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Social Media

Von Twitter zu Bluesky: Degeneration X

In Scharen verlassen die User derzeit Elon Musks toxisch gewordene Plattform X in Richtung des alternativen Anbieters Bluesky. Aber wird dort ein besseres soziales Netzwerk entstehen?

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Es war einmal, an einem Sonntag Mitte November, als der Kaiser von Österreich-X zu seiner Domain sprach: „Es war sehr lange schön mit dir Twitter, aber in den letzten Jahren, seit du dich nur mehr X nennst und täglich immer weiter radikalisierst, war es gar nicht mehr schön, sondern vor allem giftig, voller Lügen, aggressiv und deprimierend.“ 

Mit diesen Worten untermauerte Armin Wolf, ZiB2-Moderator und langjähriger Chief Commentator of Austro-Twitter, seine Entscheidung, den Mikroblogging-Dienst zu verlassen – und damit auch die über 600.000 Follower, die er dort zuletzt verzeichnete.

Der groß inszeniert „#eXit“ zahlreicher österreichischer Twitter-Prominenter wie Wolf, Corinna Milborn oder Florian Klenk (sowie auch mehrerer profil-Journalistinnen und -Journalisten) am vergangenen Sonntag lenkte die Aufmerksamkeit auf deren Social-Media-Exil der Wahl: die 2019 als Abspaltung des damals noch Musk-losen Twitter entwickelte und im Februar 2023 effektiv gestartete Plattform Bluesky

Schon seit dem vergangenen Frühjahr ist Bluesky – dem man zuvor nur auf Einladungsbasis beitreten konnte – frei zugänglich, aber erst seit diesem September schießen die Zuwachsraten des Diensts durch die Decke. Im September 2023 hatte Bluesky weltweit rund zwei Millionen User, im September 2024 waren es neun Millionen, am vergangenen Dienstag wurde die 20-Millionen-Marke überschritten. Das sind beeindruckende Zahlen, aber im Vergleich mit den 275 Millionen regelmäßigen Usern von Threads (der Mikroblogging-Seite von Meta/Facebook/Instagram) und den immer noch mehr als 500 Millionen X-Usern doch eher vernachlässigbar (wobei letztere zurückgehen und umstritten bleibt, wie viele der X-Accounts von automatisierten Bots betrieben werden).

Auch schon vor der Übernahme von Twitter durch den Multi-Unternehmer Elon Musk im Oktober 2022 war die Mikroblogging-Plattform von Troll-Armeen besetzt. Der egomane Freie-Meinungs-Ayatollah Musk hat Hatespeach und Fake News aber ganz offensiv auf die Bühne zurückgeholt und auf X eine Öffentlichkeit geschaffen, deren Fluchtpunkt im Trumpismus liegt: Alles, was gesagt werden kann, muss auch gesagt werden, ob wahr oder nicht, ob menschenverachtend oder nicht. Das, was Twitter – früher – so herrlich machte, also die Fülle an überraschenden Meldungen aus aller Welt, der unendliche Spaß, den sich die User miteinander machten, die Meinungen, die sich da aneinander rieben, ist fast völlig untergegangen in giftigen Parolen, unqualifizierten Anwürfen und irreführender Werbung.

Bleibt die Frage: Ist Bluesky vor einer solchen Entwicklung gefeit? Ist das neue Netzwerk technisch-moralisch avancierter und automatisch aufgeklärter als das toxische X-Twitter?

Die Anlagen dazu sind jedenfalls vorhanden: Bluesky agiert als gemeinnütziges Unternehmen und funktioniert (vorläufig) werbefrei, hat also keine Veranlassung, seine Nutzer mit allen (fiesen) Mitteln an die Plattform zu binden. Derzeit finanziert sich Bluesky aus Startup-Kapital; ein Premium-Modell soll bereits in Arbeit sein, allerdings – so betont Geschäftsführerin Jay Graber – soll dies nicht auf ein Pay-to-win-Angebot wie im Fall von X hinauslaufen (wo man Reichweite de facto kaufen kann), sondern den Kunden bloß bessere Video-Qualität verfügbar machen sowie die Möglichkeit, digitale Avatare zu gestalten.

