktes Essen in seiner Schultasche.

Mit 16 bekam Gabriel stressbedingte Allergien und eine chronische Darmentzündung. Er nahm stark ab und wog bei 185 Zentimetern nur noch 60 Kilo.

Alles schien ihm aussichtslos. Die unerträgliche Situation in der Schule, das Leben im Dorf. Immer wieder wurde er darauf festgenagelt, ein Bub und später ein Mann sein zu müssen. Als er bei der Erstkommunion den Anzug sah, in den er gesteckt werden sollte, bekam er Fieber, aber das nützte ihm nichts. Mit 16 wurde er, obwohl er nicht Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr war, mehr oder weniger genötigt, die Polonaise am Feuerwehrball zu tanzen. Er stand allein im Zimmer und probierte die Uniform an. Er konnte seinen Anblick nicht ertragen, bekam keine Luft. Aber er wusste: So werde ich da rausgehen müssen. Mit einer Dame am Arm.

Nach der Wirtschaftsfachschule sollte Gabriel die Matura machen. Er war bereits in einer Schule in Eisenstadt angemeldet, doch er wollte auf keinen Fall da hin. Nicht noch einmal in eine Klasse voll mit Jugendlichen, die ihn hassten; nicht noch einmal zum Freiwild gemacht werden von Lehrern, die sich nicht um ihn scherten. Stattdessen suchte er eine Lehrstelle und fand schließlich eine als Mediendesigner in Wien.

Er zog allein in die Großstadt, weg von seinem Elternhaus, weg von dem Dorf, weg von allem, was ihm so lange das Leben vergällt hatte. Jetzt begann Gabriel langsam damit, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen.

Gaby weint. Die Bilder von damals sind schwer zu ertragen. Niemand kann wollen, dass ein Kind unter solchen Qualen aufwächst. Wer trägt Schuld daran? Ein Bub von fünf, sieben, 13 Jahren, der sich in seinem Geschlecht nicht zurechtfindet, hat wohl nichts falsch gemacht. Die Eltern? Sie liebten ihren Sohn, aber dass in ihm etwas anderes steckte als ein Sohn, das wollten sie nicht sehen. Die Lehrer und Lehrerinnen, die Direktoren? Sie kümmerten sich nur um die disziplinären Probleme an der Oberfläche und versuchten, das Mobbing gegen Gabriel abzustellen, aber auch dabei gaben sie rasch auf. Der Onkel? Gabriels engere Umgebung nahm zwar wahr, dass Gabriel in ihren Augen seltsam war, aber niemand machte sich die Mühe, dem Problem nachzuspüren. Der Pfarrer bei der Erstkommunion, die Organisatoren des Feuerwehrballs? Sie begnügten sich damit, dass Gabriel den äußeren Zwängen gehorchte und sich in sein Schicksal fügte. Viele Leute hätten sehen können, dass sich Gabriel in Not befand. Keiner wollte ihm zu Hilfe kommen.

II. Eine neue Welt

Am Anfang war alles aufregend. Die eigene Wohnung, die Lehrstelle, die Stadt, eine neue Welt. Gabriel war unsicher, er wollte alles gut machen. Immer deutlicher spürte er ein Verlangen nach einem Mann. In dem Unternehmen, in dem er seine Lehre machte, gefiel ihm einer. Er sprach mit dem Arbeitskollegen, der war heterosexuell. Doch das war nicht das einzige Hindernis. Gabriel, er war jetzt sechzehneinhalb, wurde bewusst, dass er sich selbst nicht als schwul empfand. Nicht etwa, weil er Homosexualität ablehnte. Es fühlte sich einfach nicht richtig an.

Die Mutter rief an. Sie wagte kaum, ihrem Sohn die Nachricht zu überbringen: Er musste zur Musterung. Gabriel verlor die Nerven. Um sechs Uhr früh musste er in der Kaserne sein, er zitterte am ganzen Körper. Die jungen Männer bekamen Einheitskleidung zum Anziehen. Gabriel weigerte sich. "Wollen Sie sich widersetzen? Wollen Sie Ärger?", fragte der Unteroffizier. Gabriel wurde zur Psychologin geschickt. Ihr sagte er, dass er nicht hierher gehöre, weil er das aus ganzem Herzen nicht wolle. Er erklärte ihr, was er empfand. Sie sagte: "Ich verstehe Sie."

Das hatte noch nie jemand zu Gabriel gesagt. Die Psychologin versicherte ihm, dass sie sich dafür einsetzen werde, dass er nicht den Militärdienst leisten müsse. Aber Gabriel sollte ihr versprechen, jemanden aufzusuchen, dessen Adresse auf einer Karte stand, die sie ihm in die Hand drückte. Es war ein Sexualtherapeut.

Gabriel wurde wegen seiner chronischen Darmentzündung für untauglich erklärt. Doch den Weg zum Sexualtherapeuten trat er nicht an. Die Vergangenheit war noch zu nahe und zu belastend. Wann immer Gabriel still dasaß, sah er die Bilder der Demütigungen vor sich. Wie er mit Steinen beworfen wurde. Wie er in der Schule den Gang entlanggezerrt und gegen eine Tür geschleudert wurde. Doch solange Gabriel beschäftigt war, ging es ihm besser, und er kam mit der Lehre gut voran. Weil er groß war, gut und dabei etwas feminin aussah, jobbte er nebenher als Model.

Dann beschloss Gabriel, Urlaub zu machen. Niemand wollte mit ihm kommen, und so fuhr er allein für vier Tage nach Kärnten in ein Wellnesshotel. Was dort geschah, veränderte Gabriels Leben für immer.

Der 17-Jährige lag am Pool, wo alle anderen Gäste Bikini oder Badehose trugen, doch Gabriel konnte sich nicht überwinden, den Bademantel auszuziehen. Er wollte seinen nackten Oberkörper nicht zeigen. Kein einziges Mal ging er ins Wasser. Und plötzlich, ohne lange nachzudenken, öffnete er das Google-Suchfeld seines Smartphones und begann zu tippen: "Mann fühlt sich als Frau".

Gabriel starrte auf die Suchergebnisse, begann zu lesen, klickte sich durch Websites und wusste: Das bin ich. Er stammelte innerlich. Das war der Grund sein bisheriges Leben Der junge Mann, der sich an den Pool gelegt hatte, stand als Transsexueller auf und ging auf sein Zimmer.

III. Die Veränderung

Ein paar Monate später lag Gabriel wieder an einem Pool. Diesmal im Garten seiner Eltern. Er eröffnete seiner Mutter, dass er eine Beratungsstelle für Transsexualität aufgesucht hatte. Die Mutter wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie sprachen nicht mehr darüber.

Gabriels Veränderung wurde deutlicher. Er kaufte seine Kleidung nicht mehr in der Herrenabteilung, stylte sich unisex mit T-Shirts und engen Hosen. Ein letztes Mal ließ er sich als Männermodel fotografieren, dann bat er die Agentur, ihn aus der Kartei zu nehmen.

Am 19. Jänner 2013 würde er an seiner Lehrstelle wieder einmal die Abteilung wechseln. Gabriel beschloss, dieses Datum zum Beginn seines neuen Lebens zu machen. Er teilte seiner Chefin mit, dass er ab Montag eine Frau sein werde.

Es fühlte sich überhaupt nicht seltsam an. Gaby trug Extensions in den Haaren, Make-up, roten Lippenstift. Alles fiel ihr überraschend leicht. Die Kollegen waren freundlich. Das gab der jungen Frau Energie.

Doch am Wochenende kam der Rückschlag. Gaby fuhr als Frau nach Hause zu den Eltern. Sie hatte Fotos von sich geschickt, um sie vorzubereiten. Am Bahnhof saßen die Mutter, die Schwester und eine Tante im Auto. Sie sagten nichts. Zu Hause angekommen, versuchten sie ein erstes Gespräch. Alle weinten. Die Mutter sagte, sie könne sich ihren Gabriel nicht als Frau vorstellen. Er sei doch auch viel zu groß. Die Tante wandte ein, es gebe auch große Frauen, es werde schon irgendwie gehen. Sie hatte ihren Neffen immer schon für schwul gehalten, sagte sie jetzt. Der Vater sagte gar nichts und ging aus dem Zimmer.

Gaby hatte jetzt ein Ziel. Sie wollte eine Frau werden. Sie unterzog sich den notwendigen Untersuchungen beim Psychologen und Psychiater, holte Gutachten ein und bekam im September 2013 nach nur neun Monaten die Freigabe zur Behandlung mit weiblichen Hormonen. Im Allgemeinen Krankenhaus Wien besuchte sie eine Therapie, um ihre Stimme neu zu designen. Die Eltern gaben ihr Geld für die erforderlichen behördlichen Schritte. Am Standesamt im Heimatort ließ Gabriel seine Geburtsurkunde ändern. Die ältere Beamtin dort meinte, Gabi anstatt Gabriel sei ein wenig langweilig, Gaby sehe doch besser aus.

Alles ging sehr rasch, doch einfach war es nicht. Gaby erfasste oft Panik, wenn sie etwa in der U-Bahn saß und plötzlich dachte, als Mann entlarvt zu werden. Danach hatte sie tagelang Angst rauszugehen.

Die Haut wurde weicher, das Gesicht sanfter, Gaby hatte sogar den Eindruck, ihr Adamsapfel gehe zurück. Im September 2014 folgte die Brustoperation. Für den Vater, der nichts davon wusste, brach neuerlich eine Welt zusammen. Gaby vermutet, er habe zu diesem Zeitpunkt endgültig realisiert, dass die Frau-Werdung seines Sohnes irreversibel sei.

Gaby konnte ihm das nicht ersparen.

IV. Das, wonach sich jeder sehnt

Gaby ist groß, blond, trägt das Haar schulterlang, stylt sich feminin, Typ Model. Beim Stehen und auch beim Sitzen macht sie sich kleiner, krümmt sich. Sie spricht leise, langsam. Nichts erinnert mehr an Gabriel.

Wenn sie die Wahl hätte, als Frau geboren worden oder transsexuell zu sein, würde sie nicht zögern: lieber eine Frau von Anfang an. Es sei ein Fluch, sich ein Leben lang mit seinem Geschlecht beschäftigen zu müssen und "TS" zu sein. Gaby verwendet das Kürzel, wenn sie über Transsexuelle spricht.

Die Äußerlichkeiten machen Gaby immer noch ein wenig zu schaffen. Hat sie noch männliche Züge? Es ist furchtbar unfair, sie prüfend zu betrachten. Als ob die Geschlechtszugehörigkeit im Auge des Betrachters läge und nicht bei der Person selbst. Die vielen Blicke zeigen bei Gaby unweigerlich Wirkung. Ihre Stirn sei männlich, sagt Gaby, bei Lichteinfall von oben sei das verräterisch. Eine Operation würde rund 16.000 Euro kosten. Sie zögere noch.

Viel schwieriger ist das Verhältnis zu Männern. Gaby, eben erst zur Frau geworden, beginnt mit 20 erste Beziehungsversuche. Auf Dating-Sites im Internet sucht sie sich große, dunkelhaarige Machos mit Dreitagesbart aus, "Mistkerl" nennt sie ihren bevorzugten Typ. Sie muss feststellen, dass die Männer, die Sex mit ihr wollen, sie als etwas Exotisches sehen, als Freak, um einen Kick zu erleben. Gaby ist inzwischen vorsichtiger geworden. In der Firma lernte sie einen Kollegen kennen, der war lieb und fragte sie ein paar Mal, ob sie mit ihm etwas trinken gehen wolle. Dann rattern in Gabys Kopf die Fragen. Wann soll sie sich outen? Sofort mit der Tür ins Haus fallen?

Nach dem ersten Mal Küssen? "Es ist eine beschissene Situation," sagt sie niedergeschlagen. Den Kollegen wimmelte sie beim ersten Date ab und schrieb ihm anschließend ein SMS: "Ich wurde als Mann geboren." Sie kamen sich nicht mehr näher.

Noch ist Gabys Vergangenheit in ihrem Leben übermächtig, und vielleicht wird sie es immer bleiben. Gaby fühlt sich als Frau und lebt als Frau, aber weil sie nicht immer schon eine Frau gewesen ist, glaubt sie, sie werde nie als richtige Frau akzeptiert werden. "Das ist so traurig", sagt sie. Ihre Geschichte verschweigen könne sie nicht. Wie soll sie 19 von ihren 23 Jahren einfach unterschlagen? Die Gewalt, die man ihr angetan hat, hat sie längst noch nicht verarbeitet. Sie will darüber sprechen, auch wenn sie das nur unter Tränen kann.

Dazu kommen das allgegenwärtige Unverständnis, was Transsexuelle sind, und die Vorurteile, wofür man sie hält: exotische Schlampen, willige Sexobjekte, verkleidete Scharlatane.

Gaby wird wütend, wenn sie mit Conchita Wurst, der bärtigen, weiblichen Bühnenfigur, verglichen wird. Das sei ein Show-Act, während sie selbst einen verdammt steinigen Weg gehen musste, den sie sich nicht ausgesucht hat. Viele würden all das nicht überleben.

Nichts ist einfach für Gaby. Sie hat das erste Viertel ihres Lebens damit zugebracht, herauszufinden und zu werden, wer sie ist. Was wird sie mit ihrem übrigen Leben anfangen?

Die 23-Jährige blickt suchend um sich. Sie hatte noch kaum Gelegenheit, sich eine Zukunft auszumalen. Ihre Gegenwart ist noch so jung, und die Vergangenheit drängt sich in alle Träume.

Dann sagt Gaby: "Nichts Außergewöhnliches. Das, wonach sich jeder sehnt."

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur