Weltgeisterstunde

Wie Jürgen Habermas zum Stardenker avancierte

Philosophie. Wie Jürgen Habermas zum Stardenker avancierte

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Von Robert Misik

Er ist der berühmteste lebende Philosoph der Welt. Damit ist die Bedeutung dieses Mannes noch nicht einmal hinreichend beschrieben. Das muss man erst einmal schaffen: dass eine solche Charakterisierung noch als Untertreibung wahrgenommen werden kann.

Jürgen Habermas ist eine Institution, die Personifizierung des öffentlichen Intellektuellen. "Hegel der Bundesrepublik“ nannte ihn die Hamburger "Zeit“ einmal, was so viel heißt wie: Weltgeist in Person. Gerade ist er 85 Jahre alt geworden, dennoch ist er frisch wie eh. "Er sitzt bei Konferenzen noch immer bis zwei Uhr nachts in der Kneipe und diskutiert bis zum Abwinken“, erzählt eine Philosophen-Kollegin mit unverhohlener Bewunderung. Im Café Laumer im Frankfurter Westend, ein paar Schritte von der Goethe-Universität entfernt, wo schon der legendäre Teddy Adorno seine Torten aß und das zeitweise so etwas wie das Wohnzimmer der berühmten Frankfurter Schule war, haben sie längst schon das "Habermas-Frühstück“ auf die Karte gesetzt: Kürbiskernbrötchen, Schinken, Bio-Spiegelei, Bio-Joghurt mit Früchten.

Dabei ist gar nicht so sicher, wofür Habermas eigentlich so berühmt ist. Für seine Fachphilosophie, seine monumentalen Studien über Vernunft und Rechtsphilosophie? Für sein Hauptwerk, die Theorie des "kommunikativen Handelns“? Diese Arbeiten sind tatsächlich nur Spezialisten verständlich. Oder schätzt man ihn vor allem wegen seines mittlerweile 60 Jahren währenden Stroms an politischen Interventionen in Essays und Artikeln, wegen der zahllosen Debattenbeiträge des "Bürgers Habermas“? Aber diese wuchtigen Kommentare haben nur deshalb so viel Gewicht, weil sie mit der Autorität des Großphilosophen ausgestattet sind. Wie man es dreht, man dreht sich im Kreis: Habermas ist berühmt dafür, Habermas zu sein. Ein gerade bei Suhrkamp erschienener Biografie-Ziegel, in dem ebenso solide wie ausufernd Werkanalyse betrieben wird, belegt dies nachdrücklich.

Habermas und die Frankfurter Schule

Um das Phänomen Jürgen Habermas zu verstehen, muss man mindestens sechs Jahrzehnte weit zurückblicken. Damals trat der junge Mann in das legendäre Hamburger Institut für Sozialforschung ein und wurde Assistent von Theodor W. Adorno, dem genialen jüdischen Philosophen, Ästheten, Schriftsteller - an jenem Institut, das in den 1920er- und 1930er-Jahren in Frankfurt seine große Zeit hatte und um dessen Zentralfiguren, eben Adorno und Institutsdirektor Max Horkheimer, weltbedeutende Denker wie Walter Benjamin, Herbert Marcuse oder Siegfried Kracauer kreisten. Der Geist war unorthodox marxistisch, links und revolutionär. Die Nazi-Jahre hatte das Institut im amerikanischen Exil überdauert, um nach 1945 in die BRD zurückzuübersiedeln. Aber in den 1950er-Jahren waren die tragenden Säulen des Instituts, vor allem Horkheimer, vorsichtig geworden. Im konservativen Adenauer-Deutschland, das die Vergangenheit vergangen sein lassen wollte, mochte auch Horkheimer nicht allzu sehr anecken. Und dann kam Habermas, der Jungstar.

Adorno stärkte seinem Assistenten zwar den Rücken, aber Horkheimer war alles andere als begeistert. Der junge Linke Habermas sei "begabt“, aber voller "Eitelkeit“, schimpfte er, und dass Habermas so viel von Marx halte, gefiel ihm gar nicht. Er witzelte über den "dialektischen Herrn H.“. Ganz im Einklang mit dem antikommunistischen Zeitgeist der Nachkriegsjahre im geteilten Deutschland schimpfte Horkheimer, Habermas würde "den Geschäften der Herren im Osten Vorschub leisten“.

Trotz solch unerfreulicher Episoden legte diese Zeit aber die Basis für Habermas’ Legende: Er erschien als der Repräsentant einer neuen, jungen Generation in großer, alter Tradition. Da übernahm einer die Fackel von Horkheimer und Adorno, den großen Alten der "Kritischen Theorie“. Und wenn das auch nicht ganz falsch war, so war es doch ein halbes Missverständnis.

Habermas - ein Marxist?

Auch die Rede vom "Marxisten Habermas“ war mindestens ein halber Fehlschluss. Als einer seiner Freunde ihn erstmals einen "Neomarxisten“ nannte, war Habermas ehrlich erschrocken: Auf die Idee, einer zu sein, wäre er selbst nicht gekommen. Auch wenn er sich positiv auf die theoretischen und gesellschaftskritischen Traditionen von Marx bezog, hielt er doch nie etwas von "Glaubensbekenntnissen gegenüber einem Autor, dessen Hauptwerk ein rundes Jahrhundert zurückliegt“. Habermas war erst ein bürgerlicher Liberaler, der, wie viele junge Menschen seiner Generation (er war 15, als der Krieg zu Ende ging), Deutschland nach dem Schock der Nazi-Jahre endlich zu einer aufgeklärten Demokratie machen wollte. Er wandelte sich nach und nach zum Linkssozialisten. Und mit Studentenrevolte und Kulturrevolution der 1960er-Jahre wurde er endgültig zu einem Verbündeten der "Neuen Linken“ - aber auch zu einem Warner vor überzogenen linken Narreteien.

Der Publizist Habermas

Ins Getümmel warf sich Habermas stets gern, und er tut es bis heute lustvoll. Er sei "nicht ohne polemisches Talent“, sagte er einmal ironisch. Dabei half ihm, dass er eine journalistische Ader hat, die er einige Jahre lang perfektionierte: Ehe er von Adorno seinen ersten Job erhielt, schlug er sich mit Artikelschreiben durch. Dabei lernte er pointiertes Zuspitzen, das Thesen-Produzieren und Schlagzeilen-Dichten. "Der Publizist Habermas hat dem Wissenschaftler Habermas immer wieder zu prägnanten Formulierungen verholfen“, schrieb sein Schüler Detlev Claussen - eine Voraussetzung dafür, in einer "Kommunikationsgesellschaft Öffentlichkeit“ zu erreichen. "Eine Art Schadensabwicklung“, "Entsorgung der Vergangenheit“, "Herrschaftsfreier Diskurs“, "Die neue Unübersichtlichkeit“, "Kolonialisierung der Lebenswelt“: Dies alles sind Habermas-Formeln, die auch deshalb zu geflügelten Worten wurden, weil sie pointierte Titel waren. Der Stil des Autors Habermas ist dabei sicher kunstvoll und doch sachlich, fast technisch. Nie war seine Philosophie sprachlich so artistisch wie jene von Adorno oder so raunend wie die von Heidegger. Einen eigenen Sound besitzt er nicht. Habermas-Texte sind im engen Sinn daher auch keine "Ereignisse“.

Habermas und die Neue Linke

In den Sechzigern war Habermas jung und alt zugleich. Er war alt - immerhin ging er auf die 40 zu und war bereits Professor, also in einer anderen Lebenswelt als die rebellierenden Studenten um Rudi Dutschke. Aber er war jung genug, um sich zum Fürsprecher einer "radikalen Demokratisierung“ zu machen und sich damit auf die Seite der Studentenbewegung zu stellen. Doch als sich die Studentenbewegung radikalisierte, die staatlichen Autoritäten mit Repression reagierten, machte Habermas dies Angst. 1967 lieferte er sich nur wenige Tage, nachdem der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten bei einer Demonstration erschossen worden war, bei einer Versammlung ein öffentliches Scharmützel mit Dutschke. Dieser plädierte für revolutionäre Eskalation, Habermas warf ihm vor, eine "voluntaristische Ideologie“ zu entwickeln. "Ich war schon beim Auto“, erzählte Habermas später, aber es habe in ihm gearbeitet, also ging er zurück in den Hörsaal und sagte, er halte Dutschkes Weg für "linken Faschismus“. Später nahm er diese Formulierung zurück, aber der Vorwurf des "Linksfaschismus“ zog Habermas den Zorn seiner bisherigen Verehrer zu.

Habermas, der Philosoph

Als Philosoph galt Habermas in jener Zeit als Repräsentant der "Frankfurter Schule“, also der von Adorno und Horkheimer begründeten Geistestradition, aber er verformte und veränderte sie zusehends - zunächst fast unmerklich. Das dunkle, pessimistische Raunen, die Dialektik, die im Guten das Üble, im Fortschritt die Barbarei aufspürte, das war nichts für Habermas. Man kann das Theorie nennen oder Philosophie, aber es geht wohl mehr um Mentalität und persönliche Erfahrungen. Jede Theorie ist auf eine Emotion gestimmt, und diese Emotion hat viel mit den Persönlichkeiten ihrer jeweiligen Protagonisten zu tun. Habermas war stets habitueller Optimist. Er musste aber auch keine großen Niederlagen einstecken. Er war nie ein Verfolgter und trotz seiner Sprachbehinderung - Habermas wurde mit einer Gaumenspalte geboren - nie wirklich ein Außenseiter.

Von seinem Frühwerk, das er "Strukturwandel der Öffentlichkeit“ nannte, bis zu seiner späten Rechtsphilosophie spürte Habermas immer der Frage nach, wie ein vernünftiges, demokratisches und republikanisches Gemeinwesen strukturiert sein könnte - aber eben unter der Prämisse, dass "mehr Demokratie“ nicht nur ein frommer Wunsch, sondern eine realisierbare Option sei. Viele seiner auch fachphilosophischen Arbeiten, etwa "Wissenschaft und Technik als Ideologie“, lesen sich heute fast langweilig, aber nicht, weil sie unoriginell sind, sondern weil sie ins allgemein Bekannte, oft sogar ins Alltagswissen eingegangen sind. Dass Technologie nicht neutral oder wertfrei ist, sondern dass ihr Einsatz und Gebrauch durch herrschende Wirtschaftsformen oder schlicht "Macht“ strukturiert sind, weiß man längst. Aber eben: nicht zuletzt dank Habermas.

Habermas’ Diskursethik

Heute kleben an vielen seiner Theorien "Etiketten“, wie er das selbst einmal nannte, was durchaus zu Missverständnissen führte. Vor allem seine Kommunikationstheorie mit ihrem Idealbild des "herrschaftsfreien Diskurses“ und der Idee der idealen Sprechsituation wurde auch missverstanden: als irreale, blauäugige Gutmenschenhoffnung. Dabei ist das alles weitaus raffinierter. Was für die Marxisten "Praxis“, also "Arbeit“ und Interaktion in der Produktion, war, ist für Habermas die Kommunikation - der Modus, in der sich Menschen wechselseitig selbst und damit ihre Gesellschaft erschaffen. Aber in der sprachlichen Verständigung steckt immer die Utopie der Befreiung: Sie setzt voraus, dass man zumindest den Eindruck erweckt, dem anderen zuzuhören und Argumente zu achten. Natürlich kann man auch Unvernünftiges sagen, aber Kommunikation gibt es nicht ohne Vernunft. Wer kommuniziert, muss zumindest vorgeben, den "zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ zu akzeptieren. Wer sich auf Diskurse einlässt, muss seine Meinungen begründen.

Der Sozialkritiker auf dem Weg zum Mainstream

Der Gesellschaftskritiker, der Chancen sieht, ist in einer seltsamen Position. Deshalb, so formulierte es die "Frankfurter Allgemeine Zeitung“ jüngst, habe Habermas "auf bewundernswerte Weise in der Geistesgeschichte der Bundesrepublik Dabeisein und Dagegensein kombiniert“. Habermas war nie jemand, der beklagenswerte Zustände nur wortreich beklagte, sondern einer, der verbesserungswürdige Zustände für verbesserungsfähig hielt. Insofern kritisierte er vieles an der Nachkriegs-BRD, wurde aber gerade deshalb ihr vielleicht eminentester Repräsentant. Der Mief der Fünfziger, die autoritären Versuchungen während der Anti-Terror-Stimmung in der Hochphase der RAF-Anschläge, der Wunsch, einen Schlussstrich unter die "Vergangenheitsbewältigung“ zu ziehen: Gegen diese neokonservativen Tendenzen leistete Jürgen Habermas Widerstand. Über weite Strecken hat er diese Debatten gewonnen. Was aber auch heißt: Ein bisschen ist ihm das Objekt seiner Kritik abhanden gekommen. Habermas wurde fast Mainstream - aber nur, weil er den Mainstream mitformte.

Milde ist er deshalb nicht geworden. Ein Turbokapitalismus, der Verelendung hinnimmt; eine "entgleisende Moderne“, in der sich kaltherzige Technokratenideologie breitmacht; eine "Kolonialisierung der Lebenswelt“ durch Totalökonomisierung: Habermas kritisiert all das unermüdlich. Ein demokratisches und integriertes Europa, also eine EU, die den Sprung vorwärts vom Staatenbund zum demokratischen postnationalen Gemeinwesen neuer Art wagen sollte - dafür macht er sich mit Verve stark. "Es ist diese Reizbarkeit, die Gelehrte zu Intellektuellen macht“, sagte er einst. Später fügte er hinzu: "Der Intellektuelle muss sich aufregen können - und soll doch so viel politische Urteilskraft haben, dass er nicht überreagiert.“