Weitere techno-moralische Vorteile: Bluesky ist ein Open-Source-System, legt also seine Funktionsweise offen (zumindest jenen Menschen, die mit Sourcecode etwas anfangen können), und lässt – das wäre der zentrale Punkt – seine User ihre eigenen Feeds mitbestimmen. Während man bei X von einem Algorithmus abhängt, der Posts nach unklaren Kriterien öfter oder weniger oft ausspielt (sehr oft jedenfalls die des Eigentümers), kann man auf Bluesky sehr genau und individuell voreinstellen, welche Postings man angezeigt bekommen möchte: nur jene von Freunden; nur jene, die Freunde gut fanden; stur chronologisch geordnete oder nach Beliebtheit sortierte Postings; nur die von einer bestimmten Gruppe von Postenden; nur jene zu einem bestimmten Thema – die Vielfalt ist groß, die unterschiedlichen maßgefertigten Feed-Varianten gehen bereits in die Zehntausende. Zudem lässt sich mit sogenannten Labels definieren, welche Art von Nachricht man gern  – oder auch auf keinen Fall – sehen möchte, zum Beispiel Postings von Krypto-Accounts, von bestimmten Marken, solche mit psychologischen Triggern, etc. Auch hier sind die Möglichkeiten Legion.

Die Weltwahrnehmungen einzelner Bluesky-User werden sich dadurch sehr viel stärker voneinander unterscheiden, als das auf X oder Instagram der Fall ist, wo große Accounts – nicht nur jener von Elon Musk – den Diskurs überproportional prägen. Das hat Vor- und Nachteile: Die Bildung von tendenziell gleichgesinnten Meinungsblasen ist, was den öffentlichen Diskurs betrifft, sicher nicht unproblematisch; andererseits kann der Einfluss destruktiver Akteure dadurch recht effektiv gedrosselt werden, was demokratiepolitisch jedenfalls zu begrüßen wäre. 

Das in der #eXit-Bewegung zunächst ausschlaggebende Argument aber, nämlich dass die Debatte auf X von Gehässigkeit und Unverständnis geprägt sei und dass deshalb der Umstieg auf das gesittetere Bluesky angebracht wäre, bleibt (zumindest vorläufig) gültig. 

Die Umgangsformen auf dem neuen Dienst sind bislang tatsächlich sehr höflichkeitsbasiert, gerade in den Tagen nach dem #eXit freute man sich betont herzlich über das Wiedersehen mit alten Twitterbekanntschaften in neuer Umgebung, fand Metaphern und Vergleiche für die dort vorherrschende Stimmung („wie ein kleiner Regionalzug, der bis eben noch ziemlich leer und gemütlich war. Plötzlich steigt ein Haufen gestrandeter Leute ein, weil ihr Railjet unterwegs kaputt geworden ist“, meint Vinzenz B.) – und machte, wie früher auf Twitter, aus blöden Ideen goldene Scherze.

Gleichzeitig erreichen uns erste Schreckensmeldungen: Bluesky könnte mit dem aktuellen Wachstumsschub seine gutmütige Haltung verlieren, weil die kaum 20 Vollzeit-Angestellten des Unternehmens mit dem Moderieren nicht mehr nachkommen. Wie das Unternehmen mitteilte, seien zuletzt bis zu 3.000 Beschwerden pro Stunde eingelaufen. Bluesky spricht in dem Zusammenhang bereits von einer „Triage“, bei der die „schädlichsten Inhalte“ zuerst entfernt würden. Derweil scheint sich dennoch – ein subjektiver Befund nach Maßgabe eines möglicherweise sehr individuellen Feeds – die Gehässigkeit in Grenzen zu halten (bis auf die Debatte zur Frage, ob der österreichische #eXit nun ein eitles Spektakel war oder doch eine demokratiepolitische Wohltat).

Und was sagt der König in seinem Exil? Er hält „zum Thema andere Meinungen“ das Folgende fest: „Ich weiß nicht mehr, wo ich das kürzlich hörte, aber ich fand diese Unterscheidung hilfreich: Wird „in good faith“ diskutiert oder „in bad faith“? Also mit guter Absicht (sinnvoll, lehrreich, inspirierend) oder einfach nur bösartig (schade um die Lebenszeit).“

Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur und ist seit 2020 Textchef dieses Magazins.