„Unser Problem ist, dass eine Mehrheit von Idioten eben nicht mehr schweigt“
Die Toten Hosen auf Tour mit dem Satire-Titanen Gerhard Polt und den anarcho-bayrischen Well-Brüdern: eine klare kulturelle Grenzüberschreitung. Polt, Michael Well und Hosen-Sänger Campino im profil-Gespräch.
Kommen Sie auf Tournee gelegentlich dazu, Nachrichten zu konsumieren?
Michael Well
Wieso, hat Herbert Kickl mit den Identitären gemauschelt?
Nein, aber in der brandenburgischen Kleinstadt Werneuchen bei Berlin wurde heute ein Känguru gesichtet. Und es dürfte echt sein, kein Wildschwein wie die Löwin von Kleinmachnow, nach der die Polizei vor drei Wochen fahndete.
Gerhard Polt
Ich hab‘ heute BBC geschaut, da war kein Känguru. Aber die Löwin, von der habe ich gehört.
Campino
(zeigt auf seinem Handy ein Meme, das riesige Haifischflossen in einem Getreidefeld zeigt): Das ist das letzte, was ich zu dem Thema gesehen habe: Kleinmachnow kommt nicht zur Ruhe!
Die gute Nachricht lautet: Es gibt wieder Sommerlochtiere. Weil die Katastrophen, die uns sonst dauernd beschäftigen, endlich abflauen?
Polt
Man ist halt auf die Bilder angewiesen, die man bekommt. Ich weiß zum Beispiel von Haus aus nicht, welche Kängurus gerade auf den Philippinen entlaufen sind. Wer vermittelt mir das?
Campino
Wobei es natürlich entsetzlich ist, dass man eine Zeit als Sommerloch bezeichnet, in der tatsächlich so viel atemberaubend Schlimmes passiert. Wir sind offenbar schon so daran gewöhnt, dass wir zum Beispiel die täglichen Ukraine-Kriegsmeldungen schlicht überhören.
Polt
Ich glaube nicht, dass im Sommer weniger Leute umgebracht werden als im Herbst.
Im vergangenen Sommer waren die Nachrichten von einer ausführlichen Debatte über kulturelle Aneignung und die Kritik daran geprägt. Mit ihrer aktuellen Tour haben Sie diese zum Leitmotiv gemacht – die Aneignung der bayrischen Volkskultur durch die rheinische Punk-Band. Campino trägt Lederhose und spielt Alphorn. Bereuen Sie es mittlerweile?
Campino
Nach gut zwei Dritteln dieser Tour können wir sagen, dass es schon richtig verstanden wird, was wir da machen. Kulturelle Aneignung ist ein weites Feld. Der prinzipielle Gedanke, sich nicht über andere Menschen oder Kulturen lustig zu machen, ist ja total richtig. Aber darüber hinaus hat dieses Streitfeld auch eine Grenze zum Wahnsinnigen. Wenn etwa eine Band von einem Festival ausgeladen wird, weil sie als weiße Europäer angeblich ein Didgeridoo benutzten, was sich im Nachhinein als Teil eines Abflussrohrs entpuppte, dann ist diese Grenze erreicht. Wir gehen in unserem Programm häufig zu weit, aber können uns nicht dazu durchringen, das als Aneignung zu bezeichnen. Eine Zumutung ist es in jedem Fall.
Well
Wir loten die Grenzen aus. Es kommt auch häufig die Frage, vor allem an Gerhard: Kann man so eine Nummer wie die Mai Ling überhaupt noch machen (ein legendärer Polt-Sketch, in dem ein Herr Grundbirner von seiner Frau erzählt, die er sich „relativ preiswert“ aus Bangkok „kommen hat lassen“, Anm.)? Ja selbstverständlich. Wenn die Fähigkeit verloren geht, das als Ironie und Satire zu erkennen, dann ist Hopfen und Malz verloren.
Der prinzipielle Gedanke, sich nicht über andere Menschen oder Kulturen lustig zu machen, ist ja total richtig. Aber darüber hinaus hat dieses Streitfeld auch eine Grenze zum Wahnsinnigen. Wenn etwa eine Band von einem Festival ausgeladen wird, weil sie als weiße Europäer angeblich ein Didgeridoo benutzten, was sich im Nachhinein als Teil eines Abflussrohrs entpuppte, dann ist diese Grenze erreicht.
Campino
Warum wird die Ironie denn nicht mehr so gut erkannt?
