Trotz Hype um Virtual Reality: Warum die Technik Schwachstellen hat
Alles begann mit einer schlechten Idee. Ich schlug der Redaktion vor, einen Test sogenannter Virtual-Reality-Brillen durchzuführen. Dafür würde ich mir ein solches High-Tech-Gerät besorgen, es mir über den Kopf stülpen und dann in virtuelle Welten abdriften – zum Beispiel als Adler über Paris fliegen oder in einem Cockpit an Weltraumschlachten teilnehmen. Virtual Reality (VR) ist schließlich der Hype in diesem Jahr, mehrere Geräte werden im Weihnachtsgeschäft auf den Markt kommen. Unternehmen wie Sony oder HTC bieten ab 400 Euro diese riesigen Brillen an, die das gesamte Gesichtsfeld umschließen und eine komplett künstliche Umgebung anzeigen. Klingt spannend, dachte ich mir, das sollte ich testen – was könne schon schiefgehen?
Während ich diese Zeilen tippe, ist mir übel. Nach 20 bis 30 Minuten mit einer Virtual-Reality-Brille überkommt mich stundenlanges Unwohlsein. Kann es sein, dass mein Körper nicht richtig verdrahtet ist für Virtual Reality? Nein, denn nicht nur ich erlebe solche Symptome. Die aktuelle Technik steckt noch in einer Frühphase, bei vielen Spielern treten unerwartete Nebenwirkungen auf, bei mir Übelkeit, bei anderen Kopfschmerzen. So mitreißend und wunderschön die virtuellen Welten sein mögen, die man nun auf dem Sofa erleben kann, so unausgegoren ist die Technik dahinter. Dabei lässt sich mit etwas Fantasie und einem starken Magen das Potenzial der Technologie durchaus erkennen. Das Beratungsunternehmen Deloitte schätzt etwa, dass Virtual-Reality-Hardware und die dazugehörige Software heuer erstmals eine Milliarde Dollar erwirtschaften werden. Glaubt man der Investmentbank Goldman Sachs, wird der Umsatz bis 2025 um ein Zigfaches steigen. Je rechenstärker Computer werden, desto leichter lässt sich die virtuelle Realität umsetzen. Das klingt nach schönen Zukunftsaussichten, im Hier und Jetzt wünsche ich mir allerdings, ein anderer Kollege hätte sich diesem Selbstversuch ausgesetzt – und mir die Übelkeit und all den Kamillentee erspart.
Ich bin eine tote Kampfpilotin – mein Bewusstsein wurde in einen geklonten Körper importiert.
Dabei wohnt jedem Anfang ein Zauber inne, wie Hermann Hesse einst schrieb. Während ich die Sony PlayStation VR auspacke und an den Fernseher anschließe, bin ich voller Vorfreude. Diese Virtual-Reality-Brille für die gleichnamige Spielekonsole ist mit dem Verkaufspreis von 399 Euro das derzeit günstigste Modell unter den Hochleistungsbrillen. Man braucht eine PlayStation 4 (die Konsole steht in vielen Haushalten); eine PlayStation Camera, die die eigenen Bewegungen misst; einen Fernseher und am besten Kopfhörer, die das gesamte Ohr umschließen. So sinkt man komplett in fremde Welten ein, sieht nur, was die künstliche Oberfläche anzeigt, hört nur, was sie einen hören lässt.
Ich installiere das Spiel „Eve: Valkyrie“ (ab 59 Euro), das mich in eine dystopische Zukunft im All entführt. Die ersten Sekunden sind atemberaubend. Ein wunderbar düsteres Szenario: Ich bin eine tote Kampfpilotin – mein Bewusstsein wurde in einen geklonten Körper importiert, und je mehr Weltraumschlachten ich spiele, desto mehr kann ich mich an mein früheres Leben erinnern. Es fühlt sich herausragend an, mit der Brille in eine andere Realität einzutauchen. Wendet man den Kopf, sieht man, was seitlich im All passiert – so als säße man tatsächlich in einem Cockpit. Genau so hatte ich mir als Science-Fiction-Fan die Virtual Reality immer erhofft: Ich höre nichts anderes als die Laser-Waffen, die auf mein Schiff einprasseln, und das Feuer, das ich erwidere. Zu Recht hat „Eve: Valkyrie“ gute Bewertungen erhalten. Nach etlichen Loops im Spiel merke ich, dass mir sehr übel wird – ich muss die Brille abnehmen. Dabei bin ich nicht für Bewegungskrankheit anfällig: Ich kann stundenlang im Auto Bücher lesen. Warum stößt mir ausgerechnet die virtuelle Realität übel auf?
An der TU Wien erklärt mir Experte Hannes Kaufmann, dass es in der Fachsprache sogar einen Begriff für dieses Phänomen gibt: Cybersickness. Kaufmann leitet dort die Arbeitsgruppe für Virtuelle Realität. „Beim Spielen tritt ein neuronaler Konflikt auf – was Ihr Körper spürt und Ihre Augen sehen, passt nicht zusammen“, erklärt er. Auch Latenzen, also Verzögerungen, im Spiel steigern das Unwohlgefühl: Man blickt nach rechts, aber das Spiel zeigt das erst mit einer kurzen Verzögerung an. Bei rasanten Games wie „Eve: Valkyrie“ spüre ich den „neuronalen Konflikt“ besonders: Alles dreht sich, aber in Wirklichkeit sitze ich statisch auf dem Sofa. Angeblich wird die Übelkeit nach häufigem Spielen seltener – gerade anfangs sollte man die Technik aber sicher nur häppchenweise genießen. „Schon seit Längerem kennen wir das Phänomen. Bei Flugsimulatoren in der Luftfahrtbranche hieß es früher, man solle sie nicht länger als 20 bis 30 Minuten verwenden“, sagt Kaufmann. Viele passionierte Gamer wird das abschrecken: Sie wollen stundenlang in Videospiele versinken.
Gleichzeitig wird Virtual Reality auch als Zukunftsfeld für die Porno-Industrie bezeichnet.
Die Spielebranche ist hier nur der Vorbote einer größeren Entwicklung: Hannes Kaufmann von der TU Wien arbeitet in der Steiermark und in Tirol mit Feuerwehrleuten zusammen. Sie kreieren einen Prototyp, mit dem Einsatzleiter eventuelle Krisenfälle im virtuellen Raum üben können – sie sehen auf dem Bildschirm ein brennendes Haus und müssen die richtigen Aufträge an ihr Team verteilen. In London wiederum hat der Chirurg Shafi Ahmed die erste Virtual-Reality-Operation durchgeführt: Als er einem 70-jährigen Patienten einen bösartigen Tumor entfernte, sahen 45.000 Menschen per Virtual Reality zu. In Zukunft könnten auf diese Weise Medizinstudenten besser geschult werden. Solche Aufnahmen können auch mit günstigeren Geräten bestaunt werden, etwa dem „Google Cardboard“, einem Pappkarton mit eingebauten Linsen um 20 Euro, der 3D-Videos echt wirken lässt. Medien wie die „New York Times“ oder Institutionen wie die Vereinten Nationen strahlen bereits 360-Grad-Aufzeichnungen aus: Man sieht etwa die Lebenssituation eines zwölfjährigen Flüchtlingsmädchens namens Sidra in Jordanien. Sie erzählt, wie sie und ihre Familie aus Syrien durch die Wüste geflohen sind (siehe hier). Virtual Reality soll hier eine „Empathie-Maschine“ sein, die uns die Sichtweise anderer Menschen verständlich macht.
Gleichzeitig wird Virtual Reality auch als Zukunftsfeld für die Porno-Industrie bezeichnet: Ich bin da skeptisch – gerade im virtuellen Szenario geht es nicht um die eigene Körperlichkeit, sondern um künstliche Eindrücke (ganz abgesehen davon, dass das leichte Gefühl von Übelkeit nicht gerade erregend wirkt). Auch bei derzeit am Markt erhältlichen Spielen kann man ganz neue Perspektiven einnehmen. Vergangene Woche erschien „Eagle Flight“ (Preis 35 Euro) für die PlayStation 4: Ein halbes Jahrhundert, nachdem die Menschheit (aus unbekannten Gründen) von der Erde verschwand, hat die Natur die Städte zurückerobert. Man wächst als Adler in Paris auf und gleitet durch die Ruinen der ehemaligen Metropole. Das Fliegen fühlt sich überraschend natürlich an, weil die eigene Kopfbewegung die Richtung bestimmt. Dabei erahnt man die Freiheit der Vögel, die durch die Lüfte gleiten. In der Virtual Reality steuert man nicht die Figur auf dem Bildschirm, man ist die Figur.
Aus körperlicher Sicht mag das eine schlechte Idee gewesen sein, interessant war es trotzdem.
Dieses Gefühl kann man auch erleben, ohne viel Geld dafür auszugeben. Einen kurzfristigen Nervenkitzel bietet im Vösendorfer Einkaufszentrum SCS das Lokal „VR Adventures“. Mehrere Spielplätze – mit sehr guter Hardware und von den Betreibern selbst entwickelter Software – liefern außergewöhnliche Szenarien: einen Flug über Las Vegas, einen Spaziergang durch ein Geisterhaus. Am beeindruckendsten ist das Einstiegsszenario. Man steht auf einer virtuellen Planke hoch über dem Boden. Obwohl das eigene Gehirn weiß, dass das nicht echt ist, entsteht der Eindruck, als könne man von der Planke herunterfallen.
Einen Überblick über aktuell erhältliche Spiele und Brillen erhält man wiederum im Café „vrei“ in Wien-Neubau. Es bietet mehrere High-Tech-Brillen zum Ausprobieren an: Neben der PlayStation VR die Modelle Oculus Rift (Kaufpreis 700 Euro) und HTC Vive – diese Geräte sind teurer, aber leistungsstärker. Die HTC Vive verfügt über eine ausgeklügelte Sensorentechnologie: Mittels Laserstrahlung kann das Gerät schnell erfassen, welche Bewegungen die Spieler machen. Das führt zu weniger Latenzen, also geringeren Verzögerungen, und somit zu weniger Cybersickness. Dafür kostet die HTC Vive gut 900 Euro, ein rechenstarker Windows-Computer wird zusätzlich gebraucht.
Die Tests haben mir gezeigt, wie schnell mir übel wird, wenn meine Augen und mein Körper unterschiedliche Dinge erleben. Zum anderen habe ich erkannt, wie fatal es sein kann, sich unbedacht zum Selbstversuch zu melden. Aus körperlicher Sicht mag das eine schlechte Idee gewesen sein, interessant war es trotzdem: Wir sind einer Zukunft voller atemberaubender virtueller Welten sehr nahe – auf dem Weg dorthin werden wir allerdings viel Kamillentee trinken müssen.