Kolumnist Axel Hacke: "Politik ist nicht für alles zuständig"
Auf den ersten Blick geht Axel Hacke, 62, weißhaarig, braungebrannt, elegantes Kurzarmhemd, als Tourist durch. Er ist aber keiner. Hacke, wohnhaft in München, kennt Wien intim, dessen Menschen, Kirchen und Cafés, natürlich auch das Café Bräunerhof, in dem früher Thomas Bernhard zugange war und in das sich an diesem Hochsommertag im April nur wenige Touristen hineintrauen. Hacke traut sich, nimmt Platz und macht erst einmal ein bisschen Small Talk. Der als Kolumnist des Magazins der „Süddeutschen Zeitung“weit über Bayern hinaus berühmte Journalist und Autor („Der kleine Erziehungsberater“, „Der weiße Neger Wumbaba“) ist auf Einladung des SPÖ-Kultursprechers Thomas Drozda in Wien, um über sein jüngstes Buch zu sprechen. Es heißt „Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen“ und hat sich seit seinem Erscheinen zu einem veritablen, wenngleich ungeplanten Bestseller gemausert.
Tatsächlich verwundert der Erfolg des Buches, von dem das Kulturradio des Schweizer Rundfunks ganz richtig meinte, „dass es Selbstverständlichkeiten formuliert, die leider keine mehr sind“, gar nicht so sehr. Immerhin geht es um das entscheidende Thema der Gegenwart: den politischen Anstand, seine Abschaffung und wie das die Welt ruiniert. Hacke erkundet sein Thema essayistisch, denkt über Lügen im Netz nach und über Aggression auf dem Zebrastreifen, über Trump und die AfD und die Möglichkeit, dass die liberalen Demokratien tatsächlich am Ende sind. Der Autor bestellt Mineralwasser (prickelnd) und lehnt sich zurück.
profil: Sie leben im Münchner Glockenbachviertel, einem beliebten Zufluchtsort der Bioladen-Bohème. Stimmt der Vorwurf, das linksalternative Bürgertum habe es sich in seiner Wohlfühlblase zu gemütlich gemacht? Hacke: Natürlich ist es ein Problem, dass viele Leute nur noch in ihren Bezugsräumen leben und von der Außenwelt nicht mehr sehr viel mitbekommen. Das gilt aber nicht nur für Linksalternative, sondern auch für die Rechten, die sich auf Facebook mit Lügen berieseln lassen. Jeder Mensch lebt notgedrungen in einer Blase. Seine Kontaktmöglichkeiten sind nicht unendlich. Das ist im Grunde auch kein Problem. Es kommt nur darauf an, dass man es weiß. profil: Nur haben sich die Menschen in den Glockenbachvierteln dieser Welt über die Jahre doch ein gewisses moralisches Überlegenheitsgefühl antrainiert. Hacke: Ich weiß gar nicht so genau, was diese Leute denken. Aber es stimmt, es gibt ein Milieu, das andere Leute von oben beurteilt, ohne deren Lebenswirklichkeit zu kennen. Das sind dann Menschen, die alle Flüchtlinge herzlich willkommen heißen, ihre Kinder aber in eine Schule mit niedrigem Ausländeranteil schicken. Bei mir im Viertel gibt es Kinder, die mit dem Schulbus jeden Morgen zur Privatschule an den Starnberger See gefahren werden. Das ist dann schon ein wenig absurd.
