Traumatherapeut Ottomeyer über die Coronakrise: "Die Traurigkeit kommt erst"
Für manche Menschen ist die Coronakrise eine Chance zur Entschleunigung und Selbstreflexion. Für die meisten ist sie allerdings verbunden mit Angst, Einsamkeit und Überforderung. Laut einer Umfrage der Donau-Universität Krems treten depressive Symptome derzeit in Österreich häufiger auf. Auch Schlafstörungen und Angstsymptome werden öfter erlebt. Besonders stark betroffen sind Frauen und junge Erwachsene. 70 Prozent der Menschen, die aktuell in psychotherapeutischer Behandlung sind, spüren negative Auswirkungen der Coronakrise auf ihr Leben und ihre Gesundheit. Mit steigender Arbeitslosigkeit, eingeschränkter sozialer Kontakte und weniger Kultur- und Sportangeboten ist davon auszugehen, dass der Bedarf an psychotherapeutischen Angeboten im Laufe des Jahres weiter steigen wird.
Der deutsche Traumatherapeut Klaus Ottomeyer beschreibt die momentane Stimmung als eine Mischung aus Angst und Trauer und vergleicht die Coronakrise mit dem Verlust eines geliebten Menschen. Die eigentliche Trauerarbeit stehe uns jedoch noch bevor. profil hat mit Ottomeyer über die Krise als Trauerprozess, therapeutische Möglichkeiten und Solidarität in der Zeit nach Corona gesprochen.
Interview: Stephan Wabl
profil: Andrew Cuomo, der Gouverneur von New York, spricht von der Coronakrise als posttraumatische Belastungsstörung. Ist das aus Ihrer Sicht eine zutreffende Beschreibung? Klaus Ottomeyer: Sicherlich, obwohl der Begriff auch irreführend ist. Denn die traumatischen Erfahrungen sind nicht vorbei, sondern dauern noch an. In New York erleben momentan viele Menschen schwerwiegende Traumatisierungen. In Österreich ist die Lage weniger dramatisch. Aber in New York und Österreich gilt: Wie belastend die Situation ist, hängt, stark von den eigenen Umständen ab. Wer gesundheitlich angeschlagen, armutsgefährdet oder psychisch instabil ist, läuft eher Gefahr traumatisiert zu werden. Was wir aber alle momentan erleben ist eine Mischung aus Angst und Trauer. Die meisten Menschen sind sich dessen allerdings nicht bewusst. Das schafft auch diese eigenartige Stimmung, die wir momentan erleben.
profil: Wie sieht diese Mischung aus Angst und Trauer aus? Ottomeyer: Angst haben wir davor, krank zu werden oder jemanden zu verlieren, der krank ist. Dazu kommt die Angst vor Arbeitslosigkeit und einer unklaren Zukunft. Die Trauer betrifft unser Leben, wie wir es gewohnt waren. Wir müssen mit dem Gefühl von Verlust umgehen. Verlust von Nähe, sozialen Kontakten, Gewohnheiten wie Kultur und Sport, Alltag. Dieser plötzliche Verlust macht uns traurig.
Momentan verhandeln wir zwischen dem alten und dem neuen Leben.
profil: Wie der Verlust eines geliebten Menschen? Ottomeyer: Ja. Ich habe vor ein paar Wochen einen sehr interessanten Beitrag eines Trauerexperten aus den USA gelesen. Diese Stufen des Trauerprozesses sind auch auf die Coronakrise umsetzbar. In der ersten Stufe will man das Geschehen nicht wahrhaben. Man feiert noch weiter beim Après Ski oder redet sich ein, dass man selbst fit genug ist, um das Virus nicht zu bekommen. In Österreich hat man im Tourismus die Gefahr durch das Virus recht lange verleugnet. In Brasilien zum Beispiel hat Präsident Jair Bolsonaro gemeint, er sei früher Athlet gewesen und daher könne ihm das Virus nichts anhaben. Die Realität sieht natürlich anders aus.
profil: Wie reagieren wir in der nächsten Phase auf die neue Situation? Ottomeyer: Häufig mit Wut und Ärger. Menschen sind zornig und fragen sich, warum es gerade uns trifft, wir uns umstellen müssen und ich mein Leben ändern soll. In dieser Phase sucht man oft Schuldige. Wenn US-Präsident Donald Trump vom „chinesischen Virus“ spricht, ist das der Versuch, seine Wut an einem Sündenbock auszulassen.
profil: Sind wir gerade in dieser Phase? Ottomeyer: Ja, manche bleiben darin hängen. Aus meiner Sicht sind wir aber bereits in der nächsten Phase, die eine Spur reifer ist. Dabei wird zwischen dem alten und dem neuen Leben verhandelt. Wir stellen uns Fragen wie: Wie lange sind wir noch in Gefahr? Wann können wir wieder zu normalen Aktivitäten zurückkehren? Was müssen wir zurücklassen? Das zeigt sich momentan durch die Gespräche über Öffnungszeiten, wann, welche Bereiche in welcher Form hochgefahren werden können. Unter welchen Bedingungen wir einen Schritt nach vorne oder notfalls auch wieder zurück machen müssen. In Österreich läuft diese Phase zum Glück recht demokratisch ab. Unterschiedliche Meinungen und Stimmen können artikuliert werden und finden Gehör. Das macht die Regierung im Großen und Ganzen gut.
Die eigentliche Traurigkeit kommt erst, wenn wir begriffen haben, dass vieles für längere Zeit oder gar nicht mehr möglich sein wird.
profil: Das klingt durchaus optimistisch. Ottomeyer: Ja, aber die eigentliche Traurigkeit kommt erst, wenn wir begriffen haben, dass vieles für längere Zeit oder gar nicht mehr möglich sein wird. Wenn uns klar wird, dass Nähe, Sinnlichkeit und Aktivitäten, die uns Freude machen und über die wir vor der Coronakrise gar nicht viel nachgedacht haben, nicht mehr so einfach stattfinden können. Das ist traurig und man darf ruhig ein paar Tränen vergießen. In der nächsten Phase kommt die Akzeptanz des Geschehens. Unser Leben ist nun so, wie es ist und wir müssen uns darin zurechtfinden und uns umstellen.
profil: Können wir in diesem Trauerprozess auch etwas lernen? Ottomeyer: Wenn es gut läuft, steht am Ende noch eine weitere Phase, in der wir versuchen, dem ganzen Geschehen einen Sinn zu geben. Ein wenig nach dem Motto: Machen wir das Beste daraus. Aus meiner Sicht birgt diese Krise auch die Chance, eine Gesellschaft zu schaffen, in der Menschen, die wichtige Arbeit machen, aber bisher kaum Anerkennung bekommen haben, in Zukunft mehr Wertschätzung erhalten. Die Chance besteht, dass dieses wechselseitige System der Unterstützung, das sich zu Beginn der Krise gezeigt hat, länger erhalten bleibt und wir daraus eine solidarische Zukunft zimmern können. Wenn wir diese Möglichkeit sehen, können wir vielleicht besser mit den aktuellen Schwierigkeiten umgehen. Diese Trauerphasen laufen allerdings nicht linear ab, sondern wir springen immer wieder zwischen den Phasen hin und her.
Wenn wir das Gefühl haben, dass alles, was wir tun, halbwegs gut zusammenpasst, dann hilft das unserer Gesundheit.
profil: Wie kann man diese Erfahrungen therapeutisch begleiten, nicht nur individuell, sondern gesellschaftlich? Ottomeyer: Jeder steht natürlich woanders in diesem Prozess. Wenn einer das nicht wahrhaben möchte und zornig wird, muss ich ihm sagen, dass ich verstehe, dass er sich ärgert, aber vielleicht sollte er sich trotzdem darauf einstellen, dass sein Geschäft in Zukunft nicht mehr oder anders funktionieren wird. Traurigkeit wird auch immer wieder überspielt mit Parolen wie „Kopf hoch“ und „Das ist doch alles nicht so schlimm“. In der Traumapraxis gibt es den Begriff der Resilienz. Dabei geht es darum, die Widerstandsfähigkeit zu fördern, indem man einen Tagesrhythmus beibehält, Tätigkeiten, die einem Spaß machen, fortführt, mit dem Hund rausgeht oder Bücher liest. Wenn wir das Gefühl haben, dass alles, was wir tun, halbwegs gut zusammenpasst, dann hilft das unserer Gesundheit.
profil: Viele Menschen sind aber verunsichert, weil unser Wissen über das Virus sehr dürftig ist und es viele unterschiedliche Informationen gibt. Ottomeyer: Da kann die Psychologie helfen. Man spricht vom Sense of Coherence, dem Kohärenzsinn. Folgende drei Bereiche können Menschen bei schweren Belastungen schützen. Der erste Punkt ist Erklärbarkeit. Wenn ich verstehe, was da passiert und die Wissenschaft, Politik und Medien transparent aufklären, kann ich durch diese Suche nach Erklärungen eine gewisse Hoffnung entwickeln. Der zweite Punkt ist Handhabbarkeit. Wenn ich die Möglichkeit habe, kleine Dinge und Schritte zu tun, um die Situation nicht zu verschlechtern oder gar zu verbessern, hilft mir das. Das betrifft zum Beispiel die Hygiene oder das Abstandhalten. Der dritte Punkt ist die Frage nach dem Sinn. Wenn ich die Krise nicht nur als sinnlose Strafe sehe kann ich – wie es der Wiener Psychiater und KZ-Überlebende Viktor Frankl formuliert hat – vielleicht „trotzdem Ja zum Leben sagen“ und etwas Neues aufbauen.
Es sollte klar sein, dass die soziale Schere nicht noch weiter aufgehen darf.
profil: Die Regierung hat das Motto „Niemand wird zurückgelassen“ ausgegeben. In der Realität trifft die Krise aber manche Bevölkerungsschichten härter als andere. Menschen in psychotherapeutischer Behandlung tun sich momentan besonders schwer. Einkommensschwache Familien trifft es ebenso hart. Laufen wir Gefahr, manche Teile der Bevölkerung zurückzulassen? Ottomeyer: Diese Gefahr besteht. Sie wird aber momentan auch benannt. Es sollte klar sein, dass die soziale Schere nicht noch weiter aufgehen darf. Die Regierung muss hier eindeutig etwas dagegen tun. Was ich ebenfalls schlimm finde, ist, dass aktuell auf Flüchtlinge vergessen wird. Ich sehe in meiner Arbeit als Psychotherapeut, dass Flüchtlinge zu Beginn der Krise stark das Gefühl hatten, nun komplett aus dem öffentlichen Leben ausgesperrt zu werden. Auf der anderen Seite sehen wir, was in den Flüchtlingslagern in Griechenland passiert. So sehr ich das bisherige Krisenmanagement der Regierung als positiv beurteile, ist es sehr bedenklich, dass die Rollläden wieder heruntergelassen werden und die Solidarität an den eigenen Grenzen endet. Da stehen wir an einem Scheideweg: Wollen wir nach rechts abbiegen in Richtung Sozialdarwinismus oder wollen wir solidarisch sein und den Schwachen helfen. Nur Pflaster zu verteilen und Trost zu spenden reicht nicht aus. Hier ist auch die Psychotherapie gefragt, die sozial intervenieren und Ungerechtigkeiten benennen muss.
profil: Der Mensch ist ein soziales Wesen, gleichzeitig gibt es momentan viel Misstrauen. Jeder Mensch könnte ein potentieller Virenüberträger sein und mich gefährden. Glauben Sie, dass dieses Gefühl uns im Alltag noch länger begleiten wird? Ottomeyer: Sie meinen, dass wir später zwar keine Masken mehr tragen werden, dafür aber die Überzeugung mitnehmen, dass Nähe zu anderen Menschen eine Gefahr ist? Das glaube ich nicht. Alleine schon deshalb, weil das Gefühl, dass der Mensch des Menschen Feind ist, ein altes Gefühl und viel tiefer verwurzelt ist. Vor allem unser kapitalistisches Wirtschaftssystem bringt dieses Gefühl immer wieder hervor. Ich nehme nur den Abgasskandal in Deutschland als Beispiel. Hier haben viele Menschen ein Auto gekauft mit dem Vertrauen, dass die Umweltbestimmungen eingehalten werden. Und der Hersteller hat die Autos einfach manipuliert. Ich glaube daher nicht, dass dieses Gefühl des Grundmisstrauens durch die Coronakrise verstärkt wird. Da schätze ich die Gefahr, dass manche Politiker fremde Menschen zum Sündenbock machen wollen als höher ein.
Zur Person
Klaus Ottomeyer (71) ist Psychologe, Psychoanalytiker und Traumatherapeut und war Professor für Sozialpsychologie an der Universität Klagenfurt.