Fußballplatz
Essay

„Normale Kartoffeln auf die 1“

Wieso fühlen wir bei der EM so mit? Was hat das mit Social Media zu tun? Und warum sind uns die Deutschen plötzlich sympathisch?
Eva  Sager

Von Eva Sager

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Man liebt es, oder man hasst es. Das sagen Menschen meistens über Dinge, zu denen in Wirklichkeit keiner eine Meinung hat. Die niemand hasst oder liebt, die einfach nur da sind. Matcha Latte und Spinning gehören da dazu. Oder Luxemburg. Fußball war davon die beständige Ausnahme. Das hat noch richtig polarisiert; auf der einen Seite grölende Fans, die Bier werfen, wenn jemand ein Tor schießt, auf der anderen der Widerpart, mit absolutem Unverständnis und gehässigen Kommentaren. Irgendwie hat man sich so ein Szenario auch für die heurige Männer-Europameisterschaft erwartet. Streitereien, wie laut der Fernseher im Gastgarten sein soll, ob man die Geburtstagsfeier wirklich auf den Tag des Eröffnungsspiels legen muss. Das Derby: „United by Football“ vs. „United by not liking Football“. Aber die prognostizierte Konfrontation ist ausgeblieben. Stattdessen hat man das Gefühl, auf Public Viewing und Büro-EM-Tippspiele können sich dieses Mal alle einigen. Was ist anders? 

Ein Hoch auf die kollektive Sensation!

Endlich ist wieder etwas los! Nun hat es in den letzten Jahren wahrlich nicht an Ausnahmesituationen gemangelt – wir erinnern uns, globale Krisen, internationale Phänomene, die ganze Kiste mit Corona. Erlebt haben wir vieles davon aber individueller denn je. Seit sich ein großer Teil unserer Realität auf Social Media abspielt, ist unsere Welt größer und gleichzeitig kleiner geworden. Stichwort Filterblasen. Zum einen bestimmen Algorithmen, welche Inhalte wir sehen, ob als nächstes ein Hunde- oder Kriegsvideo auf der Startseite auftaucht. Zum anderen gibt es durch die Masse an Content keine Leitschranken mehr. Auf Netflix entscheidet man selbst, welche Serie als nächstes kommt, auf Spotify sucht man sich genau den Podcast aus, den man hören will. 

Der „Wetten dass..?“-Abend ist Geschichte. Das „eine“ Event, über das am nächsten Tag garantiert alle reden werden, ist selten geworden. Aber es gibt sie noch und sie werden  dementsprechend zelebriert. Dabei ist am Ende fast egal, ob man im Gastgarten die EM oder den Eurovision Song Contest schaut, ob der Hype natürlich gewachsen ist oder eine ausgeklügelte  Marketingstrategie dahinter steht. Es geht schlichtweg um die kollektive Sensation, um die Momente, in denen man sich gegenseitig endlich wieder bestätigen kann: Ja, ich bin da und ihr alle seid es auch!

Das sind ja unsere Burschen!

Was den Hype verstärkt: Der Auftritt der Fußballverbände in den Sozialen Medien hat sich stark verändert. Das sieht man besonders auf der Videoplattform TikTok. Fast jede Nationalmannschaft, die heuer bei der EM mit dabei ist, hat einen Account, einzelne Fußballspieler ebenfalls. Besonders gut gehen Videos, die recht einfach produziert sind. Solche, bei denen man das Gefühl hat, sie stammen eher von einem Elfjährigen, der eine Klassenfahrt für seine vier Follower mitfilmt, als von millionenschweren Fußball-Verbänden. Die Devise: Je banaler und ehrlicher, desto besser. Ein Video vom deutschen Mittelfeldspieler Florian Wirtz, in dem er Kartoffelgerichte rankt, hat über sechs Million Aufrufe. „Normale Kartoffel auf die 1“ sagt er da. Fast zwei Millionen gibt es für einen Ausflug von Deutschland-Verteidiger David Raum mit Mannschaftskollegen Joshua Kimmich ins Gartencenter. Sie kaufen einen Baum. In der Videobeschreibung unter einem DFB-Video, in dem sich Spieler gegenseitig einen Fußball über ein Schwimmbecken zuschießen, steht: „Hallo, hier ist der TikTok Admin und ich wurde gezwungen zu schreiben, dass dies der erste Versuch war (das behind-the-scenes Material geht eine halbe Stunde)“. Oft filmen sich die Fußballer selbst, gefühlt so ganz nebenbei.

Das hilft. Es überwindet die Distanz zwischen uns und den Spielern, die durch Millionen-Transfers, entstanden ist. Auf einmal sind diese Fußballer wieder echte Menschen, die Kartoffeln essen und Bäume gut finden. Und wir kennen sie wirklich, schließlich waren wir mit im Gartencenter.

Der Stereotyp-Bonus

Beobachten lässt sich auch, dass die einzelnen Accounts der Nationalmannschaften bewusst mit Länder-Klischees spielen. Die Engländer trinken Tee, die Deutschen machen Kreuzworträtsel, die Österreicher radeln schneller, wenn es Schnitzel gibt. Es sind recht unverfängliche Stereotype, auf die man setzt. Sie heben den ganzen Social-Media-Auftritt der Nationalmannschaften aber eben auf eine recht ironische Ebene – und die macht bekanntlich unangreifbar, besonders auf TikTok. Gepaart mit diesem menschlichen Auftreten der Nationalspieler, dieser parasozialen Beziehung, hat sich ein ganz neues „Wir“-Gefühl entwickelt. Irgendwie fühlt man sich hier, in dieser kollektiven Erfahrung, die es so selten gibt, zwischen Schnitzel-Stereotypen und Kartoffeln endlich wieder zugehörig. 

Normale Kartoffeln auf die 1.

Florian Wirtz

Deutscher Fußballspieler

Die Deutschen haben das recht schnell verstanden. Maultaschen, übertriebener Ehrgeiz beim Playstation spielen, Anstehen für einen Döner, Fahrrad fahren. Das macht die ganze Mannschaft außerordentlich sympathisch. „Es ist halt einfach wie eine Klassenfahrt haha“, kommentiert jemand unter einem Video. Oder: „Dieses Team macht einfach wieder Spaß“. Dieser eine Spruch: Man liebt sie, oder man hasst sie, der passt also auch hier nicht mehr so ganz. Oder wie Florian Wirtz sagen würde: „Normale Kartoffeln auf die 1“

Eva  Sager

Eva Sager

seit November 2023 im Digitalteam. Schreibt über Gesellschaft und Gegenwart.