Es ist sehr bequem, alles auf die Politik abzuwälzen.
profil: Wie könnten aus diesen Blasen wieder kommunizierende Gefäße werden? Hacke: Das ist nicht ganz leicht. Der wichtigste Punkt bleibt, sich klarzumachen, dass andere Menschen echte, ganz pragmatische Probleme haben. Das ist gedanklich nicht besonders schwer, aber man ist schon einen ganzen Schritt weiter. Ich finde es in diesem Zusammenhang übrigens sehr bedauerlich, dass die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft wurde. Ich trauere dem Wehrdienst als solchem nicht hinterher. Aber er hat einen klassen- und schichtenübergreifenden Kontakt geschaffen. profil: Der gemeinsame Drill als gesellschaftlicher Kitt? Hacke: Ja. Wobei es nicht um den Drill geht. Aber dieser soziale Klebstoff fehlt heute auch in vielen anderen Bereichen. Als ich Journalist wurde, ging man noch jeden Tag in die Setzerei. Da arbeiteten Leute, die kein Abitur hatten, aber vieles sehr viel besser wussten als man selbst. Das war sehr lehrreich. Diese Dinge fallen in unserer so säuberlich separierten Gesellschaft weg. Das ist ein großes Problem. Ich habe keine Lösung dafür. profil: Die Politik offenbar auch nicht. Hacke: Politiker können nicht alles schaffen, weil Politik nicht für alles zuständig ist. Das müssen schon wir selber machen. Es ist sehr bequem, alles auf die Politik abzuwälzen. Jedem steht es frei, sich zu engagieren – oder in den Sportverein zu gehen. Noch so ein Thema: Früher hatte man dort Kontakt zu Leuten, die anders strukturiert waren als man selbst. Heute ist auch das separiert. Jede Schicht hat ihre Sportarten.
profil: Die einen spielen Golf, die anderen gehen boxen? Hacke: Oder gleich ins Fitnesscenter, wo dann wirklich jeder ganz für sich ist. Das ist auch sehr charakteristisch für unsere Gesellschaft: dass man Dinge allein macht, die man früher mit anderen gemacht hätte. Instanzen, die früher eine Gesellschaft zusammengehalten haben, zerbröseln – Gewerkschaften, Parteien, Sportvereine, Freiwillige Feuerwehren. Und wir haben keinen Ersatz dafür. profil: Wenn Sie von fehlender Solidarität, Gerechtigkeit und Internationalität schreiben, klingt das wie: Die Welt müsste bloß sozialdemokratischer werden. Warum wird sie es eigentlich nicht? Hacke: Tatsächlich beschreiben wir ein Problem, das wie gemacht scheint für die SPD oder die SPÖ. Aber diese Parteien finden für dieses Problem keine Lösung. Weil ihre linksliberale, städtische Führungsschicht keinen Zugang mehr zu ihrer klassischen Klientel findet, die deshalb sukzessive abwandert, in Deutschland zur AfD, in Österreich zur FPÖ. profil: Was versprechen sich die Leute eigentlich davon? Ist es ganz einfach die Devise: Mehr Geld für unsere Leut’? Hacke: Den Leuten ist nicht mit Geld geholfen. Sie fühlen sich auf einer kulturellen Ebene nicht mehr heimisch, nicht mehr ernst genommen. Sie haben das Gefühl, sie dürfen nicht mehr so reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, weil eine politisch unkorrekte Äußerung schon das Ende jeder Karriere bedeutet. Dieser Probleme werden die sozialdemokratischen Parteien nicht mehr Herr, und zwar nie mehr. An ihre Stelle müssen andere Parteien oder Bewegungen treten.
Wenn es Kurz ausreicht, mit Leuten zu regieren, die nicht kriminell sind, finde ich das schon relativ dürftig.