Polt
Darüber denke ich immer noch nach. Ich bin ja nicht in der Lage, die heutige Zeit oder auch die Jugend zu verstehen. Das ist mir zu groß. Ich kann nur vergleichen: Wie bin ich damals groß geworden? Ich sehe, wie die Kinder heute von ihren Eltern überbehütet und ständig reguliert werden. Ein vollkommen anderes Erziehungsmodell als damals. Jetzt gilt natürlich klar: Bei uns war es weder besser noch schlechter. Aber eine Gaudi war da. Und ich fürchte, dass vieles, was heute für wichtig gehalten wird, nicht mehr Gaudi erzeugt.
Well
Die Humorfähigkeit scheint verloren zu gehen. Wir drei verstehen uns ja gerade auf der Humorebene, das ist letztlich auch, was uns zusammenführt.
Campino
Du hast heute gerade in der Comedy-Szene eine ganze Menge Leute, die sich richtig spalten über die Frage: Was geht, was geht nicht? Gesellschaftlich hat das politisch Korrekte einerseits eine Schärfe bekommen, gleichzeitig gibt es einen extremen Gegenpol, zum Beispiel bei einigen Leuten in der Rap-Szene, die radikal rückständig sind in ihren Texten und in den Rollenmodellen, die sie leben. Unsere Gesellschaft entwickelt sich in zwei extreme Richtungen, die jeweils die Meinung der anderen nicht zuassen. Damit sind wir in einer delikaten Phase, in der selbst Humor zum Streitpunkt werden kann. Er besteht ja zum großen Teil darin, dass man über etwas Unerhörtes oder Unerwartetes lacht. Im sogeannten normalen, geradliniegen Leben gibt es nicht viel zu lachen.
Wobei die Grenze, die Sie da ausloten, letztlich im Publikum gezogen wird: Der Kipppunkt von der Satire in die Verhöhnung liegt tendenziell bei denen, die einen Witz verstehen oder nicht – weniger bei denen, die ihn machen.
Campino
Klar geht es immer darum, wer ist der Absender und wer ist der Adressat? Das wird unheimlich oft ignoriert. Wenn im Fernsehen ein eigentlich harmloser Witz über eine Minderheit gemacht wird, hat der am nächsten Tag vielleicht bei den gemeinsten Leuten die Runde gemacht, und dann kriegt dieser Witz eine ganz andere Note. Diese Gefahr besteht, deswegen sollte man sich immer wohl überlegen, wann man welchen Witz reißt.
Polt
Wenn ich an einen Humor denke, der mich sehr beeinflusst hat, etwa der von Totò oder Karl Valentin, dann waren das Menschen, die in Zeiten groß geworden sind, in denen es nichts zu fressen gab. Da wird unter Umständen auch der Protagonist selbst zum Dieb, und das Publikum hält zu ihm, auch wenn es nicht legal ist, was er macht. Die Menschen waren bereit, auch das Unrecht mitzutragen, weil der sympathisch war – weil sie sich damit identifiziert haben. Und wenn er besonders raffiniert war, dann haben sie gesagt: Ja, so muss man das machen. Es ist also immer die Frage: Wer folgt dir, und wie kannst du Menschen anzünden, dass sie mit dir mitgehen? Das ist gefährlich, weil du sie auch in eine Richtung bewegen kannst, die nicht mehr sympathisch ist.
Well
So genau lässt sich das aber nicht dirigieren. Wenn du im Bierzelt auf dem Land spielst, dann sitzt da der Querschnitt der Bevölkerung drin, und natürlich gibt es da auch die, die genau an der falschen Stelle Bravo schreien. Wir haben das auch schon erlebt, dass wir gedacht haben, die checken es aber gar nicht. Als wir Biermösl Blosn in den siebziger Jahren angefangen haben, sind die Leute bei einem Landler aufgestanden und gegangen, weil sie damit eine volkstümliche Musik und den Musikantenstadl in Verbindung gebracht haben.
Campino
Während der Tour haben wir im Bus öfter darüber geredet, warum die Katholiken und Konservativen offensichtlich lieber lachen als die Protestanten und die streng Linksliberalen. Die tun sich oft mit Witzen schwer. Die anderen sind oft unkorrekter, nehmen sich das raus. Denen kannst du aber auch ins Gesicht sagen, was du von ihnen hältst, und sie sagen: Jawoi, hast recht, samma wieder guat. Unglaublich eigentlich.
Der bayrische Dialekt ist aber auch ein gutes Werkzeug, um eigentlich Unsagbares zu thematisieren – wenn Gerhard Polt „Saupreiss“ sagt, ist das in erster Linie lustig und erst zweitens eine Beleidigung.
Polt
Ja, genau. Bei der Sprache haben die Bayern und auch die Österreicher ein unglaubliches Instrumentarium zur Verfügung, in dem die Tonalität eine ganz große Rolle spielt. Vom Chinesischen heißt es oft, dass weniger die Grammatik als der Ton die Bedeutung trägt. Das spielt auch in diesen Dialekten eine Rolle. Aber diese Feinheiten musst du kennen und beherrschen.
Campino
Der Begriff „Sauhund“ kann, je nach Betonung, sehr respektvoll sein oder eine totale Beleidigung. Da spielt jede Nuance eine Rolle.
Wenn du im Bierzelt auf dem Land spielst, dann sitzt da der Querschnitt der Bevölkerung drin, und natürlich gibt es da auch die, die genau an der falschen Stelle Bravo schreien. Wir haben das auch schon erlebt, dass wir gedacht haben, die checken es aber gar nicht.
Michael Well
Ist diese gemeinsame Tour eigentlich eine Multikulti-Veranstaltung? Ihr Publikum ist ja mutmaßlich ziemlich divers.
Campino
Das ist schwer zu sagen, es sind aber zweifellos alle Alters- und Gehaltsklassen dabei.
Polt
Manche nehmen sogar ihre Kinder mit.
Well
Ich glaube, dass sowohl der Gerhard als auch die Toten Hosen eine Art Kultstatus haben, das heißt, sie sind generationen- und kulturübergreifend interessant. Früher wäre es sicher schwieriger gewesen, wenn es plötzlich so bayrisch losgeht.
Campino
Wir haben viele Leute erlebt, die sonst ganz normal gekleidet zu unseren Konzerten kommen und uns bei diesen Auftritten in Lederhose oder Dirndl besuchen. Natürlich mit einem Augenzwinkern.
Well
Wir haben aber in Bayern auch einen wirklich bösen Leserbrief gekriegt: Dass er – Campino – sich erdreistet, eine Lederhose anzuziehen. Eine Unverschämtheit!
Campino
Eine Beleidigung! Gerade ich, der ich immer nur gespaltet habe und nie auch nur einen Millimeter auf den FC Bayern zugegangen sei.
Kam dieser Brief denn aus der Säbener Straße in München?
Campino
Aus der FC-Bayern-Geschäftsstelle? Nein. Aber es war trotzdem ein toller Brief.
Ihre Bekanntschaft kam zustande bei einer Art Klimakleber-Aktion, konkret bei einer Protestveranstaltung gegen die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf 1986. Basis für diese Freundschaft war das gemeinsame Fußballspielen – und die Gegner, die Sie verbunden haben, vorrangig die CSU unter Franz Josef Strauß. Wer sind die gemeinsamen Gegner heute?
Well
In den 1980er-Jahren waren die Feindbilder viel eindeutiger, da war klar: Wir sind dominiert von einer Partei, die seit unserer Geburt in der Regierung ist. Das war eine klare Geschichte. Du warst in der Minderheit damals.
Polt
Das Erlebnis mit Wackersdorf war aber auch, dass zum ersten Mal ein Protest nicht nur von Intellektuellen, Grünen oder Chaoten angeführt wurde, sondern: Das war die Bevölkerung. Oma, Opa, Bauern, Landräte, alles, was da gewohnt hat. Das war eigentlich ein Phänomen.
In Österreich wird gerade über den Begriff der schweigenden Mehrheit diskutiert. In dem Konversationslexikon „Der große Polt“ steht zum Stichwort „Minderheit“: „Die Minderheit selbst ist die Ursache für die Mehrheit. Jeder hat das Recht, sich einer Mehrheit anzuschließen. Die Minderheit ist der innere Feind im Land, der die Mehrheit terrorisiert.“ Welches Bild haben Sie von der schweigenden Mehrheit?
Polt
Ich habe eine Zeit lang bei Auftritten gesagt, und das war wirklich ganz erstaunlich: Seid‘s einmal ganz stad. Und dann waren sie wirklich ganz stad. Und dann hab‘ ich gefragt: Hört‘s es? Da, das war jetzt die schweigende Mehrheit.
Campino
Ich glaube, dass es die schweigende Mehrheit gar nicht mehr gibt. Aber wir wünschen sie uns herbei, weil wir so viel Shit mitbekommen. Man hofft ja mittlerweile geradezu: Da gibt‘s noch eine Mehrheit, die vernünftig ist, aber halt nichts sagt. Doch vielleicht ist die schweigende Mehrheit ja wie der Yeti – vielleicht gibt es die gar nicht.
