Wie aus Amir ein U-Boot wurde
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Von Nunu Kaller
Amir, 24, hat als Bodyguard für den ehemaligen Präsidenten Afghanistans Aschraf Ghani gearbeitet. Als die Taliban im August 2021 die Macht übernahmen, schwebte er-wie so viele seiner Kollegen im Sicherheitsbereich-in Lebensgefahr. Ghani, sein Boss, war in die Vereinigten Arabischen Emirate geflohen. Fortan musste Amir nicht ihn, sondern sich selbst beschützen. Die Taliban statteten ihm in der Arbeit einen Besuch ab und schlugen so fest in sein Gesicht, dass sein Vorderzahn zerbrach. Amir ergriff die Flucht. Das Ziel war Wien, wo seine Schwester seit 2016 mit ihrer Familie lebt. Er floh über den Iran, die Türkei, Serbien und Ungarn und kam am 6. Oktober an der ungarisch-österreichischen Grenze an. Nach den Strapazen, die er auf der Flucht erlebte, kann es sich beim Asylantrag nur noch um ein Kinderspiel handeln. Das dachten wir damals-und irrten uns. Amir wurde von der Polizei aufgegriffen. Sie nahmen seine Daten auf, ihm das Handy ab, führten ihn nach Wien und erklärten: Er müsse nach Innsbruck.
Amir wollte aber nach Wien-um nach sechs Jahren seine Schwester wiedersehen zu können. Und da kommen wir ins Spiel. Wir, das sind mein Bruder Werner Kaller und ich. Wir sind seit Jahren mit der Familie von Amirs Schwester befreundet und helfen in Sachen Bürokratie. Dass Amirs Fall ein derartiger Spießrutenlauf werden würde, hätten wir nicht gedacht.
Darüber, dass Geflüchtete nach Innsbruck geschickt werden, hatten wir bereits Dinge gelesen, die uns misstrauisch machten: Es mangelt an Infrastruktur für die Unterbringung, Flüchtlinge würden um Essen und warme Kleidung betteln. Werner und Amir gingen am 17. Oktober in Wien zur Fremdenpolizei, führten ein Erstaufnahmegespräch und erklärten die Situation. Die Beamten reagierten sehr verständnisvoll, allerdings läge die Unterbringung nicht in ihrem Bereich. Sie riefen in Traiskirchen bei der sogenannten Erstaufnahmestelle Ost an, eine ehemalige Kadettenschule, in der Geflüchtete unterkommen und die vom Innenministerium verwaltet wird. Die Antwort: Amir solle sich beim Verteilerquartier Schwechat, ein Container-Dorf am Flughafen, melden. Und zwar binnen 72 Stunden. Dann, so sagten sie, beginnt der Asylantrag zu laufen. Klingt einfach. War es aber nicht.
Alles, was von diesem Tag an folgte, erinnert mich an Kafkas absurden Roman "Das Schloss". Amir fuhr nach Schwechat und meldete sich wie aufgetragen am Eingang des Lagers. Dort standen bewaffnete Securitys und schickten ihn mit der Aussage, das Lager sei voll, weg. Ob er eine schriftliche Bestätigung bekommen könne, dass er da gewesen sei, fragte Amir. Die Securitys meinten, dafür sei die Polizei am Flughafen Schwechat zuständig. Die wiederum erklärten, nein, sie hätten gar nichts mit dem Lager zu tun, das sei Sache der Fremdenpolizei. Zurück in Wien, schrieb mein Bruder wieder an die Fremdenpolizei und fragte, an welches Quartier sich Amir nun wenden könne, um an seine Aufenthaltsberechtigungskarte (weiße Karte) zu kommen. Die Antwort: "Für die weitere Verfahrensführung ist nicht mehr die Polizei, sondern das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zuständig." Wir sollten wieder bei der nun zuständigen Erstaufnahmestelle Ost anrufen. Dort erklärte man uns: "Wir melden uns. "Aber für lange drei Wochen meldete sich: niemand.
Amir war nach der Flucht froh, endlich bei seiner Schwester zu sein. Sein kaputter Zahn schmerzte so, dass wir ihm eine kostenfreie Behandlung organisierten. Amir hatte bis zu dem Zeitpunkt alles getan, was ihm behördlich aufgetragen wurde, und dennoch konnte er keinen Ausweis für die Anmeldung des Wohnsitzes und die Aufnahme in die Grundsicherung bekommen. Er wurde wie eine heiße Kartoffel behandelt, die man von einer Hand in die nächste schupft, um sich ja nicht zu verbrennen. Und wir stellten uns die Frage: Wie schaffen es all die Geflüchteten, die keine autochthonen Österreicher an ihrer Seite haben, durch diesen Behörden-Wirrwarr?
Die Lösung, die uns einfiel: Das Ganze auf gut Österreichisch hocheskalieren. Und das gelang uns auch, bis zum Schreibtisch von Bundespräsident Alexander Van der Bellen. Ich schilderte die Situation seiner Abteilungsleiterin, die daraufhin die Bundesagentur für Betreuung und Unterstützungsleistungen (BBU) auf den Fall aufmerksam machte. Wieder eine neue Behörde. Falls Sie es nicht wussten: Diese untersteht dem Innenministerium und berät schutzbedürftige Menschen, die in Österreich ankommen. Menschen wie Amir also.
Die Antwort kam prompt: "Wir können Amir in unseren Datenbanken nicht finden, eventuell hat er noch keinen Asylantrag gestellt. "Als ob wir nicht genau das seit Wochen versuchen würden. Mithilfe eines in Traiskirchen in der Flüchtlingshilfe engagierten Kollegen gelang es Werner, die "Hotline" der Erstaufnahmestelle Ost herauszufinden. Zur Erinnerung: Das ist jene Behörde, die uns ganz am Anfang versprochen hatte, dass sie sich melden würde. Werner rief an, es läutete drei Mal, und dran war die Vermittlung der Polizei in Wien. Er wurde zur Vermittlung der Polizei in St. Pölten verbunden, dann zur Polizeistelle in Traiskirchen. Dort bekamen wir die Nummer des Sozialdienstes in Traiskirchen-der keinen Einfluss auf Behördenvorgänge hat.
Doch irgendwann funktionierte es endlich. Das Erstaufnahmezentrum Ost meldete sich. Amir solle kommen. Am 18. November fuhren Werner und Amir persönlich nach Traiskirchen. Dort erklärte der Portier ihnen eine Stunde, dass sie nicht rein können. Also explodierte mein Bruder Werner, was ich gut nachvollziehen kann. Der Wutausbruch war erfolgreich. Ein Beamte vor Ort beendete unsere Odyssee endlich, ließ Amir die ersehnte Aufenthaltsberechtigungskarte ausstellen und erklärte uns, warum alles so seltsam gelaufen sei: "Weil Sie nicht in Schwechat aufgetaucht sind, galten Sie als U-Boot, und so haben wir Ihren Akt geschlossen." Hätte Amir nicht Unterstützung gehabt, hätten wir das Ganze nicht bis an die höchste Stelle des Staates eskaliert, wäre er jetzt ein U-Boot. Und das, obwohl ein positiver Asylbescheid im Hinblick auf seine Fluchtgeschichte sehr wahrscheinlich ist.
Mir kann niemand mehr erzählen, dass da kein System dahintersteckt.
Übrigens: Sein Handy hat Amir nie zurückbekommen.
Hintergrund
Die Autorin Nunu Kaller kann ihren Fall mit E-Mail-Verläufen und Gedächtnisprotokollen belegen. Mit den Vorwürfen konfrontiert, schreibt das Innenministerium an profil: "Es werden hier gleich mehrere Behauptungen aufgestellt, die in dieser Form nicht der behördlichen Vorgehensweise entsprechen, und es gibt derzeit auch keine schlüssigen Indizien dafür, dass der Sachverhalt in dieser Form so stattgefunden hat." Aus der Asylkoordination hingegen heißt es auf profil-Anfrage: "Dass das so passieren könnte, steht außer Frage. Das Chaos ist gewollt. Und in den letzten Monaten wurde es schlimmer."
Nunu Kaller
geboren 1981, ist eine österreichische Publizistin und Bloggerin. Nach ihrer Tätigkeit bei der Tageszeitung "Die Presse" war sie unter anderem als Pressesprecherin für Greenpeace Österreich tätig.
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