profil: Etwa nach dem Muster von Emmanuel Macron in Frankreich? Hacke: Macron hat eine völlig neue Partei geschaffen – auf einer sehr vernünftigen Basis, mit einer klaren Geschichte und einem definierten Ziel, das die Menschen begeistert. Die Sozialdemokraten dagegen haben keine gemeinsame Geschichte anzubieten. Menschen brauchen aber ein gemeinsames Ziel. Das hatte die SPD ganz lange, nämlich das Ziel, einen friedlichen, wohlhabenden Staat aufzubauen. Offenbar reicht das heute nicht mehr. profil: Gleichzeitig scheint der soziale Frieden in Gefahr zu sein. Lässt sich der Hass, der aus den Kommentarspalten und sozialen Netzen immer mehr auch in den Alltag drängt, irgendwie eindämmen? Hacke: Er wird nicht einfach wieder verschwinden. Aber so kann es wirklich nicht weitergehen. Aus diesem Gefühl heraus habe ich auch dieses Buch geschrieben. Was wir bei der AfD erleben, sind Umgangsformen, die indiskutabel sind. Das ist eine Verrohung der Gesellschaft, eine Verrohung der Herzen. Das führt zu nichts, außer zur Gewalt. profil: Mit Blick auf antisemitische Vorfälle bei seinem Koalitionspartner hat Bundeskanzler Sebastian Kurz erklärt, für ihn sei die rote Linie das Strafgesetzbuch. Hacke: Wenn es ihm ausreicht, mit Leuten zu regieren, die nicht kriminell sind, finde ich das schon relativ dürftig. Mir würde es nicht reichen. Der Mann ist offenbar ein Opportunist. Aber man sollte auch nicht zu viel Zeit dafür aufwenden, sich mit jeder Äußerung von Rechtsextremen zu befassen, weil das oft einfach Zeitvergeudung ist. Das ist ja auch deren Ziel: die Welt derart mit Mist zuzuschütten, dass man gar nicht mehr dazu kommt, über die eigentlich wichtigen Dinge nachzudenken.
profil: Wobei heute ja häufig schon die Fakten an sich umstritten sind. Hacke: Das ist ein Ziel der neuen Rechten: Lügen so offensiv zu vertreten, dass die Leute das Gefühl bekommen, sie können nicht mehr zwischen Wahr und Falsch unterscheiden. Diese Grenze wird systematisch verwischt. Die sozialen Medien machen das ja auch sehr einfach. Fake News reisen auf Twitter schneller als die Wahrheit. Ich glaube, dass wir uns ernsthaft mit der Frage beschäftigen müssen, was die sozialen Medien für unsere Demokratien bedeuten. profil: Sind diese denn ernsthaft bedroht? Hacke: Ich halte es für eine reale Gefahr, dass sie zersetzt werden. Instanzen, denen es um die Wahrheit geht, werden geschwächt und ruiniert. Wer ein autokratisches System errichten will, nimmt sich zuerst die freien Medien und die Justiz vor. Beide sind Instanzen, die in einer Demokratie dem Zugriff der Regierenden entzogen sind. Ich glaube wirklich, dass uns ein existenzieller Kampf um die Demokratie bevorsteht. profil: Was raten Sie, ganz konkret, für den Umgang mit aufgebrachten Wutbürgern? Zurückbrüllen? Hacke: Ich würde mich erst einmal nicht auf das Niveau einlassen. Man muss bei sich bleiben, authentisch sein. Trotzdem muss man sehr deutlich und klar sein. profil: Die rote Linie noch vor dem Strafrecht ziehen? Hacke: Man muss sie vor allem auch verteidigen. Man muss sehr selbstbewusst sein, sehr klar einstehen für das, was man für richtig hält. Dazu muss man nicht jeden AfD-Wähler als Nazi beschimpfen. Man kann ihm auch ein gewisses Interesse entgegenbringen, ihn ernsthaft fragen: Was bewegt dich? Nicht jeder ist für die Globalisierung gemacht. Ein Staat ist auch dazu da, den Menschen Sicherheit zu vermitteln. Man tut nichts Gutes, wenn man den Menschen Statistiken um die Ohren schlägt, wonach die Kriminalität gesunken ist. Diese Statistiken stimmen, aber sie entsprechen nicht dem Lebensgefühl dieser Leute. Man sollte vom Beschallungsmodus in den Fragemodus übergehen. Auch einmal selbst etwas dazulernen zu wollen, ist, glaube ich, ganz nützlich.
Axel Hacke: Über den Anstand in schwiergen Zeiten … Kunstmann, 192 S., 18,60 EUR
Interview: Sebastian Hofer