Well
Die sozialen Medien sind halt ein Sprachrohr für Krethi und Plethi.
Campino
Genau. Unser Problem ist, dass eine große Mehrheit von Idioten eben nicht mehr schweigt.
Ich habe eine Zeit lang bei Auftritten gesagt, und das war wirklich ganz erstaunlich: Seid‘s einmal ganz stad. Und dann waren sie wirklich ganz stad. Und dann hab‘ ich gefragt: Hört‘s es? Da, das war jetzt die schweigende Mehrheit.
Gerhard Polt
Die sozialen Medien werden gern als digitaler Stammtisch bezeichnet. Als Bayern müssen Sie es wissen: Geht es am realen Stammtisch denn wirklich so tief zu?
Well
Der Stammtisch ist ein wichtiger Bestandteil einer jeden Gastwirtschaft, und es ist toll, wenn es den noch wo gibt.
Campino
Der Stammtisch ist viel qualifizierter als das, was ich im Internet erlebe. Da sitzen ja wenigstens noch fünf andere, die genau sehen, dass du das bist, der da spricht. Da reißt du dich mehr zusammen. Diese Online-Kommentare triggern sich in ihrer Anonymität ja gegenseitig, und bei bestimmten Stichworten wird der Shitstorm fast schon automatisiert ausgelöst. Dadurch werden denen, die nur mitlesen, auch Mehrheiten vorgegaukelt, die gar nicht existieren. Das ist eine gesellschaftliche Bombe. Darüber werden wir nicht mehr lange lachen. Wer da in den Fokus gerät, kommt ins Straucheln. Da ist mir der Stammtisch tausendmal lieber.
Polt
Das ist ein digitales Haberfeldtreiben.
Well
Das kennst du jetzt wahrscheinlich nicht. Das Haberfeldtreiben ist ein traditionelles bayrisches Femegericht. Das geht in Richtung Lynchjustiz.
Polt
Wie beim Ku-Klux-Klan.
Well
Wenn einer eine Verfehlung gemacht hatte, wurde der ins sogenannte Haberfeld getrieben und geschmäht. Ganz brutal.
Polt
Ein Ventil für den Hass.
Campino
Der Humus für das, was im Internet passiert, war immer schon da.
Ihr gemeinsames Programm hat aber keinen pädagogischen Hintergrund?
Well
Nein, im Vordergrund steht die Entspanntheit. Und der Spaß, den wir haben.
Polt
Na freilich.
Satire auch als lebensqualitätserhaltende Maßnahme?
Campino
Ich würde es lieber Überlebensstrategie nennen. Es gibt gewisse Zustände, die sind wirklich schwierig, und man kann daran nicht viel ändern, aber man kann sich darüber lustig machen. Etwa so wie der britische Humor, der aus der Not heraus geboren wurde, weil es immer regnet.
Polt
Es hat einmal eine Untersuchung gegeben, über menschliche Begabungen – mathematische, räumliche, musikalische und so weiter. Dabei ist herausgekommen, dass die am wenigsten ausgeprägte von allen Eigenschaften die Ironiefähigkeit war. Ironie wird einem auch selten in der Schule beigebracht. Es ist ein Glück, wenn sie einer hat. Die Definition von Aristoteles lautet: Der Mensch ist ein Viech, das lacht. Umso schlimmer ist die Drohung: Denen wird das Lachen noch vergehen. Noch schlimmer ist nur: Spaß beiseite.
Campino
Ein verdammt gutes Motto für unsere nächste Tour: Spaß beiseite!
Well
Jetzt aber mal im Ernst!
Die Toten Hosen, Gerhard Polt und die Gebrüder Well
…treten seit über 30 Jahren in sehr unregelmäßigen Abständen gemeinsam auf. Derzeit sind die Düsseldorfer Punks und die bayrischen Musik/Humor-Legenden mit dem Programm „Forever“ auf Tour, das sich dezidiert als „kulturelle Zumutung“ versteht: Campino trägt Lederhose und spielt Alphorn, die Well-Brüder (einst bekannt als Biermösl-Blosn) begleiten alte Hosen-Hits mit Hackbrett und Tuba, und Gerhard Polt gibt als Grandseigneur den Grantscherm. Das Gespräch fand im Rahmen ihres zweitägigen Gastspiels im Wiener Theater im Park statt.