Aus der Spur

Viennale: Claude Lanzmann bringt sein neues Doku-Epos zum Filmfestival

Kino. Claude Lanzmann bringt sein neues Doku-Epos zur Viennale

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Cannes, Grand Hotel, 21. Mai, 17.20 Uhr. Claude Lanzmann sitzt mit steinernem Gesicht, ein Monument seiner selbst, in einem Ledersofa im Hotelfoyer, umringt von einer Journalistengruppe. Er versucht die Fragen zu verstehen, die an ihn gerichtet werden, hakt immer wieder barsch nach, lässt sie sich mehrmals wiederholen. Er hört schlecht, seine Interviewpartner wurden daher von Lanzmanns Pressebetreuer instruiert, sehr laut und sehr langsam zu sprechen. Einfache Fragen zu stellen. Und vorsichtig zu sein: Es sei beispielsweise nicht ratsam zu betonen, dass man aus Österreich oder Deutschland komme. Da werde der Regisseur in der Regel eher mürrisch.

Aber mürrisch ist er sowieso, wem auch immer er gegenüber sitzt. Zwischendurch blitzt zwar der alte Sarkasmus, der robuste Witz dieses Mannes durch, in dem man bisweilen einen Rest gut versteckter Milde zu entdecken meint. Jäh wechseln seine Launen an diesem Tag, man meint ihm dabei zuschauen zu können, wie er in der lustlosen Verfertigung seiner Gedanken von letzter Nachsicht zu heftiger Ungeduld wechselt. Als die Gruppe gegen halb sechs das Feld räumt, um Lanzmann für das profil-Gespräch freizugeben, erhebt der alte Mann sich kurz von der Couch, baut seine titanische Gestalt vor einem auf und fragt schlecht gelaunt: „Sie sind allein?“, als wäre bereits dies eine Zumutung. Brummend akzeptiert er das Einzelgespräch schließlich, sein Agent verfügt noch, dass man sich direkt neben Monsieur Lanzmann zu setzen, ihm am besten laut und deutlich in sein linkes Ohr zu sprechen habe.

„Was sonst?“
Eine halbe Stunde später, unmittelbar nach dem Interview, ordert Lanzmann einen dreifachen Whisky und nimmt angewidert zur Kenntnis, dass er ein weiteres Gespräch zu führen habe, diesmal mit einer US-Journalistin, die im Hintergrund schon bereitsteht, sich ihm höflich vorstellt und hinzufügt, dass sie seinen neuen Film sehr liebe – und übrigens selbst Jüdin sei. „Was sonst?“, blafft Lanzmann die Frau an. Sie lächelt ratlos, überspielt die Situation und stellt ihre erste Frage. Wenige Minuten später beendet Lanzmann das Treffen. Ihre Fragen seien stupid, herrscht er die Frau an, er habe keinerlei Interesse mehr, sich von einer derart idiotischen Kritikerin vernehmen zu lassen. Was genau ihn in Rage gebracht hat, wird später, auch von der Interviewerin selbst, nicht mehr zu rekonstruieren sein. An der Qualität ihrer Fragen wird es kaum gelegen haben: Die Kritikerin hat fast zwei Jahrzehnte lang für das Branchenblatt „Variety“ gearbeitet und wurde in den vergangenen 25 Jahren in unzählige internationale Filmfestivaljurys berufen.

Nun ist Claude Lanzmann, der im November 88 Jahre alt wird, künstlerisch und politisch längst über jeden Zweifel erhaben. Sein teilweise abschätziger Umgang mit Menschen und Institutionen macht es aber zusehends schwieriger, ihm den Respekt, den der einstige Résistance-Kämpfer und Weltfilmemacher verdient, auch zu erweisen. Lanzmanns sich verschärfende Egozentrik schien in Cannes, wo er im Rahmen der ­Weltpremiere seines jüngsten Films, des Murmelstein- und Theresienstadt-Porträts „Der Letzte der Ungerechten“ (profil berichtete), mit Standing Ovations gefeiert wurde, kaum noch zu kontrollieren sein. Dabei sind Lanzmanns Untergriffe und Ausfälle mit dem Begriff Alterssturheit nur unzureichend beschrieben. So behauptete er mehrfach öffentlich (auch im Gespräch mit profil), dass die Erstpräsentation jenes alten, damals noch ungeschnittenen Interviewmaterials, das nun als Herzstück seines fast vierstündigen aktuellen Epos fungiert, einer „Vergewaltigung“ gleichgekommen, jedenfalls über seinen Kopf hinweg geplant und durchgeführt worden sei – dass also die Wiener Vorführung seines 1975 geführten Gesprächs mit dem Zeitzeugen Benjamin Murmelstein im Österreichischen Filmmuseum anno 2007 eine Art „Diebstahl“ gewesen sei.
Ein Blick ins Gästebuch des Filmmuseums revidiert das Bild: Darin bedankt sich Lanzmann handschriftlich und „in Freundschaft“ am 14. Oktober 2007 für die „Idee dieser komplizierten Vorführung“, für die „makellose Organisation“ und „Ihre Freundlichkeit, die mich unendlich berührt“.

