Wie schlecht war Ihre Mutter?

Titelgeschichte. Alles, was in der angeblich intensivsten Beziehung der Welt schiefgehen kann

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Sie nannte ihn häufig „Sigi, mein Gold“ und überhöhte den Erstgeborenen gegenüber den Geschwistern auf nahezu unanständige Weise. Mit vier Jahren sah Sigmund Freud seine Mutter erstmals nackt und berichtete später davon seinem Forschungsfreund Wilhelm Fließ im Zuge seiner Selbstanalyse 1897: „Meine Libido ad matrem ist erwacht, und zwar aus Anlass der Reise mit ihr von Leipzig nach Wien, auf welcher ein gemeinsames Übernachten und die Gelegenheit, sie nudam zu sehen, vorgefallen sein muss.“

Womit der Welt der Ödipus-Komplex beschert war. Die Psychoanalyse hatte der Mutter-Sohn-Beziehung für immer die Unschuld geraubt. Seine Frau Martha soll Freud, nachdem sie ihm sechs Kinder geboren hatte, nur noch „Mutter“ genannt haben. Die überbordende Liebe seiner eigenen Mutter Amalie sah Freud selbst als Grundlage für sein wissenschaftliches „Conquistadorentemperament“. Würde man den Begründer der Psychoanalyse nach dem heutigen Erkenntnisstand beurteilen, wäre er als ein Bilderbuchfall von narzisstischer Persönlichkeitsstörung einzuordnen, deren Wurzeln in einer Übermutter mit Hang zur Eislauf-Mama liegen – einer Übermutter, die ihren hoch talentierten Sohn auch dazu missbrauchte, ihre freudlose Ehe mit dem viel älteren und finanziell bankrotten Wollhändler Jakob Freud zu kompensieren, indem sie ihn mit all ihrer Hoffnung und all ihren Sehnsüchten be- und überlastete. Selbst die ehrfurchtsvollsten Biografen skizzieren Freuds erwachsene Persönlichkeit als düsteres Land: Er gab den monomanischen Patriarchen, der all jene seiner Jünger, die Kritik und Zweifel an seinen Theorien zu formulieren wagten, auf grausame Weise „entsorgte“ und sie noch lange nach der Trennung mit biblischem Hass verfolgte.

Vertrackte Mutter-Kind-Beziehung
Freud war der Erste in der Geschichte der Seelenforschung, der nicht vor dem Tabubruch zurückschreckte, in einer vertrackten Mutter-Kind-Beziehung erhebliches Katastrophenpotenzial für die Psyche eines Menschen zu erkennen. Wie sehr Mütter das Aggressionsverhalten, die Bindungsfähigkeit, das Selbstwertgefühl, ja sogar das Körpergewicht ihrer Kinder prägen, wie sie ihre eigenen psychischen Defizite in die nächste Generation weitertragen, wird im Wochentakt weltweit auf Kongressen und in Psychiatriekliniken erforscht und mit Studienergebnissen statistisch untermauert. Erst kürzlich fand ein Forschungsteam an der University of Illinois heraus, dass die Fettleibigkeit von Erwachsenen eng mit einem „unsicheren Mutterbindungsmuster“ im Zusammenhang steht und gar nicht so sehr mit dem Ernährungsstil der Mutter. „Wenn eine Mutter ein Kind nie sorgfältig tröstet, wenn es Zorn oder Trauer zeigt, dann ist es nie in der Lage, mit solchen Gefühlen umzugehen, und sucht im Essen seinen Frust zu lindern“, so die Studienleiterin Kelly Bost.

profil sprach über die Frage, was Mütter ihren Kindern antun können, mit Experten wie dem Verhaltensforscher Kurt Kotrschal, Nachfolger von Konrad Lorenz, der französischen Philosophin Elisabeth Badinter oder der Entwicklungspsychologin, Brigitte Rollett –, um das Konfliktpotenzial Mutter-Kind aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten.

„Bei 80 Prozent meiner Klienten ist die Ursache in den frühen Bindungen zu ihren Eltern zu finden“, so der Kinder- und Jugendpsychiater Alexander Artner. Dass dabei die Mütter den Löwenanteil an Verantwortung tragen, ist keine antifeministisches Polemik, sondern statistisch nachvollziehbar. Nur vier bis sieben Prozent aller Väter nehmen eine Kurzzeitkarenz überhaupt in Anspruch. Schätzungsweise 150.000 Mütter in Österreich ziehen ihre Kinder im Alleingang auf. Dem gegenüber stehen 19.000 statistisch erfasste Solo-Väter. In Österreich bleiben die Frauen im europäischen Vergleich auch überdurchschnittlich lange in Karenz. Rund zwei Drittel der etwa 150.000 Kinderbetreuungsgeldbezieherinnen entscheiden sich für die längste, nämlich die dreijährige, Variante, zirka 28.000 für eine zweijährige Babypause. Vollzeit-Mutterschaft erfreut sich – ungeachtet der damit verbundenen Karrierenachteile – einer neuen Salonfähigkeit. Vielleicht äußert sich darin eine Art Rebellion gegen die erste Welle emanzipierter Mütter, die sich ab den 1980er-Jahren der Illusion „Ich kann alles haben, wenn ich nur will“ hingaben. Es gilt nicht mehr als uncool, mit verklärtem Blick den Nachwuchs in einem todschicken Bugaboo-Flitzer spazierenzuführen, als „Macchiato“-Mutter in den „bobofizierten“ Marktvierteln zu sitzen und seinen „Mutter-Chauvinismus“, so die US-Kolumnistin Katie Roiphe, mit gleichgesinnten Bugaboo-Lenkerinnen auszuleben ...

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Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort