Dieses Archivbild vom 11. April 1961 zeigt den NS-Kriegsverbrecher Adolf Eichmann während seiner Vernehmung am ersten Prozesstag vor dem Jerusalemer Bezirksgericht.
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Wannseekonferenz: „Bezüglich der Judenfrage ist der Führer entschlossen“

Jene Versammlung einer NS-Spitze, in der die „Endlösung der Judenfrage“ organisiert wurde, jährt sich zum 80. Mal. Historische Fehlinterpretationen begleiten das Ereignis.

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Diese Geschichte ist in profil 1-2/2022 vom 08.01.2022 erschienen.

Der Einladungsort zeugte von elitärem Geschmack und Wohlstand. Ursprünglich war das Treffen, das dann am 20. Jänner 1942 um 12 Uhr mittags tatsächlich stattfand und nach den späteren Erinnerungen des Teilnehmers Adolf Eichmann nicht länger als eineinhalb Stunden dauerte, am 9. Dezember in der Interpol-Dienststelle am Kleinen Wannsee nahe Berlin geplant gewesen. Dass „die Besprechung mit anschließendem Frühstück“, wie es in der zweiten Einladung hieß, erst sechs Wochen nach dem ursprünglichen Termin in der ehemaligen Villa Minoux am Großen Wannsee abgehalten wurde, hatte mehrere Gründe.

Der Einladende Reinhard Heydrich, damals mit gerade einmal 38 Jahren einer der mächtigsten Aufsteiger des NS-Regimes, wollte mit diesem Treffen seine Vormachtstellung bei der sogenannten „Endlösung“ von diversen anderen Ressorts und Leitstellen abgesegnet sehen. Heydrich, früher oft verspottet wegen seiner hohen Stimme, besaß eine Machtfülle, die für sein Alter einzigartig war: Er war Leiter des Reichssicherheitshauptamts (RSHA), der wirkungsreichen Terrorzentrale gegen „rassische und politische Gegner“, amtierte als Hitlers Stellvertreter im Protektorat Böhmen und Mähren, wo Todesurteile zu seinem Alltag gehörten, und war aufgrund seiner brutalen Effizienz beim RSHA auch zum Chefbeauftragten für die „Endlösung der Judenfrage“ avanciert. In der „Judenfrage“ stand Heydrich in gewisser Rivalität zu seinem Vorgesetzten, dem „Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums“ Heinrich Himmler, wie der Historiker und Himmler-Biograf Peter Longerich in seinem Buch „Wannseekonferenz“ schlüssig dokumentierte.

Abgesehen von internen Machtkämpfen, die Heydrich mit der Einberufung der Konferenz ausräumen wollte, hatten die eskalierenden Kriegsereignisse im Winter 1941/1942 zu einem „allgemeinen Radikalisierungsschub in der Judenfrage“ (Longerich) geführt. Schon mit Oktober 1941 war die Auswanderung endgültig verboten worden. Mit dem Beginn der sowjetischen Gegenoffensive, dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour und der deutschen Kriegserklärung an die USA am 11. Dezember 1941 war der Krieg zum Weltkrieg geworden. Die davor angedachte Strategie, die jüdische Bevölkerung als Druckmittel gegen die Amerikaner zu benutzen, hatte nicht gefruchtet. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels notierte in seinem Tagebuch nach einer Besprechung mit Hitler: "Bezüglich der Judenfrage ist der Führer entschlossen, reinen Tisch zu machen. Er hat den Juden prophezeit, dass, wenn sie noch einmal einen Weltkrieg herbeiführen würden, sie dabei ihre Vernichtung erleben würden. Der Weltkrieg ist da, die Vernichtung des Judentums muss die notwendige Folge sein. Diese Frage ist ohne jede Sentimentalität zu betrachten. Wir sind nicht dazu da, Mitleid mit den Juden, sondern nur Mitleid mit unserem deutschen Volk zu haben."

Unter allen Umständen zu vermeidende "Beunruhigung der Bevölkerung"

In den gleichgeschalteten Medien wurden große Kampagnen - oft von Goebbels mit persönlichen Leitartikeln bestückt - gefahren, dass alles die Schuld der Juden sei. Mit solcher "Rechtfertigungs"-Propaganda hoffte man, die Unruhe in der Bevölkerung angesichts der intensivierten Massendeportationen in den Osten kleinzuhalten. Die unter allen Umständen zu vermeidende "Beunruhigung der Bevölkerung" war auch der letzte Punkt auf Seite 15 im Wannsee-Protokoll.

Im Gegensatz zu der bis heute auch in Schulbüchern hartnäckig kolportierten These, dass bei der Wannseekonferenz die Ermordung von elf Millionen Juden (die im Protokoll aufgelisteten Zahlenkolonnen setzen sich aus der jüdischen Bevölkerung in Europa in allen besetzten Gebieten und jenen, mit denen die Nazis im Krieg standen) beschlossen wurde, war der Genozid schon weit früher ein fest verankerter Beschluss. Es ging nur mehr um Kompetenzverteilungen, organisatorische Belange und die Klärung von Fragen wie jene, ob "Mischlinge 1. Grades" "den Juden gleichgestellt sind" oder sie vor die Wahl gestellt werden können, entweder in den Osten "evakuiert" oder "zwangssterilisiert" zu werden. Letztere Variante wurde, wie das Protokoll der Konferenz dokumentiert, verworfen. Allein "Mischlingen 1. Grades, verheiratet mit Deutschblütigen" sollte, um "im Reich" verbleiben zu können, die Option der Sterilisation vorbehalten bleiben.

Schon bei seiner berüchtigten "Prophezeiung" am 30. Jänner 1939, im Zuge einer zweieinhalbstündigen Rede im deutschen Reichstag anlässlich des Jahrestags der "Machtergreifung",hatte Hitler in gewohnter Aufgepeitschtheit verkündet: "Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa."

Das in Hitlers Münchner Bierkellerdemagogien 1919 deklarierte oberste Ziel, "die Entfernung der Juden" aus dem deutschen Lebensraum, war also längst zu "Ausrottung", "biologischer Ausmerzung", "Vernichtung" und "natürlicher Auslese" ("ein Steckenpferd von Himmler", wie Eichmann später beim Verhör in Jerusalem vermerkte) radikalisiert worden. Frühere Überlegungen, wie jene, die jüdische Bevölkerung auf der französischen Insel Madagaskar vor der Ostküste Afrikas auszusiedeln, waren auch aufgrund der sich überschlagenden Kriegsereignisse ad acta gelegt geworden. Noch im April 1938 hatte Goebbels diesbezüglich in seinem Tagebuch notiert: "Lange beim Frühstück palavert. Der Führer will die Juden ganz aus Deutschland herausdrängen. Nach Madagaskar oder so "

Für den ehrgeizigen Karrieristen Heydrich war der Zweck der Einladung in die Wannsee-Villa vor allem, seine "Ermächtigung" und "Bestallung" als federführendes Mastermind der "Endlösung" (der radikalisierte Terminus ersetzte schon in der Einladung den zuvor benutzten Begriff "Gesamtlösung") in Szene zu setzen; beides wollte er von möglichen Gegenspielern bestätigt sehen. Kopien eines "Ermächtigungsschreibens",das Reichsmarschall Hermann Göring ihm bereits Ende Juli 1941 ausgestellt hatte, waren den Einladungen beigefügt worden. Heydrich verwies in seinem Schreiben darauf, den Auftrag zu haben, "einen Gesamtentwurf vorzulegen" und "alle erforderlichen Vorbereitungen in organisatorischer, sachlicher und materieller Hinsicht" zu treffen, er also von oberster Führung abgesegnet alle Fäden bezüglich "der Endlösung" in der Hand haben solle. Die im Protokoll erwähnten, so perfide klassifizierten "praktischen Erfahrungen", die man im Zuge der "Evakuierungen" (die Protokollchiffre für Deportationen) schon gesammelt hatte, bezogen sich auf erste Massenmorde in Gaskammern, die laut manchen Quellen bereits im September 1941 (andere Historiker datieren dies erst mit Dezember) in Auschwitz unter Einsatz von Zyklon B an 250 "Kranken" und 600 sowjetischen Kommissaren und Offizieren durchgeführt worden waren. Himmler hatte schon 1939 die Anweisung gegeben, Tötungsmethoden zu entwickeln, die die Täter weniger belasten sollten als jene Massenerschießungen, die zum Zeitpunkt der Konferenz in der Sowjetunion für deutsche Soldaten bereits seit einem halben Jahr an der Tagesordnung standen. Bereits Ende 1939 hatte man auf Himmlers Initiative einen Gaswagen entwickelt, bei dem die Abgase des Fahrzeugs direkt in den Kastenraum geleitet wurden, und ihn erstmals bei der Ermordung von psychisch Kranken eingesetzt.

