Wie die Brutalo-Disziplin Boxen zum Lifestyle und beliebten Fitnesstraining wurde
Von Wolfgang Paterno
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Wackelig wie ein Pudding. Klapprig wie ein mit Haut überzogenes Skelett. So oder so ähnlich fühlt sich das Resultat einer Ringrunde mit Marcos Nader an. Ein Herbstvormittag im „Bounce“, in Wien-Ottakring gelegen, eine 2500 Quadratmeter große Sporthalle auf vier Etagen, fünf Boxringe, etliche Kraftkammern, Österreichs größter Boxclub. Ein Ort, an dem seit fast 20 Jahren das Hochamt des Faustkampfs zelebriert wird.
Marcos Naders Bruder Daniel gründete „Bounce“. Daniel starb kürzlich nach langer schwerer Krankheit im Alter von 42 Jahren. „Durchboxen“ ist ein Wort, das Marcos Nader gern verwendet. Seit Daniels Tod hat es neues, schmerzliches Gewicht dazugewonnen.
Es heißt, Boxen sei ein Sport, der letzte Reserven mobilisiere, der Kraft und Kontrolle, Durchhalten und das wortwörtliche Durchboxen verlange. „Vor und zurück und Punch!“, ruft Nader bei unserer Proberunde im Ring. Immer wieder: „Vor! Zurück! Schlag!“ Im Grunde sagt er mit jedem Satz: Durchhalten! Nicht aufgeben!
Nader macht beim Spontan-Sparring tänzerische Schritte, seine Arme schwingen elegant. Es muss von außen wirken wie das Aufeinandertreffen zwischen einem geschmeidigen Leoparden und einem tapsigen See-Elefanten mit schwarz-glänzenden Riesenhandschuhen und sperrangelweit offenem Mund, asthmatisch schnaufend. Dauertrippeln, stetiges Draufhauen gegen die Schlagpolster, in denen Naders Hände stecken. „Cross auf die Pratzen!“
Während der langen Minuten im Ring sinkt das Herz in Anbetracht der körperlichen Strapazen in die Hose. Nur langsam kehrt es an den angestammten Platz zurück. Die Beine und Arme wirken irgendwann auch nicht mehr so, als gehörten sie einer Marionette. Wenige Schläge im Boxring mit Marcos Nader – es fühlt sich dennoch wie ein kleiner Sieg an. Es ist sicher kein Zufall, dass Nader einen schwarzen Hoodie mit Krone auf der Brust übergestülpt hat.
Lebenskampfschule
Nader, 34, bestritt in seiner Karriere als Profiboxer 29 Kämpfe, die meisten davon hat er gewonnen, dreimal ging er k.o. Er hat nationale und internationale Titel errungen, war unter den fünf weltbesten Athleten des Verbands IBF. Boxen ist sein Leben. Mit sieben Jahren stand er erstmals im Ring, mit elf gewann er seinen ersten Kampf nach Punktentscheidung. Das Boxen kennt die Schläger und Fighter, Athleten mit der Mentalität einer Abrissbirne, brutal, roh, aggressiv, als wollten sie die Welt zerstückeln. Nader dagegen war immer ein Techniker, ein Faustfechter. Boxen, wie Nader es versteht, ist auch der Versuch, Dampf aus dem Kessel zu nehmen, überschüssige Kraft in Sport zu verwandeln.
Die Schublade mit den pugilistischen Standardsätzen zieht er selten auf. „Ich bekam als Profi einiges auf die Pfeif’n. Meine Nase ist schief“, sagt er in galantem Vorstadtwienerisch: „Der Nase nach, das heißt bei mir so viel wie: Ich laufe im Kreis.“ Es gibt niemanden in Österreich, der so viel vom Boxen versteht wie Nader.
Weshalb bespielt Boxen neuerdings so viele Bühnen? Wie kommt es, dass klassisches Boxen, berüchtigt für von Schweiß durchzogene Gyms und schmuddelige Umkleiden, ein junges urbanes Publikum anzieht? Männer wie Frauen?
Die Tätigkeit des Boxens ist den meisten Menschen in groben Umrissen bekannt. Boxen, das war lange Zeit das bevorzugte Podium für Kraftkerle, Kneipenschläger und Kleinkriminelle, eine zirkusähnliche Jahrmarktattraktion, alte Kampfschule, ausgetragen in Hinterhöfen und Kellergeschossen. Boxen findet heute meist in Fitnessstudios mit modernen Kraft- und Ausdauergeräten, Kurz- und Langhanteln, Desinfektionsspendern, Sanitärräumen mit Wasserfall-Duschen statt. Der Faustkampf als Mode, die Abenteuer im Alltag verspricht.
Ich bekam als Profi einiges auf die Pfeif’n. Meine Nase ist schief
„Boxen ist das effektivste Training überhaupt“, sagt Marcos Nader. „Für den Stressabbau ist es geradezu ideal. Bei uns boxen viele Manager und Promis.“ Der „Bounce“-Club bietet Kurse für Kinder und Kaderboxer, für Fortgeschrittene und Frauen, Anfänger und Teenager, betreut von insgesamt 22 Trainerinnen und Trainern. „Am Sandsack kann man sich austoben. Nach ein paar Runden, in denen man auf die Pratzen eingeschlagen hat, ist man ein neuer Mensch.“
Viele Boxverhaltenslehren, sagt Nader, seien direkt ins eigene Leben umklappbar: Disziplin, Durchsetzungsvermögen, Kondition, Koordination. Kampf dem inneren Schweinehund. Dazu Höflichkeit und Respekt. Es wird nirgendwo so viel geherzt und umarmt wie nach einem Boxkampf im Ring. Nach dem Schlussgong fallen Boxer wie Liebende übereinander her.
Fitness, Training, Spaß
In Wieden, dem 4. Wiener Gemeindebezirk, nahe der Innenstadt, sind gleich zwei Lifestyle-Boxstudios zu finden.
„Fame“ und „Backyard“ nennen sich die auf Sauber- und Helligkeit getrimmten Clubs. Mehr Box-Boutique-Atmosphäre, weniger Trainingsfolterkammern. Alles hier ist aufgeräumt, gediegen, strahlend weiß, von der Wand- und Deckenfarbe bis zu den Boxhandschuhen. Niemand will seine Gegner in blutige Klumpen Fleisch verwandeln, das Gesicht des Gegenübers in allen Farben zum Schillern bringen. Es geht um Fitness, Training, Spaß. „Look like a beauty, punch like a beast“, strahlt im „Fame“ der Merksatz in Neonviolett, der zweiten Station auf dem Box-Parcours. Man würde gern wissen, was Muhammad Ali, dem 2016 verstorbenen Halbgott des Boxens, dem Sport-Luftikus, dem man alles verzieh, dazu eingefallen wäre.
Sandsack will man im „Fame“ keinesfalls sein, wenn dieser von Studioleiter Philip Marx mit gepolsterten Fäusten beackert wird. Marx, 28, ist Betriebswissenschafter und Kraftsportler. Peng. Gerader Schlag zum Sack. Jab. Peng. Jab. Aufwärtshaken. „Die
Magie des Boxens: Unfitte werden fit gemacht, Träge macht es diszipliniert, Scheue werden selbstsicherer“, wird Marx später sagen, erstaunlich schnell wieder im Ruhepuls.
Im Fitnessboxclub „Fame“ wird Faustkampf zur Disco: Im Keller in der Karolinengasse blinkt es in allen Farben, Musik wummert aus Lautsprechern, schwarze Wassersäcke baumeln wie dralle Tränen aus Plastik an Ketten von der Decke, am DJ-Pult auf einer kleinen Bühne die Trainerin mit Headset: „Das sieht sehr gut aus! Nehmt die Hüfte schön mit!“ Eine Trainingseinheit dauert 50 lange Minuten, kartätscht wird nur der Wassersack, keine Ringgegner. Der Kampf gegen sich selbst im Keller-Disco-Dome. Boxen als bunte, schrille, laute Veranstaltung.
Mann gegen Mann
Boxen ist eine der ältesten Sportarten überhaupt. Wo soll man anfangen? Am besten beim Schlimmsten. In der Antike bekämpften Gegner einander mit bloßen Fäusten, um die Lederriemen gewickelt waren, deren scharfe Kanten klaffende Wunden verursachten; in das Riemengeflecht wurden gelegentlich Nägel eingewoben, Buckel aus Blei schlugen Zähne, Ohren und Nase kaputt. Antike Statuen zeigen Platzwunden und sogenannte Blumenkohlohren, von den vielen Schlägen verknorpeltes Ohrmuschelgewebe.
Erst mit den zwölf Regeln des Marquis von Queensberry, um 1865 eingeführt, die unter anderem das Tragen von Boxhandschuhen und das Auszählen bei Niederschlägen vorschrieben, wurde der Faustkampf zur sportlich-fairen Auseinandersetzung.
Lange Zeit war Boxen vom Ruch des Verbotenen umweht. Bis 1908 galt in Deutschland ein polizeiliches Verbot, Boxkämpfe öffentlich auszutragen. In Österreich waren öffentliche Box-Abende bis 1919 verboten. Ab Mitte der 1920er-Jahre erlebte die Kraftathletik schließlich ihren stürmischen Aufstieg.
Die nicht ganz substanzlosen Vorurteile übers Boxen lauten: Der Wettkampf mit Fäusten sei ein mit Gewalt und Geschäft, Schiebungen und Schwindeleien imprägniertes Milieu, ein Tummelplatz der Halbwelt: Mann gegen Mann, der träge Tanz tumber Körperklötze. Das ist, wenn überhaupt, die halbe Wahrheit. Boxen kommt dem Ideal praktizierter Körperschulung ziemlich nahe, es vereint Faust und Geist, Kraft und Intellekt.
Beschäftigt man sich mit Boxen, stößt man auch bald auf Geschichten, die nach dunklen Märchen klingen. Der Wiener Boxer Hans Orsolics wurde 1967 und 1969 Europameister – und saß später wiederholt im Knast, dilettierte 1986 mit „Mei potschertes Leb’n“ als Sänger. Bis heute lieben ihn die Menschen. Das ist ziemlich das Größte, was einem Boxer passieren kann.
Mike Tyson war der letzte Weltmeister im Schwergewichtsboxen, der sein Handwerk noch als Ghettokind im New Yorker Elendsviertel erlernt hatte, dessen Sportkarriere eine Abfolge von Drogen-, Gewalt- und Ohrbiss-Exzessen war. „Kämpfen ist für mich, was für Einstein Theorie und für Hemingway Worte waren“, schrieb Tyson in seiner Autobiografie. Wie ein trauriger, feister Gorilla stand Tyson, inzwischen 58, vergangene Woche in der AT&T-Arena in Arlington, Texas, um gegen den You-Tuber Jake Paul, der selbst übrigens wie ein Holzfäller boxte, ohne jede Glorie unterzugehen. Tyson, der einst härteste Crack der Boxgeschichte, die legendäre Axt im Wald, als verlorene Gestalt in grellem Scheinwerferlicht. Iron Mike, der Krieger mit dem Maori-Stammeszeichen im Gesicht, wollte immer der Bösewicht sein, nie der Held, denn an den Bösewicht erinnert man sich.
Schwitzen und Schlagen
Antworten auf die Frage nach dem Modesport Boxen sind auch im „Backyard“ in der Wiener Mayerhofgasse zu bekommen. „Backyard“ betreibt Studios im 4. und 7. Bezirk, bald soll ein drittes in der Zieglergasse öffnen.
Mathias Quell, 46, hat „Backyard“ gemeinsam mit Stefan Max, ebenfalls 46, gegründet. Die Doberhündin Xenia stand einst Pate für das „Backyard“-Logo. „Spaß, Schwitzen, Schlagen“, so lautet das Motto des Clubs, in dem nur angeleitete Gruppentrainings stattfinden, rund 4000 Einheiten pro Jahr. Weiß ist auch hier die dominante Farbe.
An den Wänden in der Mayerhofgasse sind Fotos, die von einer Zeit erzählen, als Boxen noch ein Randphänomen war. 2003 baute Quell mit Freunden einen Vorstadtkeller zum Gym um, später übersiedelte der Verein in ein Studio im Souterrain mit Hoffenster, vor der Eingangstür die Verkehrshölle des Wiener Gürtels.
Seit zehn Jahren steht „Backyard“ für Boxfitness in innerstädtischer Lage. „Boxen ist nicht wüstes Bumbum, sondern anspruchsvolle Körperkultur“, sagt Quell. „Wir wollen die Schönheit dieses einzigartigen Ganzkörpersports vermitteln.“
An diesem Dienstagabend unterweist Trainerin Laura in der Mayerhofgasse eine Vierergruppe von Männern. Seilspringen als Aufwärmtraining. „Hopp!“, sagt Laura. Folgsam hüpfen die Amateurboxer auf der Stelle, die Seile schwirren in der Luft. Später das Sparring. „Cross, Haken, Uppercut zum Kopf, Leberhaken“, leitet die Trainerin ihre Schüler an. Hopp. Peng.
Wolfgang Paterno
ist seit 2005 profil-Redakteur.