„Baff wie viele andere auch“
Alexander Horwath, Direktor des Österreichischen Filmmuseums, der „baff wie viele andere auch“ auf die Anschuldigungen Lanzmanns reagierte, erinnert sich an die Vorbereitung des Murmelstein-Materials so: „Der Historiker Ingo Zechner hatte die Murmelstein-Filme im United States Holocaust Memorial Museum entdeckt und uns vorgeschlagen, diese historisch so bedeutenden Aufnahmen vorzuführen und zur Debatte zu stellen. Ich habe Claude Lanzmann kontaktiert, der sofort positiv reagierte und meinte, dass er sehr gerne nach Wien kommen und für Diskussionen und Interviews zur Verfügung stehen würde. Hätte Lanzmann damals auch nur angedeutet, dass er gegen diese Vorführung sei, ich hätte die Idee auf der Stelle wieder fallen gelassen.“ Die Veranstaltung fand statt, unter reger Beteiligung Lanzmanns; der Filmproduzent Danny Krausz war damals im Saal, äußerst beeindruckt von Murmelsteins Berichten – und verließ das Kino mit dem festen Vorsatz, Lanzmann zu überreden, daraus einen Film zu gestalten. Er bot sich als österreichischer Koproduzent an, Lanzmann nahm an, „Der Letzte der Ungerechten“ wurde realisiert. Auch er habe bis heute keine Ahnung, wieso Lanzmann die Entstehung seines Films derart verzerre, erklärt Alexander Horwath noch: „Aber letztlich ist das, gemessen an dem Umstand, dass aus dieser Geschichte einer der großen Dokumentarfilme unserer Epoche entstanden ist, auch nicht wichtig.“

Lanzmann, geboren in Paris 1925, hat spät mit dem Kino begonnen, studierte Philosophie, arbeitete als Lektor, Journalist, Herausgeber. Seit Anfang der 1970er-Jahre dreht er Filme. Die Vernichtungsgeschichte des Holocaust definiert Lanzmanns Schaffen. In „Shoah“, seinem 1985 uraufgeführten, neuneinhalbstündigen Chef d’œuvre, protokollierte er über Interviews und Landschaftsaufnahmen, was genau in Treblinka, Auschwitz, Chelmno und Belzec geschehen ist. Claude Lanzmanns dokumentarisches Gesamtwerk ist an Titeln schmal, qualitativ jedoch kaum erreichbar. Nicht mehr als acht Filmarbeiten hat er bislang veröffentlicht, fünf davon sind seine Hauptwerke. Die jüngste, eben seine Murmelstein-Studie, setzt sich mit dem Bericht eines Mannes auseinander, der erst als Zwangsfunktionär der Nazis in Wien und später als „Judenältester“ in Theresienstadt für die SS-Männer Adolf Eichmann und Alois Brunner arbeiten musste.

In kaum zwei Wochen wird Claude Lanzmann als einer der entscheidenden Stargäste der diesjährigen Viennale in jener Stadt ankommen, in der Benjamin Murmelstein 1931 Rabbiner wurde. Für 26. Oktober hat sich Lanzmann angesagt, knappe vier Tage will er in Wien verbringen, um seinen neuen Film vorzustellen: eine hochreflexive, dabei sehr persönliche Arbeit, die historische Präzision bequemer Anschaulichkeit vorzieht – und in der Figur des rhetorisch brillanten Murmelstein Anpassung und Heroismus, Emotion und Intellekt, Erinnerung und Analyse überraschend (und in aller gebotenen Ambivalenz) neu zu beleuchten versteht. Ein Meisterstück.

Infobox
Slapstick, Folk & Rauschzustände
Das US-Kino und die Gegen­entwürfe: erster Ausblick auf die Viennale 2013

Einen besseren Eröffnungsfilm hätte man, auch wenn die US-Kinodominanz damit erneut festgeschrieben wird, in diesem Jahr kaum finden können: Mit der Österreich-Premiere der meisterlichen Coen-Brothers-Tragikomödie „Inside Llewyn Davis“ öffnet das Wiener Filmfestival am Donnerstag nächster Woche alle Schleusen – ein vom Unglück verfolgter junger Folkmusiker (Oscar Isaac) wehrt sich im New Yorker Greenwich Village des Jahres 1961 gegen die Zumutungen der Außenwelt (Frauen, Freunde, Katzen, Karriere). Ein unfassbar lakonisches Werk mit unmittelbarer Suchtwirkung.

Amerikanischer Slapstick wird bei der diesjährigen Viennale groß geschrieben: Neben der im Österreichischen Filmmuseum schon am 18. Oktober startenden historischen Retrospektive für Jerry Lewis steht nun auch noch, im Beisein des Mimen, die Hommage an einen anarchischen Gegenwartskomiker namens Will Ferrell („Anchorman“) an. Das weitaus weniger bekannte, aber mindestens so rauschhafte Werk des Spaniers Gonzalo García Pelayo wird bei der Viennale 2013 ebenso gewürdigt wie ein großer Eremit des französischen Kinos: Jean-Pierre Léaud wird nach Wien kommen, um die Wiederaufführung von Jacques ­Rivettes legendärem 13-Stünder „Out 1“ zu präsentieren. Freude.

Viennale: 24.10. – 6.11.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.