Protokoll Nr. 16

Dass überhaupt ein Besprechungsprotokoll mit dem Stempel "Geheime Reichssache" (die höchste Geheimhaltungskategorie) Nummer 16 erhalten blieb, ist dem Schicksal des früheren Unterstaatssekretärs im Auswärtigen Amt, Martin Luther, zu verdanken. Während ein Großteil der Akten, Protokolle und Tötungslisten gegen Ende des Krieges noch vor der Kapitulation von den Tätern vernichtet worden war, blieb ein einziges der 30 Wannsee-Protokolle, die die Teilnehmer und andere höhere Instanzen zugeschickt bekommen hatten, erhalten - vergessen in einem Aktenordner des Auswärtigen Amts. Es handelte sich bei dieser Aufzeichnung um keine wortwörtliche Mitschrift, sondern um ein von einer Stenotypistin erstelltes Protokoll, das nach Eichmanns späteren Aussagen sowohl von ihm als auch von Heydrich selbst stark redigiert und in ein unverfängliches "Beamtendeutsch" transponiert worden war. Begriffe wie "Töten", "Morden" oder "Vergasen" finden sich in der 15seitigen Abschrift nicht, sie wurden durch Worte wie "Sonderbehandlung", "Arbeitseinsatz im Osten" und "natürliche Auslese" ersetzt. In Jerusalem gab Eichmann an, dass in Wahrheit die Diktion unter den Teilnehmern "viel unverblümter" ausgefallen sei.

Der Empfänger des Protokolls Nr. 16 Martin Luther hatte die letzten zwei Kriegsjahre als "Sondergefangener" im Konzentrationslager Sachsenhausen verbracht, nachdem er versucht hatte, seinen früheren Förderer, den Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop, zu stürzen. Kurz nach Kriegsende starb Luther an einem Herzinfarkt. Seine Akten (inklusive Protokoll) waren indessen als Prozessunterlagen für den sogenannten "Wilhelmstraßen-Prozess" (so genannt, weil in dieser Berliner Straße das Auswärtige Amt und andere Ministerien beheimatet waren) gegen die Verantwortlichen für die Judenmorde an den amerikanischen Chefankläger transferiert worden. Ohne diesen Zufall wüsste man bis heute nicht, was an diesem Jänner-Tag im Jahr 1942 tatsächlich besprochen wurde. Bereits im August 1945 erschien in der "New York Times" der erste Bericht über di e Wannsee-Konferenz, allerdings inhaltlich so interpretierbar, dass dort die "complete liquidation" der "jewish question" beschlossen worden sei.

Die "durchaus konspirative Konferenz", so der frühere Leiter der 1992 installierten Gedenkstätte in der Wannsee-Villa, Hans-Christian Jasch, "sollte Heydrich dazu dienen, Konsens zu erzielen und Konflikte geradezuziehen. Dass er letztendlich mit der Villa bei der zweiten Einladung ein neues Setting wählte, hat den Grund, dass er die anderen Teilnehmer entsprechend beeindrucken wollte." Die luxuriöse Villa in Seelage, vormals im Besitz des wegen Betrugs inhaftierten Finanzspekulanten und NSDAP-Förderers Friedrich Minoux, mit ihrer spektakulären Auffahrt, dem Park, der Zimmerflucht, dem Billardzimmer sowie dem Wintergarten samt Marmorbrunnen und der dreigeschossigen Terrassenanlage, stand freilich nicht direkt im Besitz von Heydrich. Sie gehörte jener Nordhav-Stiftung, die Häuser als Erholungsstätten "für die Angehörigen des Reichssicherheitsdienstes SS sowie deren Familien" akquirierte. Dennoch gebärdete er sich wie der Hausherr. Das Anwesen diente ihm bei seinen Berlin-Aufenthalten als Dienstresidenz; die restliche Zeit war sie Unterkunft für SSler, die, wie man einem Mitteilungsblatt des RSHA entnehmen konnte, "das Gästehaus" immer wieder durch "alkoholische Exzesse entfremdeten". Rund um die Wannsee-Villa hatten Dynastien wie die Langenscheidts, die Springers und die Siemens' ihre Sommerresidenzen; in unmittelbarer Nachbarschaft befand sich die Villa des deutschen Impressionisten Max Liebermann, der nach seinem erzwungenen Rücktritt als Rektor der Berliner Kunstakademie starb und dessen Witwe die Residenz zu einem Spottpreis der "Reichspost" verkaufen musste. Das ihr wenig später zugestellte Deportationsschreiben trieb sie in den Selbstmord.

