Was tun mit den Kindern? Ein Tipp: Chill dein Baby!
Geht es um Kindererziehung, schwappen die Emotionen schnell hoch. Ein neues Buch will allzu neurotische, überbesorgte oder verunsicherte Eltern entlasten und ihnen mehr Vertrauen in die eigene Intuition geben.
Das gestresste Kind. Das an ADHS laborierende Kind. Das Kind, das nicht mehr schlafen kann. Das unterforderte Kind. Das überförderte Kind. Das Kind, das sich nie mehr langweilen soll. Das Kleinkind, das digital schon derart kontaminiert ist, dass es zum Fenster läuft, um es mit Wischgesten zu neuen Bildern zu bewegen. Das Schrei-Baby. Das sozial isolierte Kind. Das Kind, das aus Angst nicht mehr in die Schule gehen will. Das Kind, das sich scheut, mit anderen zu spielen – und „wahrscheinlich“ im autistischen Spektrum anzusiedeln ist. Das Kind, das völlig erratisch in Wutausbrüche explodiert. Das Kind, dem zu früh zu viel Erwachsensein zugemutet wird. Das Kind, das sich ständig selbst abwertet und von seinem Minderwertigkeitskomplex fast verschluckt wird. Das narzisstische Kind, um das die gesamte Bezugspersonen-Entourage wie um ein goldenes Kälblein tanzt.
Glaubt man der Fachliteratur, der Populärpsychologie und den üblichen Diskussionsforen: So viele verhaltensauffällige oder, vorsichtiger formuliert, „verhaltensoriginelle“ Kinder wie heute gab es noch nie.
Tatsächlich konfrontiert einen die Populärwissenschaft mit ihren Rat- und Ezzesgebern im Dauermodus mit pädagogischen Problemfeldern, derer sich viele Eltern gar nicht bewusst waren. Womit ein Paradoxon in Kraft tritt, das verlässliche Entscheidungsquellen wie die elterliche Intuition immer mehr in den Hintergrund treten lässt: Je mehr und je facettenreicher der Konsum an pädagogischer Information, desto höher der Grad der pädagogischen Verunsicherung. Hand in Hand mit der Überinformation über mögliche Abweichungen werden auch inflationär Diagnosen gestellt, die Kinder, die nicht der Norm entsprechen, schnell ins Pathologische manövrieren.
Was wiederum, so der Schweizer Kinderarzt Oskar Jenni, zu „Diskriminierung und Stigmatisierung führen“ könne, andererseits auch seine Vorteile in der Betreuung habe. Aber nicht jedes Kind, das nicht lange ruhig sitzen kann, ist ein ADHS-Patient und bedarf einer täglichen Ration Ritalin.
Ganz bewusst versah Jenni, Spezialist für Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen am Universitäts-Kinderspital Zürich, sein neues Buch „Kindheit“ mit dem Untertitel „Eine Beruhigung“.
Hinter der neuen Ratgeber-Industrie, deren Geschäftsbasis auch die Verunsicherung der immer älteren Eltern ist, steckt die „geheimnisvolle Idee von der Verfertigung des perfekten Kinds“, so die US-Journalistin Katie Roiphe in ihrem Buch „Messy Lives“, „das der perfekt gehütete Schatz seiner Eltern ist“. Kinder werden tatsächlich oft als eine Art Investment begriffen, das sich rentieren muss.
Was macht Kinder glücklich?
Jenni, der Nachfolger des weltbekannten, 2020 verstorbenen Schweizer Kinderarztes Remo Largo, dessen Werke „Babyjahre“ und „Kinderjahre“ zu Klassikern avancierten, versammelte in dem privatwirtschaftlich gesponserten Thinktank „Für das Kind“ im Jahr 2018 elf Wissenschafter:innen und Experten aus den unterschiedlichsten Disziplinen wie Philosophie, Ökonomie, Bioethik, Anthropologie, Entwicklungspsychologie, klassische Pädagogik und Bildungstheorie. Über zwei Jahre lang warfen die Expert:innen ihr Wissen und ihre Erfahrungen in die gemeinsamen Diskussionen. Die Resultate wurden in dem nun erschienenen Essayband in einzelne Kapitel gegossen, um alle Facetten rund um das Thema Kindheit aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. Die Fragestellungen der einzelnen Abschnitte muten schlicht an: „Was macht Kinder glücklich?“ oder „Was sind gute Eltern?“ Doch die Antworten sind weit komplexer. Dennoch ist Botschaft des Buches klar, die Message an verunsicherte Eltern lautet verknappt so: Werft die Ratgeber aus den Regalen, entspannt euch, horcht auf eure Intuition, begreift euer Kind nicht als Projekt, das eure eigenen Sehnsüchte und Vorstellungen zu exekutieren hat. Der Philosoph Holger Baumann, Mitautor an diesem Buch, bilanziert: „Eltern fühlen sich mit der Kindererziehung manchmal alleingelassen. Gleichzeitig haben sie mehr Ressourcen und mehr Zeit, was zu einem stärkeren Bewusstsein für Probleme der Kinder führt.“
„Kinder werden heute dressiert, um besondere Leistungen zu erbringen. Das kann aus der Sicht des Kindes zu einem echten Terror werden.“
Hans-Joachim Maaz
Ähnlich wie in der Ernährungsberatung überschwemmen neue, „ultimative“ Pädagogikthesen von oft selbst ernannten Erziehungsgurus den Buchmarkt. Da rufen Traditionalisten nach mehr Autorität und Disziplin, nur um von ultraliberalen Familientherapeuten zur Räson gepfiffen zu werden, die für die frei laufende Auslebung kindlicher Aggression plädieren. Während kampfkreative Kinderpädagogen für eine Brutpflege, die mit Yoga, Ballett, Ausdruckstöpfern und Farbenweitwerfen angereichert wird, die Lanze brechen, warnen andere Psychologen vor der Überförderung des Kindes, das dadurch nur künstlich im Zustand der Hyperaktivität gehalten werde und verlerne, sich selbstständig zu erholen.
Hinter dieser Industrie, deren Geschäftsbasis auch die Verunsicherung der immer älteren Eltern ist, steckt die „geheimnisvolle Idee von der Verfertigung des perfekten Kinds“, so die US-Journalistin Katie Roiphe in ihrem Buch „Messy Lives“, „das der perfekt gehütete Schatz seiner Eltern ist“. Kinder werden tatsächlich oft als eine Art Investment begriffen, das sich rentieren muss. Da stellt sich dann auch die Frage, ob diese „aufopferungsbereiten, wohlmeinenden Eltern mit ihren Bibliotheken voller Büchern“ ihrem Kind wirklich einen Gefallen erweisen, indem sie es „von Dreck, Staub, Gewalt, Zucker, Langeweile und gemeinen Kindern, die seine Plastikdinosaurier klauen“ (so Roiphe) bewahren. Natürlich nicht. Kinder brauchen Märchen, aber auch Realität.
„Eltern fühlen sich mit der Kindererziehung manchmal alleingelassen. Gleichzeitig haben sie mehr Ressourcen und mehr Zeit, was zu einem stärkeren Bewusstsein für Probleme der Kinder führt.“
Holger Baumann
„Kinder werden heute dressiert, um besondere Leistungen zu erbringen“, sagt der deutsche Psychiater und auf Narzissmus spezialisierte Autor Hans-Joachim Maaz: „Das kann aus der Sicht des Kindes zu einem echten Terror werden.“ Materiell seien diese Kinder zwar bestens versorgt, doch auf ihre wahren Bedürfnisse werde wenig Rücksicht genommen. Tatsächlich wird in einer Zeit, in der Kinder häufig auch jenseits der Schule unter Stress gesetzt werden, auch bei Oskar Jenni, die Langeweile und das freie, selbstbestimmte Spielen als wichtiger Erlebnisfaktor für eine gesunde Entwicklung vorausgesetzt.
Dass die Freiheit, sich ausprobieren zu können, einen Grundstock für Selbstvertrauen, Autonomie und Mut legt, beweist die Jugend von Barack Obama. „Barry“, Sohn einer alleinerziehenden Mutter und praktizierenden Anthropologin, übte sich schon früh in Erlebnisautonomie. Er durchstreifte ganz auf sich allein gestellt das Straßenleben von Jakarta, während seine Mutter sich der Erforschung indonesischer Stammesrituale widmete. Mit 13 entschied er sich dafür, bei seinen Großeltern auf Hawaii zu leben. „Er ist ein Paradebeispiel dafür, dass Kinder, denen man viel zutraut, auch zu Großem fähig sind“, meinte die Obama-Biografin Janny Scott: „Er lernte einfach sehr früh, furchtlos Verantwortung zu übernehmen, was ihn in seinem späteren Leben festigte.“
Mehr Pippi wagen
Eines der berühmtesten Kinderbücher der Welt, Astrid Lindgrens „Pippi Langstrumpf“, ist tatsächlich ein Plädoyer für Individualismus, Freiheit und kindliche Selbstbestimmung. „Sei mehr Pippi und weniger Annika“, lautet ein beliebter, im Netz kursierender Spruch, der die Konfrontation zwischen Anarchie und Angepasstheit, Fantasie und dem Willen, der Norm zu entsprechen, zwischen Selbstbestimmung und Autorität symbolisiert. Eltern sollten lernen, mehr Pippi zu sein. Der Grundgedanke von Jennis weltbekanntem Vorgänger Remo Largo war es, das Kind als einzigartiges Individuum zu begreifen, das nicht der Norm angepasst werden muss, und stattdessen lieber Voraussetzungen für dessen Bedürfnisse zu schaffen. In einem Interview offenbarte Largo einmal sein Erfolgsgeheimnis: „Am häufigsten höre ich von Pädagogen und Eltern, die Lektüre meiner Bücher habe sie entspannt. Es ist sicherlich beruhigend, zu erfahren, dass der Umgang mit Kindern im Grunde einfach ist und man fast alles richtig machen kann.“