Vorurteile: Mögen Sie Schwule, Ausländer, Schwarze, ...?

Vorurteile: Mögen Sie Schwule, Ausländer, Schwarze, ...?

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Klar. Sie sind liberal. Weltoffen. Gebildet. Tolerant. In Ihrem Bekanntenkreis hat sich noch nie jemand als FPÖ-Wähler geoutet. Deswegen halten Sie auch genau dieses Nachrichtenmagazin in Ihren Händen und nicht ein kleinformatiges Massenmedium, in dem schwarze Mitbürger häufig im Erwerbsbereich Drogenhandel auftreten. Ihre Kinder oder Enkel dürfen das Wort "Neger“ nicht sagen. "Indianer“ lassen Sie gerade noch gelten, denn bei einem Vierjährigen "Ureinwohner Amerikas“ durchzubringen, ist nicht ganz einfach. Sie gehen auch gerne türkisch, persisch oder arabisch essen. Sie sind überhaupt sehr offen, was fremde Kulturen angeht. Nur in der Kopftuchdebatte sind Sie im feministisch argumentierenden Lager beheimatet, denn die Rechte der Frauen gehen vor. Wenn Sie eine antisemitische Bemerkung in der Straßenbahn hören, können Sie schon einmal richtig in Saft gehen und beinahe Ihre strikte Gewaltfreiheit vergessen. Wenn jemand die Phrase "bis zur Vergasung“ benutzt, läuten bei Ihnen alle Alarmglocken und Sie werden zum Sprachpolizisten. Das Conchita-Wurst-Theater nervt Sie inzwischen ein wenig, denn gleichgeschlechtlich orientierte Paare (das Wort schwul mögen Sie eigentlich nicht, weil es einen diskriminierenden Unterton hat), sind seit Jahrzehnten fixer Bestandteil Ihres Bekanntenkreises. Sie halten es für einen gesellschaftspolitischen Skandal, dass das Adoptionsgesetz für Schwule noch immer in weiter Ferne liegt. Wenn Sie die "Alltagsgeschichten“ von Elizabeth T. Spira sehen, beschleicht Sie ein beklemmendes Gefühl. Sie heimatschämen sich dann und wollen eigentlich in keinem Land leben, in dem Menschen in Feinripp-Unterleiberln und mit Vokuhila-Frisuren, wahrscheinlich alles Frühpensionierte, Sätze wie "Also, ich brauch’s net, die Ausländer“ oder "Da san’ leider a paar noch immer nicht durch den Rost g’fallen“ dreschen. Aber natürlich sind nicht alle Unterleiberl-in-bebautem-Gebiet-Träger mit Bierbäuchen Schrebergarten-Faschisten. Oder vielleicht doch? Und was denken Sie denn über Dirndl-Trägerinnen, Porsche-Fahrer und Kirchenbesucher?

Ohne Vorurteile geht gar nichts

Sie sehen: Auch Ihre Meinung ist voll von Klischees. Ohne Vorurteile geht nun einmal gar nichts. Und jeder, der behauptet, der Welt ausschließlich mit Toleranz und freiem Denken entgegenzutreten, ist ein Lügner. Es ist zwar politisch unkorrekt, den bräunlichen Heimatdichter Karl-Heinrich Waggerl zu Wort kommen zu lassen, aber sein Zitat hat metaphorische Kraft: "Ein Vorurteil ist die hochnäsige Empfangsdame im Vorzimmer der Vernunft.“

Der Mensch tendiert von seinem Naturell her zum "kognitiven Geizkragen“, so der Stereotypen-Forscher Lars-Eric Petersen, "der Wert darauf legt, mit so wenig Denkarbeit wie möglich durchs Leben zu gehen“.

Vorurteile seien ein spontaner Schutzmechanismus vor Ungewohntem, Fremdem

Vorurteile seien "ein spontaner Schutzmechanismus vor Ungewohntem, Fremdem“, so die Psychoanalytikerin Rotraud Perner. Jenseits der Orientierungshilfe und Strukturierung der Realität besitze das Kästchen-Denken natürlich auch psychohygienische Wirkung: "Es schützt vor allem auch vor der unangenehmen Erkenntnis der Unterlegenheit gegenüber Begabteren, Fleißigeren oder sozial Kompetenteren, rechtfertigt aber auch Dominanz- und Machtansprüche.“

Vorurteile setzen sich am leichtesten dann durch, wenn man wenig bis gar nichts über das Objekt seiner Vorverurteilung weiß. In der Sozialpsychologie läuft dieses Phänomen unter dem Begriff "Kontakt-aversion“, die, so der deutsche Soziologe Tilo Becker, "besonders unter Männern stark verbreitet ist“: "Jemand, der keinen Homosexuellen kennt, wird einen solchen ausschließlich an seiner sexuellen Neigung festmachen.“ Becker, der an der Universität Düsseldorf über die moralischen Einstellungen zur Homosexualität forscht, sieht in Zeiten der Krise eine wachsende Gefahr für einen Backlash: "In der Krise muss der gesellschaftliche Zusammenhalt stärker gesichert werden, und zu diesem Zweck werden ‚Outgroups‘ auch stärker angeschwärzt. Die Menschen sehen durch solche Gruppen ihr eigenes Wertesystem in Frage gestellt.“

Ängste vor einem Abstieg

Je mehr Arbeitsmarkt und Wirtschaftslage zum Härtetest werden, desto irrationaler und größer wird die Aversion gegen jede mögliche Form der Bedrohung der Existenzsicherung, und desto mehr setzten sich die vorgefertigten Negativmeinungen gegen Migranten, Schwule, Juden, Japaner, Chinesen, Russen und emanzipierte Frauen fest. Die größten Leistungsträger im Erhalt von Vorurteilen sind in prekären Wirtschaftssituationen jene Menschen, so der US-Vorurteilsforscher Joshua Rabinowitz, "die auf einen sozialen Aufstieg hoffen, aber gleichzeitig bei Turbulenzen große Ängste vor einem Abstieg haben“. Beschleicht diesen Typ Mensch dann auch noch das Ohnmachtsgefühl, "niemals eine Chance zu haben, je an der Macht beteiligt zu werden“, dann wird es schnell "sehr emotional, und auch die Barrieren gegen Gewaltbereitschaft werden nieder gerissen“, so Rabinowitz.

Bleibt noch immer die Frage offen: Zeigt die Entsendung der bärtigen Dragqueen zum europaweiten Schlager-Wettsingen, dass Österreich weitaus mehr rosa denkt, als die linksliberalen Bobo-Gutmenschen in ihrem heimatlichen Kulturpessimismus glauben wollten?

"Die wichtigste Frage ist nicht, wie liberal Österreich ist“, meint die Spitzenkandidatin der Grünen für die EU-Wahl, Ulrike Lunacek. "Sondern: Wie lange will die ÖVP noch das Land in ihre anti-liberale Geiselhaft nehmen und die Diskriminierungs- und Angstmache-Politik der FPÖ fortsetzen?“

"Kiss-Storm“

Doch abgesehen von parteipolitischem Hickhack: Wie messbar aufgeschlossen gegenüber Homosexuellen und ihrem Kampf um Gleichstellung war Österreich eigentlich kurz vor der Zeitrechnung "Ante Conchita“? Denn die Euphorie des Erfolges und der damit entstandene patriotische "Kiss-Storm“ verklärt natürlich die Realität. Wolfgang Wilhelm von der Wiener "Antidiskriminierungsstelle“ weiß, wovon er spricht, wenn er konstatiert: "Conchita Wurst ist eine Kunstfigur und deswegen leichter zu akzeptieren. Aber ich bin mir sicher, dass auch ihre frisch gebackenen österreichischen Fans schon einmal einen Schwulen-oder Lesbenwitz gerissen haben.“ Als regelrechten Hort der Homophobie empfindet Wilhelm die Schule: In einer Untersuchung aus dem Jahr 2010 gaben 46 Prozent der befragten Schüler an, schon mitangesehen zu haben, wie ein schwuler Kollege bedroht oder belästigt worden ist; 89 Prozent der Betroffenen wagten ihr Coming-out erst nach dem höheren Schulabschluss, weil sie sich den Hänseleien nicht aussetzen wollten. Der Suizidforscher und Psychologe Martin Plöderl geht sogar davon aus, dass 30 bis 50 Prozent aller Selbstmorde in Österreich von Homo-oder Transsexuellen verübt werden.

Kurt Krickler, Generalsekretär der "Homosexuellen Initiative Wien, sieht in der aktuellen Conchita-Hysterie auch die Gefahr, dass "die Stimmung umschlägt, weil ein solcher Hype den Menschen bald auch auf die Nerven gehen kann“.

Die Voraussetzungen für einen solchen Klimawechsel sind vorhanden. Vor zwei Jahren haben österreichische Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender-Personen der EU-Grundrechtsagentur in Wien online ihr Herz ausgeschüttet. Das Ergebnis ernüchterte: Nur jeder Fünfte lebt seine geschlechtliche Orientierung offen, beinahe jeder Dritte im Verborgenen. Hass und Ablehnung erfahren in Österreich sieben Prozent der befragten Homosexuellen sehr oft, EU-weit gaben doppelt so viele an, mit solchen Gefühlen regelmäßig konfrontiert zu sein.