Bei dem Mittagstreffen an jenem Jänner-Dienstag im Jahr 1942 wurde nur mäßig Alkohol getrunken. Es ging "sehr ruhig, sehr höflich und sehr artig und nett zu", wie Eichmann seinem Verhör-Offizier Avner Less bei seinem Prozess in Jerusalem 1960 versicherte, "es werden nicht viele Worte gemacht, es dauert auch nicht lange, und es wird ein Cognac gereicht durch die Ordonnanzen, und dann ist die Sache eben vorbei. So ungefähr spielte sich die Wannseekonferenz ab." Heydrich, ansonsten "pedantisch" und manchmal kein angenehmer Chef, sei in "strahlender" Laune gewesen, er habe sich mehr Widerstand erwartet. Seinen mörderischen Höhenrausch konnte er allerdings nur kurz ausleben: Nur vier Monate später, im Mai 1942, wurde der SS-Capo in einer Haarnadelkurve bei Prag von zwei Fallschirmspringern aus dem tschechischen Widerstand in seinem offenen Mercedes-Benz zuerst angeschossen und dann mit einer Granate getötet.

Eichmann „nicht der ideale Zeuge“

Möglicherweise war Adolf Eichmann, wie der Historiker Longerich feststellt, „nicht der ideale Zeuge“, aber er war der einzig brauchbare, da er auch detailreich über die Hintergründe und die Atmosphäre zu erzählen wusste. Aber natürlich sind Eichmanns Berichte in ihrer Tonart ganz auf sein Gegenüber abgestimmt. Während er sich in den Hunderten Stunden, die Less ihn vor seinem Todesurteil 1962 in Jerusalem vernahm, als „Hanswurst“, „kleiner Referent“ und „Befehlsempfänger“ zu inszenieren versuchte, der während der „abscheulichen Konferenz“ „am Katzentisch saß und Bleistifte spitzte“ und der Stenotypistin „ein Brötchen, eingewickelt in ein Stenopapier, brachte“, hatte der ehemalige SS-Obersturmbannführer und Leiter des Judenreferats Eichmann, der seine Kindheit in Linz verbracht hatte, in den Tonbandprotokollen von Buenos Aires noch ganz andere Töne angeschlagen.

Zu den Interviews mit Willem Sassen, einem niederländischen Journalisten und ehemaligen SS-Offizier, war Eichmann zwischen 1956 und 1959 mehrfach in dessen Wohnhaus in Buenos Aires gekommen, wo immer wieder Treffen von unter falschen Identitäten in Argentinien lebenden hochrangigen Ex-Nazis stattfanden. Eichmann lebte seit 1950 mit seiner Familie in Buenos Aires und arbeitete u. a. bei Mercedes-Benz. Gegenüber Sassen sprach Eichmann zum Entsetzen der anderen Anwesenden ins Mikrofon: „Hätten wir von den 10,3 Millionen Juden, die Korherr (Richard Korherr, der Statistiker der „Endlösung“, Anm.) ausgewiesen hat, 10,3 Millionen getötet, dann wäre ich befriedigt und würde sagen, gut, wir haben einen Feind vernichtet.“

Auf einem der insgesamt 67 Tonbänder schildert Eichmann auch den „gemütlichen“ Ausklang der Wannseekonferenz am Kamin, den er nach der Abreise der anderen Teilnehmer noch mit seinem Chef Heydrich und dem Gestapo-Boss Heinrich Müller verbrachte: „Da habe ich Heydrich auch zum ersten Mal rauchen sehen, Zigarre oder Zigarette … und was ich nie sah: er trank Cognac, das habe ich jahrelang nicht gesehen, dass der irgendein alkoholisches Getränk trank … So saßen wir also friedlich zusammen, nicht um zu fachsimpeln, sondern um uns nach den langen anstrengenden Stunden der Ruhe hinzugeben.“

An anderer Stelle gibt Eichmann mit einer scharfen Charakterisierung der Wannsee-Teilnehmer auch eine Art Selbstanalyse ab: „Es waren in Wahrheit doch alles kleine, billige, armselige Geister ohne jeden Charakter, denen lediglich das Lametta ihrer hohen Dienstgrade (…) in den Tagen ihres Glanzes das nötige Auftreten verlieh.“

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort