Wie kann man die Hoffnung bewahren, Herr Blom?
Von Sebastian Hofer
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Im Gespräch mit Philipp Blom stößt jedes Aufnahmegerät unweigerlich an seine Grenzen. Das liegt weniger an der turbulenten Hintergrundkulisse seines Wiener Stammcafés, sondern schlicht an der Überfülle der Geschichten und Ideen, die er, bei Milchkaffee und Buttersemmel, druckreif assoziiert. Blom ist als Autor, Vortragender und Radiomoderator wohl das, was man einen public intellectual nennt. Einer, der die Großthemen der Zeit, die grundlegenden Debatten in wohlgesetzten Argumenten erläutern und erhellen kann, auch wenn er selbst am Ende des Gesprächs ein wenig mit der Sprunghaftigkeit seiner Ausführungen hadert. Vor Kurzem veröffentlichte der Historiker und Philosoph den Essayband „Hoffnung“, in dem er – in Briefen an einen anonymen jungen Menschen – erkundet, wie sich unter dem Eindruck von Klimakrise, Artensterben und Demokratieverdruss diese Hoffnung sinnvoll bewahren lässt. Er nennt sie, im Untertitel seines Buches, übrigens „ein kluges Verhältnis zur Welt“.
Während dieses Interview stattfindet, geht gerade die Weltklimakonferenz in Baku …
Blom
… gekapert von der Öllobby, abgehalten neben einem Ölfeld …
… mit einem Minimalkompromiss zu Ende. In Washington wird eine Regierung gebildet, die sich die liberale Demokratie nicht gerade auf die Fahnen schreibt. In Osteuropa fliegen Mittelstreckenraketen, die Wirtschaft steht vor der nächsten existenziellen Krise.
Blom
Und in Palästina werden immer noch jeden Tag Zivilisten ermordet.
Während die israelischen Geiseln immer noch in der Gefangenschaft der Hamas sitzen. Zusammengefasst: Wir stehen gerade wie Dante vorm Höllentor, über dem steht: „Lasst alle Hoffnung fahren.“
Blom
Ich würde mich gegen diese Vorstellung wehren, und zwar aus dem einfachen Grund, dass es sich hier um ein theologisches Denkmuster handelt. Wir leben längst in einer postchristlichen Kultur, aber die Schienen, auf denen unsere Vorstellungen verlegt sind, verlaufen immer noch auf einer christlichen Trasse: Wir können über die Zukunft nur nachdenken als Apokalypse oder als Paradies. Wir gehen entweder in die Hölle oder in den Himmel. In Wahrheit ist Geschichte aber immer ein Sich-Durchwurschteln. Manchmal geschieht das unter schwierigeren Umständen und manchmal unter einfacheren.
Im Moment erscheinen sie jedenfalls nicht rasend einfach zu sein.
Blom
Im Moment werden die Umstände sogar mit Sicherheit schwieriger. Deswegen würde ich es gern so formulieren: Nein, wir gehen nicht in ein Inferno, aber es besteht auch kein Zweifel, dass unsere Zukunft schwieriger und schmerzvoller sein wird, als es unsere jüngere Vergangenheit war.
Philipp Blom
„Ich glaube, dass wir uns gar keine Zukunft mehr zutrauen. Das Beste, was uns passieren kann, ist, dass sich nichts verändert.“
Sie haben soeben ein Buch mit dem Titel „Hoffnung“ veröffentlicht. Darin schreiben Sie, dass Hoffnung immer eine Perspektive braucht. Worauf sollen wir denn hoffen, wenn nicht auf paradiesische Zustände?
Blom
Ich habe dieses Buch geschrieben, weil mir immer wieder diese Frage gestellt wurde: Worauf hoffen? Ich halte viele Vorträge, mache Lesungen, Podcasts und Sendungen über unsere dunkle Zukunft. Über den Zusammenbruch von Demokratien, das Artensterben, die Klimakatastrophe. Und sehr oft steht nach dem Vortrag ein junger Mensch vor mir und sagt: Wenn das alles richtig ist, was Sie da sagen, gibt es dann überhaupt noch etwas zu hoffen? Dann habe ich meistens ungefähr zwei Minuten Zeit für eine Antwort, weil schon zehn andere Menschen auf mich warten, die mich zum Abendessen begleiten wollen. Mich beschleicht dann häufig das Gefühl, dass ich diese jungen Leute um eine anständige Antwort betrogen habe. Denn es ist eine wichtige Frage, die es verdient, ernst genommen zu werden.
Wir haben Zeit. Also: Gibt es überhaupt noch etwas zu hoffen?
Blom
Weil ich nun einmal Philosoph bin, frage ich dagegen: Was tun wir denn eigentlich, wenn wir hoffen? Wie funktioniert Hoffnung? Hoffnung ist ein jüdisch-christliches Prinzip. Im klassischen Chinesisch gab es kein Wort für Hoffnung. Das Konzept Hoffnung ist sehr vielen Kulturen schlicht unbekannt. Warum? Weil sie nicht das Konzept einer Geschichte hatten, in der die Zukunft anders ist als die Vergangenheit, mit einem Ziel, nämlich dem Kommen des Messias. Nur wenn man so eine Idee im Kopf hat, kann man überhaupt darauf hoffen, dass die Zukunft anders und besser wird.
Aber diese Perspektive ist uns in den vergangenen 200 Jahren doch ziemlich abhandengekommen.
Blom
Wir erleben die paradoxe Situation, dass es uns rein statistisch besser geht als irgendeiner Generation vor uns – wir sind reicher, sicherer, gesünder –, und trotzdem erleben viele Menschen ihre Gegenwart als hoffnungslos und ihre Zukunft als angstbesetzt.
Woran liegt das?
Blom
Ich glaube, dass wir, und das merkt man sehr stark im politischen Diskurs, uns gar keine Zukunft mehr zutrauen. Das Beste, was uns passieren kann, ist, dass sich nichts verändert. Dass wir nichts hergeben müssen von dem, was wir schon haben. Gleichzeitig ist uns bewusst: Von jetzt an geht es bergab. Wir werden eher nicht noch reicher, noch sicherer, noch gesünder werden. Das heißt, die Zukunft kann eigentlich nur negativ ausfallen. Vermeiden wir sie also so lange wie möglich. Mit so einer Perspektive fällt einem die Hoffnung nicht sehr leicht. Und es gibt noch etwas, was Hoffnung erschwert.
Was meinen Sie?
Blom
Dass wir in unseren Gesellschaften so stark als Individuen angesprochen werden, deren einziger Lebenshorizont ihr persönliches Leben ist, ihr persönlicher Erfolg, und zwar in Konkurrenz zu allen anderen. Und nun ist es eben so, dass viele unserer individuellen Lebenshoffnungen enttäuscht werden. Weil wir sie entweder gar nicht erreichen oder weil wir, wenn wir sie einmal erreichen, feststellen müssen, dass sie uns ganz anders erscheinen, als wir uns das vorgestellt hatten.
Die Enttäuschung ist also eigentlich unser Normalzustand.
Blom
Richtig. Und deswegen haben es Menschen, die einen metaphysischen Horizont haben, die also zum Beispiel religiös sind, viel einfacher mit dem Hoffen. Weil damit die Hoffnung über den eigenen Horizont hinaus verlegt wird. Säkulare Menschen, zu denen ich mich zähle, haben es schwieriger, weil sie diese Perspektive nicht vorfabriziert bekommen.
Aber es gibt doch auch genug weltliche Zukunftsprojekte, auf die sich hoffen ließe.
Blom
Schon, aber die säkularen Träume haben viel von ihrem Glanz verloren, weil sie so schreckliche Resultate hatten. Man kann das 20. Jahrhundert als eine Serie von gigantischen Massenversuchen sehen, eine neue, metaphysische Ordnung aufzubauen: durch den Sozialismus, den Faschismus, den Kapitalismus, den Neoliberalismus. All das wurde ausprobiert, um eine objektive Ordnung zu schaffen, in der wir leben können, eine objektive Wahrheit, an der wir uns orientieren können, ein klares Ziel, auf das wir zugehen können. Und alle diese Projekte sind gescheitert, einige sogar katastrophal.
Auch der Kapitalismus?
Blom
Als neue metaphysische Ordnung – ja. Es ging den Kapitalisten und den liberalen Denkern ja um das Durchsetzen der Freiheitsrechte des aufsteigenden, wirtschaftlich aktiven Bürgertums, so wie es dem Sozialismus um das Durchsetzen der Freiheitsrechte der Arbeiterinnen ging. Aber diese Freiheit ist negativ. Sie ist Freiheit von Zwang und Unterdrückung. Woher aber kommt die positive Freiheit, mein Leben zu gestalten? Wo ist die große Geschichte, von der ich Teil sein kann? Der Kapitalismus spricht mich nur als Marktteilnehmer an, als Konsument.
Reicht das denn nicht?
Blom
Das ist das Problem. Der Fortschritt und das Ende der Geschichte durch liberale Märkte, das sind post-christliche Erzählungen, die einfach nicht aufgehen, die individuelle Perspektive ist zu klein. Mein persönlicher Erfolg ist kein Horizont für Hoffnung, genau dieser Horizont ist nicht mehr stabil. Womit soll ich meine Hoffnung verbinden? Mit einer Partei, einem Staat, einer guten Sache, einer Vision von morgen? Die haben alle an Strahlkraft verloren. Aber dann kommen wir zu einem Paradox, denn trotz alledem stehen wir jeden Morgen auf und tun sinnvolle Dinge und setzen uns für etwas ein und sind für andere Menschen da und investieren in Beziehungen. Das ist für mich Hoffnung. Hoffnung funktioniert nach dem Prinzip Trotzdem.
Und trotzdem braucht sie eben ein Ziel, oder etwa doch nicht?
Blom
Der tschechische Dissident und spätere Präsident Václav Havel hat einmal geschrieben, dass Hoffnung nicht darin bestehe, dass man sich für etwas einsetzt, von dem man ohnehin weiß, dass es funktionieren wird. Sondern dass man etwas tut, was sinnvoll ist, eben weil es sinnvoll ist. Dann muss man sich natürlich darüber unterhalten: Was ist sinnvoll?
Philipp Blom
"Populisten sind sehr geschickt darin, den bestehenden Zorn und das Gefühl der Ohnmacht umzuleiten auf eines der sichtbarsten Symptome der Veränderung, zum Beispiel Migranten. Die sehen anders aus, die reden anders, und die waren noch nicht da, als alles noch in Ordnung war. Deswegen liegt die Schlussfolgerung nahe: Hauen wir sie raus, dann wird alles wieder gut."
Wie lässt sich diese Frage beantworten?
Blom
Es gibt die dumme Hoffnung, bei der ich mich selbst täusche. Ein Beispiel: Ich habe zwar Krebs im Endstadium, aber laufe immer noch zu meinem Heilpraktiker, der mir verspricht, dass ich dank Kräutertees und Energiesteinen in drei Wochen gesund bin. Dann gibt es auch die Hoffnung, die bösen Zielen gilt. Die Nazis hatten die Hoffnung, dass sich der arische Herrenmensch durchsetzt. Hoffnung kann aber auch eine sehr gute, konstruktive Energie sein, die nicht davon abhängt, wie die äußeren Umstände sind. Dafür braucht Hoffnung tatsächlich eine Idee von einer Zukunft. Und zwar von einer offenen, gestaltbaren Zukunft. Und um die Zukunft gestalten zu können, brauche ich Kompetenz. Dazu brauche ich Bildung.
Ich könnte natürlich auch dem KI-Chatbot in meinem Smartphone vertrauen.
Blom
Diese Möglichkeit ist großartig, und sie ist auch fürchterlich. Mir hat KI schon einmal das Leben gerettet. Weil sie meinen Arzt darauf hinwies, dass ein bestimmtes Melanom eine höhere Risikostufe hatte, als er angenommen hatte. Also ja: Danke KI! Andererseits: Wir hören immer, dass wir dank KI endlich Zeit für die wirklich sinnvollen Dinge im Leben hätten. Aber leider macht die KI nicht den Abwasch für mich, sondern malt Bilder und schreibt Geschichten. Lieber wäre es mir andersherum. Ich glaube, es wird immer wichtiger, sich den digitalen Welten ausreichend zu entziehen, um zumindest einigermaßen autonome Entscheidungen treffen zu können.
Sie schreiben, dass die Suche nach einem Sinn eine der wesentlichen Antriebsfedern des Menschen sei. Wie finden wir diesen Sinn?
Blom
Unsere Lebenserfahrung ist chaotisch und von grotesker Ungerechtigkeit geprägt. Kinder sterben an Krebs, während Diktatoren mit 85 Jahren im Kreise ihrer liebenden Familie entschlafen. Immer wieder erleben wir, dass Glück und Zufall herrschen, oder Gewalt und Willkür. Wie also überhaupt noch aufstehen und etwas beginnen, uns für etwas einsetzen, was in der Zukunft liegt? Indem wir uns Geschichten erzählen, einen Sinn und eine klare Kausalität erfinden, wo keine ist. Wir leben so, als ob sinnvolles Handeln auch zu sinnvollen Resultaten führen würde, obwohl die Erfahrung das nicht bestätigt. Und nur weil wir das tun, weil wir kontrafaktisch handeln, kann dann manchmal auch etwas Neues entstehen.
Beruht darauf der Erfolg des Populismus? Trumps „Make America Great Again“ ist ja genau das: eine Geschichte mit dem Titel „Amerika wird wieder super sein“.
Blom
Eines scheint mir klar. Rechtspopulisten haben die besseren Geschichten. Im Gegensatz zu den liberalen, gemäßigten Linken dieser Welt wollen Rechtspopulisten etwas. Sie haben eine Vision. Sie wollen die Welt verändern und ein System zerstören. Sie verfügen damit über eine Energie, der im Moment niemand in der gemäßigten Politik auf beiden Seiten der Mitte etwas entgegenzusetzen hat. Denn deren Erzählung hat sich totgelaufen. Einerseits, weil sie viele ihrer Ziele erreicht hat, andererseits, weil die eher progressiven Menschen realisieren, dass genau die Erfolgsrezepte, die unseren enormen Aufstieg ermöglicht haben, insbesondere der Verbrauch von fossilen Brennstoffen, sich gegen uns gewendet haben.
Was früher eine Zukunft versprach, führt uns heute in die Bredouille?
Blom
Es wird zur existenziellen Bedrohung. Unser Zukunftsrezept ist uns verloren gegangen. Wir glauben nicht mehr, dass es unseren Kindern besser gehen wird, als es uns gegangen ist.
Und die progressiven sozialen Projekte – Gleichberechtigung, Sozialstaat, 38-Stunden-Woche – sind mehr oder weniger umgesetzt, sorgen also auch nicht mehr wirklich für politische Furore.
Blom
Ja, die Erreichung der Ziele auf der Linken ist die eine Geschichte. Die andere entsteht aus den Folgen der Globalisierung. Den Widerspruch zwischen Globalisierung und staatlich verfasster Demokratie haben wir noch nicht gelöst. Kapital ist unendlich bewegbar, Staaten aber nicht. Und wenn jemand seine Fabriken verlegt und 30.000 Arbeitsplätze mit sich nimmt, dann bleiben die ehemaligen Arbeiter und Arbeiterinnen trotzdem da, wo sie auch vorher gelebt haben. Für die Fabrik bestehen sie nur als Arbeitskräfte oder Verbraucher, für den Staat aber als Bürger, die versorgt und gehört werden müssen, ob sie nun einen Job haben oder nicht. Als die Schwerindustrie aus Europa verschwand, verschob sich auch die politische Macht, und die sozialdemokratischen Parteien suchten neue Wähler unter den Gebildeten in den großen Städten, für die sie aber nicht Arbeitskampf machten, sondern Identitätspolitik, eine ganz andere Art von sozialer Gerechtigkeit.
Warum ist die Europäische Union eigentlich nie zu einer gemeinsamen historischen Herzensangelegenheit geworden?
Blom
Weil diese Europäische Union mehr Staatenbund ist als Völkerbund. Und zwar ein Staatenbund unter Erbfeinden, der seinen Erfolg auch daraus gezogen hat, dass man es unter alten Gegnern lieber vermeidet, politische Grundsatzfragen zu diskutieren. Stattdessen wurden alle politischen Fragen in der EU in technische Fragen überführt, die von Experten gelöst werden können. Das war der große Erfolg des Europäischen Binnenmarktes und der Europäischen Union. Es führt aber auch zu einer Mentalität der Regelungen und Normierungen. Und es saugt der demokratischen Debatte den Sauerstoff ab.
Was heißt das für Europa vor dem Hintergrund von Trump und Putin?
Blom
Europa muss erwachsen werden. Wir sind nicht mehr der Teenager, der sich den schönen Ideen widmen kann, während der große Onkel von jenseits des großen Teichs den Regenschirm über uns hält. Wir müssen jetzt, bei schwindendem Wirtschaftsaufkommen und schwindender internationaler Bedeutung, lernen, auf unseren eigenen Füßen zu stehen. Das ist eine historische Herausforderung. Es ist sehr gut möglich, dass wir sie einfach verschlafen oder zerreden werden. Aber es könnte ein paradox positiver Trump-Effekt sein, dass es jetzt doch zu einem Aufwachen kommt. Es scheint, als bräuchten wir tatsächlich mehr disruptive Politik.
Warum?
Blom
Ich glaube, unser gegenwärtiges Dilemma ist auch die Konsequenz eines historischen Sieges. Siegen macht dumm. Und der liberale Westen hat nach 1989, aber auch schon in den Dekaden davor, so eklatant gesiegt, dass er sich geleistet hat, blind und träge zu werden und seine eigenen Schwächen und Widersprüche nicht mehr zu sehen. Der scheinbare Sieg des Liberalismus brachte immense technologische, soziale und wirtschaftliche Veränderungen, die heute zu einem Sieg des Rechtspopulismus führen. Populisten sind sehr geschickt darin, den bestehenden Zorn und das Gefühl der Ohnmacht umzuleiten auf eines der sichtbarsten Symptome der Veränderung, zum Beispiel Migranten. Die sehen anders aus, die reden anders, und die waren noch nicht da, als alles noch in Ordnung war. Deswegen liegt die Schlussfolgerung nahe: Hauen wir sie raus, dann wird alles wieder gut.
In Ihrem Buch „Der taumelnde Kontinent“ haben Sie die Jahre dokumentiert, die Europa in den Ersten Weltkrieg führten. Darf man aus dieser Geschichte Schlüsse auf die Gegenwart ziehen?
Blom
Ja. Denn auch damals gab es dieses Grundgefühl: Es muss sich etwas ändern! Es herrschte eine Orientierungslosigkeit, die damals wie heute von sich rasend entwickelnden Technologien angetrieben wurde. Damals waren es die massive Urbanisierung, die Massenmedien, die neuen Transportmittel, all diese Dinge, die innerhalb von zwei, drei Dekaden auf die Gesellschaft losgelassen wurden.
Worauf taumeln wir heute zu?
Blom
Es ist ganz wichtig, zu realisieren: Was wir brauchen, ist ausschließlich ein politischer Wille. Denn wir haben das Geld und die Technologien für alles, was Sie sich vorstellen können – von einer grünen Schwerindustrie bis hin zur Neugestaltung unsere Städte. Das Einzige, was fehlt, ist der politische Wille, das umzusetzen. Allerdings sind viele Entscheidungen auch gar nicht mehr in der Reichweite der demokratischen Institutionen. Ich glaube, da gibt es in unseren Demokratien dramatische Schieflagen, die wirklich revolutionär werden können. Und ich mag Revolutionen nicht. Die werden immer von Idealisten angefangen und von Banditen beendet. Es ist immer der Ruchloseste, der am Ende noch dasitzt. Der Stalin. Der Robespierre.
Wir wissen heute sehr viel mehr über die Komplexität der Welt als frühere Generationen. Dieses Wissen kann aber auch lähmend werden, wenn ich weiß: Was ich guten Willens unternehme, kann immer auch ins Gegenteil umschlagen, weil halt alles sehr chaotisch mit allem zusammenhängt.
Blom
Das ist der faszinierende Punkt, an dem wir stehen. Unser Wissen wächst jedes Jahr um Hunderte Prozent. Aber unsere Verständniskapazität wird deswegen nicht größer. Wir sind eine Primatenart, die von der Evolution einige Tausend Jahre lang darauf vorbereitet wurde, in einer bestimmten Umgebung zu leben und diese zu verstehen. Nun aber haben wir uns innerhalb von wenigen Generationen in eine völlig neue Welt hineinmanövriert. So viel rasende Veränderung ist eine Zumutung für unser armes, überfordertes Primatenhirn. Genau deswegen ist die Klimakatastrophe für uns auch so bedrohlich. Wir haben durch die Evolution gelernt, sehr effizient auf kurzfristige Bedrohungen zu reagieren. Aber überhaupt nicht auf allmähliche. So, wie wir in der Evolution auch gelernt haben, großartig mit Mangel umzugehen, aber überhaupt nicht mit Überfluss. Überfluss ist für uns heute ein viel größeres Problem als Mangel.
Wie meinen Sie das?
Blom
Ob es sich um industrielle Fertignahrung handelt oder um soziale Medien, wir erleben an uns selbst und an anderen auf Schritt und Tritt, wie wenig wir mit dem auf uns einprasselnden Überangebot an Kalorien, Entertainment, Informationen und Emotionalisierung umgehen können. Auch das ist übrigens eine Folge von technologischen Veränderungen.
Die Gesellschaft wird durch den Überfluss also vielfältiger, aber gleichzeitig instabiler?
Blom
Diese Labilität hat nicht nur mit Überfluss zu tun, sondern auch mit einer sehr auf das Individuum ausgelegten Idee von Freiheit. Man kann Freiheit von Individuen her denken, oder, wie Timothy Snyder vor Kurzem ausgeführt hat, von Kollektiven her, die erst die Bedingungen für individuelle Freiheit schaffen. Die Frage ist: Wie viel Kitt braucht eine Gesellschaft, um als solche zu funktionieren? Und wann wird aus dieser Frage die blöde Debatte um die Leitkultur? Für mich ist das tatsächlich eine sehr wichtige Frage, die ich überhaupt nicht beantworten kann: Wie viel Gemeinsamkeit braucht eine Gesellschaft? Im Moment haben wir in unseren Gesellschaften keine gemeinsamen Zukunftsprojekte. Auch weil wir im 20. Jahrhundert schlechte Erfahrungen gemacht haben mit kollektiven Projekten. Aber gleichzeitig glaube ich, dass eine Gesellschaft eine Idee von einer gemeinsamen, gestaltbaren Zukunft braucht, um funktionieren zu können.
Und was, wenn wir kein solches Projekt finden?
Blom
Dann werden wir sehen, ob wir als Gesellschaft in den nächsten Jahrzehnten erfolgreich sein werden. Ob wir unsere liberalen Demokratien verteidigen können oder ob diese einfach zusammenbrechen. Historisch betrachtet, vollzieht sich ein Kollaps übrigens erst sehr langsam – und dann ganz plötzlich.
Wie können wir als Gesellschaft zu einer Idee über eine gemeinsame Zukunft kommen?
Blom
Durch neue gemeinsame Erfahrungen. Die Klimakrise zum Beispiel. Wenn die Veränderung fühlbar wird, dann werden Menschen auch offen für neue Ideen, neue Arten zu leben und zu denken. Die alten Erklärungen ziehen nicht mehr. Solche gemeinsamen Momente können sehr leicht entgleiten, doch das müssen sie nicht. Der Segen und der Fluch einer Historiker-Sicht auf die Geschichte besteht in dem Wissen, dass das Unvorstellbare jederzeit passieren kann. Aber ich glaube, dass diese Geschichte tatsächlich noch relativ offen ist. Sie wird sehr schwierig, zum Teil katastrophal sein. Das heißt allerdings nicht, dass es nicht doch Möglichkeiten gibt, sinnvoll zu leben und sinnvolle Gemeinschaften zu schaffen. Und das ist alles, was man tun kann.
Sebastian Hofer
schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur und ist seit 2020 Textchef dieses Magazins.