Fußball-Kolumne

Was ist mit dem österreichischen Fußball los?

Die österreichische Bundesliga zählt derzeit zu den zehn besten Ligen Europas. Dafür war ein radikaler Mentalitätswechsel nötig – von ängstlich auf mutig.

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Österreichischer Fußball konnte eine Zeit lang recht schnell beschrieben werden: Ängstliche Spieler verbarrikadieren sich vor dem eigenen Tor und stottern nach der Abfuhr von "internationalem Niveau". Große Erfolge wurden in den 1990er-Jahren gefeiert: Rapid Wien mit dem blutverschmierten Jancker, Austria Salzburg mit dem langhaarigen Pfeifenberger, Sturm Graz mit einem "magischen Dreieck". Die Neunzigerjahre waren voll heroischer Europacupschlachten. Doch danach trauten sich Österreicher immer öfter immer weniger zu und taten, was man hierzulande gerne tut: die Vergangenheit verklären und die Zukunft bejammern, in der ein kleines Land wie Österreich nichts zu melden hätte.

Tatsächliche geht die Schere zwischen Groß und Klein, zwischen Arm und Reich im internationalen Fußball trotz Corona immer weiter auseinander. Ein kleines Fußballland hat es tatsächlich nicht leicht. Doch unerwartet begann sich der österreichische Kick zu wehren: nicht bloß mit biederem Kampf, sondern mit giftigem Spiel. Die UEFA-Klubrangliste, in der Österreich auf dem zehnten Platz rangiert, ist ein Beleg des Mentalitätswechsels.

Der Kulturwandel manifestiert sich häppchenweise. Der LASK fegte Sporting Lissabon mit 4:1 vom Platz, dominierte den englischen Tabellenführer Tottenham beim 3:3, hatte gestern mit dem bulgarischen Meister auswärts keinerlei Probleme. Von Salzburg ist man mutige Auftritte gewohnt: mittlerweile spielt die Mannschaft gar gegen Liverpool oder Atletico Madrid auf Augenhöhe. Manchmal wirkt die Herangehensweise beinahe surreal: Früher hätte der spanische Tabellenführer gegen den österreichischen Tabellenzweiten so druckvoll gespielt wie aktuell der österreichische Tabellenzweite gegen den spanischen Tabellenführer. Was niemand erwarten konnte: Der kleine Wolfsberger AC, 8 Millionen Jahresbudget, schaffte gestern den Aufstieg ins Europa League-Sechzehntelfinale – nach Siegen gegen Feyenoord Rotterdam – darunter das 4:1 (!) auswärts – und bei CSKA Moskau. (Hatte Teamchef Foda nicht betont, dass die Spieler aufgrund der außergewöhnlich hohen Belastung derzeit allesamt außergewöhnlich müde seien? Jene von Salzburg, dem LASK und WAC offenbar nicht.)

Salzburg gilt als heimlicher Verführer der neuen Riege mutiger Österreicher. Das Draufgängertum passt auch dem LASK und dem Wolfsberger AC. Die drei eint die Vorliebe für hohes Attackieren (oft steht die gesamte Mannschaft in der Hälfte des Gegners) angriffiges Spiel und durchdachte Spielzüge. Kurz gesagt: Man will den Gegner über den Platz jagen – egal ob der Ludogorez Rasgrad oder Bayern München heißt. Das mutige Spiel ist dabei oft weniger riskant als ein abwartender Ansatz. Die Idee dahinter: So lange man den Gegner vom eigenen Tor fernhält, kann dieser kein Tor schießen – man selbst aber schon.

Doch es gibt auch Kritik: Oft wurde den Salzburgern in der Champions League ein zu offensives Spiel vorgeworfen, das die Defensive vernachlässige – ohne einzubeziehen, dass die Österreicher gegen die Besten der Welt spielen. Ein Defensivproblem hatte Salzburg tatsächlich (unter Marco Rose funktionierte die Abstimmung zwischen Defensive und Offensive besser, Jesse Marsch pflegt einen radikaleren Pressing-Ansatz); doch seit dem Auswärtsspiel in München, dem das Spiel in Moskau und nun die Partie gegen Atletico folgte, scheint die Feinmechanik korrigiert. Wenngleich kritische Stimmen bleiben: Salzburg müsse defensiver spielen um auch Spitzenteams biegen zu könne, heißt es. Was dabei vergessen wird: Salzburg bringt sich ausschließlich durch die mutige Spielweise auf Augenhöhe mit dem spanischen Tabellenführer und mit den Champions League-Siegern Bayern München und  FC Liverpool. Sogar Sky-Analytiker Andreas Herzog merkte an, dass mehr Verteidigen nicht den gewünschten Erfolg bringen würde. Dann würde wohl statt 3:4 in Liverpool mit 0:5 verloren werden.

Österreichs Klubfußball hat sich in den letzten Jahren mit mutigem Fußball in Spitzenregionen vorgepirscht. Renommierte Fußballnationen wie Schottland, Griechenland, Ukraine, Türkei, Dänemark, Schweiz, Tschechien, Rumänien, Schweden, Norwegen liegen abgeschlagen hinter der einst als „operettenhaft“ verschmähten Bundesliga. Belgien, Holland und Russland (Plätze 9 bis 7) sind dagegen in Reichweite. Der zehnte Platz ist mutigem Fußball geschuldet. In den letzten Jahren erspielten Salzburg, Linz und Wolfsberg damit den Großteil der Punkte.

Atletico Madrid-Coach Diego Simeone verglich das Spiel gegen Salzburg mit dem Vorjahres-Kracher zwischen Atletico und Liverpool. Man hatte gar so viel Respekt vor den Österreichern, dass man wie gegen den englischen Champions League-Sieger agierte: mit neunzigminütigem Verteidigen. Salzburg verlor das Spiel gegen den spanischen Tabellenführer zwar, weil man viele Chancen vergab und zwei Tore kassierte, aber der ideelle Wert solcher Spiele ist hoch. 14 der 16 Champions League-Aufsteiger kommen aus den besten vier Ligen Europas (Spanien, England, Deutschland, Italien); die zwei Außenseiter heißen in diesem erlauchten Kreis FC Porto und Paris SG. Salzburg hätte mit etwas mehr Kaltschnäuzigkeit bei der Chancenverwertung in diese Eliterunde aufsteigen können. Alleine die, durch mutigen und druckvollen Powerfußball geschaffene, ernsthafte Möglichkeit dazu, verdient Beachtung – im Frühjahr spielt Salzburg in der Europa League weiter.

Die Kreativwerkstätten der Bundesliga sind weiterhin nicht satt. Immer mehr heimische Klubs entwickeln ihr Spiel und nützen ihre im europäischen Vergleich vergleichsweise geringen finanziellen Mittel effizient und klug. Der LASK versucht gerade neben dem Offensiv-Pressing auch Dominanz in Ballbesitzphasen zu entwickeln, um für Gegner schwer berechenbar zu bleiben. Wie Salzburg verfolgt man in Linz die Strategie, möglichst oft vor dem gegnerischen Tor aufzutauchen – um die Wahrscheinlichkeit eines Sieges zu erhöhen. Und: um bei zwei, drei vergebenen Chancen nicht wehklagen zu müssen. Bei Ludogorez Rasgrad lag man gestern 0:1 zurück, trotz klarer Überlegenheit. Der LASK zeigte sich ungerührt, spielte weiterhin Chance um Chancen heraus und gewann die Partie 3:1. 

Die einstigen Größen Rapid, Austria und Sturm können sich am europäischen Aufstieg des österreichischen Fußballs derzeit nicht oder im Falle von Rapid nur am Rande beteiligen. Rapid schaffte es immerhin in die Gruppenphase der Europa League, wo man gegen die Halbprofis von Dundalk zwar zwei Siege einfuhr, aber ansonsten spielerisch schwer enttäuschte. Das gestrige 2:2 gegen den norwegischen Klub Molde (24 Plätze hinter Rapid in der Klub-Rangliste, 20 Millionen weniger Spieler-Marktwert) genügte nicht zum Aufstieg. Der Auftritt reiche „international nicht aus“, erklärte Trainer Dietmar Kühbauer.

Vielsagender war Rapid-Spieler Thorsten Schick, der nach dem Spiel die Herangehensweise erklärte: „Wir haben in der Pause gesagt, wir dürfen unbedingt kein Tor bekommen“. Der wenig mutige Ansatz rächte sich: Rapid kassierte kurz nach Wiederanpfiff das spielentscheidende 1:2.

Gerald Gossmann

Gerald Gossmann

Freier Journalist. Schreibt seit 2015 für profil kritisch und hintergründig über Fußball.