Dennoch funkelt durch den halbseidenen Dunst bis heute eine magische Traumwelt, insbesondere mit dem die Meeresküste überragenden, 158 Meter hohen Blackpool Tower. Das Wahrzeichen der Stadt – vom österreichischen Sozialwissenschafter Robert Schediwy einmal als „Eiffelturm des Proletariats“ bezeichnet – beherbergt den wohl schönsten Ballsaal Großbritanniens, samt Wurlitzer-Kinoorgel und einem Zirkus, der seit der Turmeröffnung vor 130 Jahren durchspielt.
Zauberhut und Magic App
Zur seit 1953 hier stattfindenden Magic Convention verirrt sich niemand zufällig: Das Dreitagesticket kostet immerhin 205 britische Pfund. Kaldy-Karo reist seit 15 Jahren mit einer Gruppe österreichischer Gleichgesinnter hierher, um Vorträge und Workshops zu besuchen, die 150 einschlägigen Verkaufstische nach neuesten Tricks abzuklappern, sich zu vernetzen und am Abend bei den Galashows internationale Stars der Zauberszene zu erleben: riskante Schwebeeinlagen, mentale Rätselphänomene, spektakuläre Licht- und Soundshows. Selbst die Magier im Publikum durchschauen nicht alle Tricks aus dem Stand, wie sich im fachsimpelnden Gewusel beim Pausengetränk zeigt, wo auch eigene Auftritte und Konferenzen geplant werden.
„Theoretisch kann man heute alles auch übers Internet kaufen“, sagt Kaldy-Karo bei einem Cider in den Winter Gardens, „aber hier sieht man, wie die Tricks vorgeführt werden und ob man damit arbeiten kann.“ Die Convention ist nicht beim Klischee von Zauberhut und Hexenbesen hängen geblieben, sondern mit der Zeit gegangen. Das Angebot reicht vom althergebrachten Hütchenspiel, verblüffenden Kartentricks, historischen Fachbüchern bis zu hochpreisigem, modernem Zauberequipment und brandneu entwickelten Magic Apps: Der blutige Anfänger wird hier genauso bedient wie die erfahrene Zaubermeisterin. „Das Computerzeitalter hat natürlich auch in der Zauberkunst neue Trends gesetzt“, erzählt Monika Hemis-Stadlmann, Kustodin des Wiener Circus- und Clownmuseums und ebenfalls regelmäßige Blackpool-Besucherin. „Das Spektrum hat sich dadurch erweitert, die Grundprinzipien der Zauberkunst sind jedoch zeitlos.“ Und deren Ziele ebenso: offene Münder, Gefühle zwischen Lachen und Staunen. Monika Hemis-Stadlmann weiß, wovon sie spricht: Bis 2005 hat sie mit dem „Vienna Magic“ in der Marxergasse Europas größtes Zauberfachgeschäft aufgebaut. Dann wechselte sie die Seiten und demonstriert seither nicht mehr hinter der Budl ihre Kunststücke, sondern als Berufszauberkünstlerin auf der Bühne.
Branche im Wandel
Wien kann auf eine lange Tradition an Zauberern zurückblicken: Sebastian von Schwanenfeld, Basilio Calafati, Anton Kratky-Baschik, Leopold Ludwig Döbler und Johann Nepomuk Hofzinser prägten schon im 19. Jahrhundert dieses Unterhaltungssegment. Doch den Lebensunterhalt als Zauberkünstler zu bestreiten, gelingt heute nur mehr wenigen. „Es werden wohl um die 20 in Österreich sein“, schätzt Monika Hemis-Stadlmann, die selbst zu dieser Minderheit zählt: „Wolfgang Moser, Tricky Niki, Thommy Ten & Amélie van Tass sowie Anca & Lucca Lucian gehören dazu. Die letzten beiden Duos wurden sogar Weltmeister der Mentalmagie.“
Zum fachlichen Branchen-Austausch dienen verschiedene Zaubervereinigungen. In Österreich sind knapp 20 davon im anno 1982 gegründeten „Magischen Ring Austria“ eingetragen, der seinerseits wiederum zum internationalen Weltdachverband der Zauberkunst gehört. Teil des Rings sind etwa der österreichische Ableger der „International Brotherhood of Magicians“, zu dessen Gründern der umtriebige Tony Rei zählt; der Magische Klub Wien, dem seit 1989 der österreichische Veteran Magic Christian als Präsident vorsteht; oder das seit 1977 von Robert Kaldy-Karo und Michael Swatosch-Doré geleitete 1. Wiener Zaubertheater Wien, das seinen Sitz wiederum im Circus- und Clownmuseum am Ilgplatz im Stuwerviertel hat.
Auch wenn die österreichische Delegation an Zauberexperten nicht selbst in Blackpool auftritt, so erinnert sie sich bei der Gelegenheit gern an ihre Sturm- und Drangzeiten. Kaldy-Karo und Swatosch-Doré traten in den 1980er- und 1990er-Jahren als „Masters of Sensation“ auf und wurden unter anderem dazu engagiert, die Publikumsmassen bei einem Formel-1-Rennen am Österreichring anzuheizen – auf einem Motorrad im Blindflug: „Niki Lauda hat mir damals die Augen verklebt“, erinnert sich Kaldy-Karo lachend, „und Michael ist im Auto hinter mir gefahren und hat mich ‚gedanklich gesteuert‘.“ Kaldy-Karo, der nicht einmal sehend Motorradfahren kann, scheint sich selbst zu wundern, diesen Stunt unverletzt überlebt zu haben: Auch das ist Magie.
Galgen im Steinbruch
Ein anderes Mal kam Kaldy-Karo dem Tod wesentlich näher, nämlich als er vor Jahrzehnten Manfred Hochmeister – ebenso ein Stammgast in Blackpool – kennenlernte. Kaldy-Karo arbeitete damals als Kommandant der Wiener Berufsfeuerwehr, Hochmeister unterrichtete damals wie heute als Professor der Gerichtsmedizin an der Uni Wien. „Ich wurde nach Neustift gerufen“, erinnert sich Kaldy-Karo: „Ein Baum stand fünf Meter aus einem Steinbruch heraus, es ging 30 Meter hinunter, und am Ende war ein Erhängter.“ Hochmeister wurde als Gerichtssachverständiger hinzugeholt, und noch bevor sie wussten, wie sie den Mann am Galgen bergen sollten, kamen die beiden auf ihre gemeinsame Zauberleidenschaft: Der Pathologe und Pionier der DNA-Analyse Hochmeister tritt als verrückter Professor Bombasti auf, wenn er nicht in der Sensengasse doziert.
Zu den Ehrenmitgliedern des Blackpool Magicians Club, der die dortige Convention organisiert, gehören Prominente wie David Copperfield oder Siegfried & Roy. Die Wiener Zaubergruppe erinnert sich noch an legendäre Auftritte des niederländischen Starmagiers Hans Klok oder von Uri Geller, der auch außerhalb der Szene mit seinen verbogenen Löffeln für Aufsehen sorgte. Die aktuell in Blackpool auftretenden Künstler sind ebenso weltberühmt – mitunter aber nur in der Zauberwelt: etwa die erst 24-jährige Suhani Shah, eine Gedankenleserin aus Indien. Sie verfrachtet die Mentalmagie ins 21. Jahrhundert und verblüfft etwa in Online-Videokonferenzen, in denen sie zeigt, dass ihre übermenschlichen Fähigkeiten auch über Internetstrahlen greifen. Oder Magical Bones, ein ehemaliger Background-Tänzer von Madonna und Alicia Keys, der in Blackpool Breakdance mit Kartentricks kombiniert.
Noch ein paar magische Pints
„Doctor Diablo’s Sideshow“ hingegen greift humoristisch in die Vollen einer historischen Unterhaltungsform: der Freakshow-Tradition samt Schwertschlucker, Schlangentänzerin und Fakir. Im Zweifel werden hier die Grenzen des guten Geschmacks nicht neu ausgelegt, sondern gleich mit dem Hammer zerschlagen. Nachdem eine junge Zuschauerin Doctor Diablo einen gigantischen Nagel durch sein Nasenloch bis zum Anschlag in die Dachkammer gehämmert hat, stellt sich die Frage: Wie diesen wieder herausbekommen? Das zufällig ausgewählte Glückskind scheut nicht davor zurück, den Stahlstift mit den Zähnen – fast möchte man sagen: zärtlich – herauszuziehen. Das Publikum tobt und stampft.
Verlässt man die gesicherte Zone der Magic Convention in Richtung Blackpooler Nachtleben, gehen die unerklärlichen Phänomene aber erst so richtig los. Viele davon lassen auch Zauberveteranen ratlos zurück in den Pubs und Nachtclubs der ehemaligen Traumdestination, wo bei konsumfreundlichen Getränkepreisen raubeiniger Humor gepflegt wird, der anderswo Shitstorms auslösen könnte. Hier wird man ohne teure Eintrittskarte Teil eines Unterhaltungszirkus ohne fixes Dreh- oder Regelbuch. Blackpool wirkt auch niederschwellig. Zumindest für die Dauer von zwei bis acht magischen Pints.