Verglichen zu bekannt homophoben Ländern wie Ungarn und den Ländern Ex-Jugoslawiens steht Österreich dennoch nahezu als Hort der Toleranz da - oder sieht sich vielmehr als solcher. Denn auch bei der Analyse des "Eurobarometer“, einer regelmäßigen Erhebung, in der EU-Bürger Diskriminierungen aller Art bewerten, schneidet Österreich in der Selbsteinschätzung besser ab als viele andere.

56 Prozent aller EU-Europäer halten in ihrem Land Diskriminierung aufgrund ethnischer Herkunft für weit verbreitet. In Österreich nehmen jedoch nur 48 Prozent Herkunft und ethnische Zugehörigkeit als Ursache für Diskriminierung wahr.

Ähnlich unterschiedlich sieht es bei der Rezeption sexueller Orientierungen aus. 46 Prozent der Europäer beurteilen Diskriminierung von Schwulen und Lesben als weit verbreitet. In Österreich sehen das vergleichsweise geringe 37 Prozent so, in Italien sind es hingegen sogar 63 Prozent.

Auch was die Stellung der Frau betrifft, herrscht in unserem Land ein überraschender Optimismus. Im EU-Schnitt nimmt beinahe jeder Dritte in seinem Land geschlechtsbedingte Diskriminierung als weit verbreitet wahr, in Österreich sieht es nur jeder Fünfte so. Der geschönten Selbstwahrnehmung steht die Realität gegenüber: Am häufigsten werden hierzulande immer noch die Frauen benachteiligt. Zwar wurde das Gesetz für gleichen Lohn 1979 eingeführt, jedoch sind ihre Nettoeinkommen nahezu um ein Viertel, ihre Pensionen um rund 40 Prozent niedriger als jene von Männern. Im gesamteuropäischen Vergleich belegt Österreich mit Stand Februar 2014, was die Lohnschere betrifft, den beschämenden vorletzten Platz. Nur Estland liegt noch mit einem Gefälle von 30 Prozent hinter uns. Femen-Proteste finden dennoch anderswo statt.

Das allergrößte Karriere-Handikap in Österreich scheint die Hautfarbe darzustellen

Das allergrößte Karriere-Handikap in Österreich scheint aber - Stars wie Fußballidol David Alaba ausgenommen - die Hautfarbe darzustellen. Zur Chancengleichheit bei der Jobsuche meinen 53 Prozent der für "Eurobarometer“ Befragten, bei zwei gleich guten Bewerbern könne in Österreich die Hautfarbe eines Kandidaten durchaus von Nachteil sein. Hautfarbe und ethnische Herkunft spielen auf Österreichs Arbeitsmarkt demnach eine viel größere Rolle als im Schnitt der EU-Länder (39 Prozent), in Deutschland (45 Prozent) und in Italien (26 Prozent). Das Kopftuch als religiöses Symbol kann sich hierzulande wie auch in Deutschland nachteilig auswirken: Dieser Ansicht sind mehr als 40 Prozent, gegenüber 23 Prozent im EU-Schnitt. Noch negativer können in Österreich Akzent und Sprechweise eines Jobsuchenden sein: 45 Prozent nannten das als möglichen Nachteil, im EU-Schnitt waren es nur 30 Prozent.

Als Staatsoberhaupt würden die Österreicher lieber jemanden sehen, der über 75 Jahre alt ist, als einen schwulen Mann oder eine lesbische Frau.

Die Schere zwischen Selbstwahrnehmung und statistisch untermauerter Realität bestätigt alle Theorien, die Sigmund Freud bezüglich der seelischen Verdrängungsmechanismen aufgestellt hat. Auch das gängige Meinungsspektrum der "Piefkes“ über die "Ösis“ scheint mit dieser Wahrnehmungsschere bestätigt zu sein: Österreicher biegen sich die Realität gerne schönfärberisch zurecht, denken schlampig und neigen zur Tatsachenverdrehung und Unehrlichkeit.

Tragisch-komische Einblicke in die österreichische Alltagsrealität liefern Fallgeschichten, in denen sich die Kläger auf das Gleichbehandlungs- und Antidiskriminierungsgesetz berufen.

Eine Dame beschäftigt zwei Haushaltshilfen - eine aus Polen und eine aus Deutschland. Beide Haushälterinnen hatten lange Erfahrung in ihrem Job, ihre Wiener Arbeitgeberin liebt dennoch detaillierteste Putzanweisungen und raue Umgangstöne. Deutsche seien "zu blöd, Kuchen zu backen“, ist ein gängiger Kommentar, Abfälligkeiten über "billige“ ungebildete Osteuropäerinnen sowieso: "Jetzt hab ich eine Polin, die kein Deutsch versteht und eine Deutsche, die mich auch nicht versteht!“ Gleichzeitig lässt sich die Hausherrin das Frühstück ins Bad bringen, wo sie sich nackt räkelt. Die beiden Haushaltshilfen sind mehr als unangenehm berührt, die Gleichbehandlungskommission stellt sexuelle und Belästigung aufgrund ihrer ethnischen Herkunft fest. Eine Klage ist anhängig.

Schöner Wohnen mit gutem Einkommen? Doch nicht mit einem schwarzen Ehemann. Ihr Mann könne "ihr abhauen“ und sie dann eventuell die Miete nicht bezahlen: Das wurde einer Akademikerin beschieden, die vor Abschluss eines Mietvertrags ein Foto ihres in Gambia geborenen Mannes vorlegen und auch erklären musste, warum er noch nicht Österreicher sei. Die Wohnung bekam das Paar nicht. Laut Gleichbehandlungskommission ein Fall von Diskriminierung.

Nachäffen seiner Bewegungen durch den Vorgesetzten, Beleidigungen als "Schwuchtel“, zehn Stunden Durcharbeiten ohne Pause: Das passiert einem Verpacker in einem heimischen Traditionsunternehmen. Der Seniorchef wiegelt ab, die Beleidigungen gehen weiter, der Betroffene wird krank und gekündigt. Der Juniorchef will nicht informiert worden sein, gibt an, in der 40-jährigen Unternehmensgeschichte sei Derartiges nie vorgekommen, dem Termin bei der Gleichbehandlungskommission bleibt er fern. Den von der Kommission empfohlenen Schadenersatz für den Diskriminierten gibt es bisher nicht.

Slogans wie "Echte Österreicher“ und "heimisch sein“ sind - allen Gedenk- und Bewältigungsmaßnahmen zum Trotz - immer noch verlässliche Fixstarter im rechtspopulistischen Propaganda-Vokabular.

"Wer ist denn nun in Österreich ‚heimisch‘?“ - Diese Frage stellte Hanno Löwy, Direktor des Jüdischen Museums in Hohenems, dem Vorarlberger FP-Chef Dieter Egger, als der "Elterngeld für heimische Familien“ plakatierte. Der Politiker stempelte den Museumsdirektor daraufhin umgehend zum "Exil-Juden aus Amerika“. Was derartiger Antisemitismus will, ist für Löwy klar: "Diese Art von Politikern verbietet sich Einmischung in die Politik des Landes von Juden, also von Menschen, die in ihren Augen nicht dazugehören.“

Hanno Löwys Beobachtung - "Im Zweifelsfall benutzt man Juden heute eher, als offen antisemitisch zu sein“ - wird von den jüngsten Schmierereien in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen auf zynische Weise bestätigt. In riesigen Lettern war kurz vor der Befreiungsfeier Anfang Mai "Türkenrass’ ab ins Gas. Sieg Heil“ auf die Mauern gesprüht worden. Vor vier Jahren fand man "Türk & Jud giftig’s Blut“ an die Außenwand des ehemaligen KZ geschmiert.

Heuer wurde zudem auf den Grabstein eines türkischen Mädchens am Friedhof Mauthausen ein Hakenkreuz gesprüht. Einer entsetzten Anruferin wurde von einem Polizisten beschieden, das Hakenkreuz auf dem Kindergrab sei ohnehin abwaschbar.

Nach jedem dieser Vorfälle werde Auseinandersetzung mit dem Problem versprochen, sagt Willi Mernyi vom Mauthausen-Komitee, "und nach drei Wochen ist die Aufregung vorbei und das Ganze wird als Lausbubenstreich abgetan“.

Rassistische, antisemitische und rechtsextreme Straftaten nehmen seit Jahren zu, im Vorjahr stieg ihre Zahl um ein Viertel auf knapp 600.

29 Prozent sprachen sich kürzlich in einer österreichweiten Umfrage für ein autoritäres System aus, mit einem "starken Führer, der sich nicht um Wahlen und Parlament kümmern muss“.

"Der Antisemitismus ist der genialste Einfall, den die menschliche Gemeinheit je gehabt hat“, notierte der Dichter und Dramatiker Arthur Schnitzler 1924 in seinen Tagebüchern. Sein 69-jähriger Enkel Michael Schnitzler, Musiker und Öko-Aktivist, geboren in Los Angeles, als 14-Jähriger mit der Familie nach Wien zurückgekehrt, beobachtet heute ebenfalls Verschiebungen im Gesellschaftssport Xenophobie: "Jetzt sind es vor allem die Türken, gegen die sich der Hass richtet. Denn schließlich leben zehn Mal mehr Türken als Juden bei uns. Ich bin überzeugt, dass, mit einem Freibrief von oben, eine Pogrom wie die Reichskristallnacht in Österreich durchaus wieder möglich wäre. Allerdings würden sich diesmal die Angriffe auf türkische Menschen und ihre Geschäfte konzentrieren.“

Erstmals erschienen in profil 21/2014 vom 19.05.2014