Wie steht es um die Streitkultur in der Politik?
Öffentlich wird das Parlament oftmals nicht mit der Rolle bedacht, die ihm zukommt: Tatsächlich ist es der Ort, an dem wir verhandeln, wie wir miteinander leben wollen. Es ist der Ort der politischen Auseinandersetzung, der Argumente. Es ist auch der Ort, an dem die Regierenden den Abgeordneten Rede und Antwort stehen müssen. Das Parlament ist ein Ort für Streit im besten Sinne. In der parlamentarischen Auseinandersetzung wird repräsentative Demokratie sichtbar. Das freie Wort, die offene Debatte ist die Grundvoraussetzung für Demokratie an sich. Diese Debatte kann auch mit harten Worten geführt werden. Zugleich kommt dieses Recht auf harte Kritik nicht ohne Verantwortung aus. Wenn losgelöst von jeder empirischen Evidenz Dinge behauptet werden oder wenn in Plenarreden Diffamierungen dominieren, werden die Abgeordneten ihrer demokratischen Verantwortung nicht gerecht. Dann verkommt die parlamentarische Debatte zu einer Karikatur ihrer selbst und verliert ihre progressive Kraft, das Land und das Leben der Bevölkerung zu verbessern. Es ist die Aufgabe aller Abgeordneten, den Streit der parlamentarischen Debatte im besten Sinne zu kultivieren und billige Show abzulehnen.
In der Pandemie ging es vielen so. Wozu noch mit Andersdenkenden reden, wenn man doch nur gegen eine Wand läuft? Ich spürte das Aufkommen der Gesprächsverweigerung in mir schon vorher, wenngleich aus anderen Gründen. Zwischen Dezember 2017 und Mai 2019 hatte ich eine nie zuvor empfundene Abneigung und wohl auch Verachtung gegenüber so manchen politisch Andersdenkenden und deren Verhalten; die Ablehnung eines Gesprächs lag mir daher weit näher, als es zu führen. Wenn auf einer Seite das Ausmaß an Unredlichkeit, Unfairness, Kaltschnäuzigkeit und die Profession der Verschleierung solcher Haltungen derart zunimmt, entsteht auf der anderen Seite eine emotionale Blockade, die jeden Zugang erschwert. Doch die Demokratie lebt vom Streit. Unabhängig davon, bei wem die Ursache für die Blockade liegt, und so schwer es fällt: Beide Teile stehen in der Verantwortung, sie aufzulösen. Ohne Zweifel, ohne Debatte, ohne das Ringen um Antworten keine Entwicklung, ohne Respekt vor der Meinungsvielfalt keine offene Gesellschaft. Demokratie kann verdammt mühsam sein.e Beeinflussung gesellschaftlicher Entwicklungen zu verzichten.
Vielleicht ist es wirklich die Sprache, die den Menschen erst zum Menschen macht. Erst die Fähigkeit, das eigene Denken zu verbalisieren, Begriffe zu finden und Formulierungen, mittels derer man dann in der Lage ist, dem Mitmenschen, dem Gegenüber, sei er nun Freund oder Feind, den eigenen Willen und eigene Erkenntnisse mitzuteilen, versetzt uns ja eigentlich in die Lage, ohne Willkür und ohne Gewalt mit anderen zu interagieren. Zwar mögen im Zuge der Evolution zuvor auch Grunzlaute oder gegenseitiges Beschnüffeln dienlich gewesen sein. Sprache ist aber denn doch etwas anderes.
Und da gibt es dann natürlich die verschiedensten Varianten, um diese gewissermaßen göttliche Gabe, nämlich die menschliche Sprache, anzuwenden: etwa nichtssagenden Small Talk, oder verlogene Lobreden, etwa bei Geburtstagen oder Beerdigungen, oder auch Parlamentsreden und politische Sonntagsreden. Es gibt das ehrliche Gespräch und das verlogene. Es gibt den freundschaftlichen Diskurs und jenen mit Gegnern, wenn nicht gar mit Feinden. Und es gibt in diesem Zusammenhang jenen Akt der ultimativen Missachtung, nämlich die Gesprächsverweigerung. Schlimmer ist dann nur mehr wirkliche Gewaltanwendung.
Und damit sind wir beim politischen Diskurs: Da gibt es die Selbstbeweihräucherung, das sachliche Gespräch und schließlich die verächtlich machende Polemik. Das Wertvollste aber im Bereich der politischen Debatte ist das Gespräch, die Diskussion unter Gegnern! Nur dieses beinhaltet den Mechanismus von These und Antithese und damit die Möglichkeit zur Synthese. Nur das Streitgespräch mit Andersdenkenden ermöglicht die Weiterentwicklung eigenen Denkens und dessen Korrektur. Daher lasst uns streiten, insbesondere mit unseren Feinden!positiv
In den vergangenen Jahren hat sich in der österreichischen Politik ein Prozess in Gang gesetzt, dem wir so rasch wie möglich ein Ende setzen müssen. Die Verrohung der politischen Kultur schreitet unentwegt voran. Längst wird nicht mehr leidenschaftlich debattiert und um die besten Ideen gerungen, sondern anonym angezeigt und medienwirksam diffamiert.
Dialog und Kompromisse fallen parteipolitischen Spielchen der Opposition zum Opfer. Dieser negativen Entwicklung muss ein Ende gesetzt werden, bevor es dem Vertrauen der Menschen in die Politik ein Ende setzt. Im Angesicht der globalen Krisen, die auch Österreich nicht verschonen, braucht es eine Rückbesinnung zu einer politischen Kultur des Miteinanders. Dieses Miteinander heißt nicht, dass alle politischen Akteure dieselbe Meinung haben sollen. Nein, ganz im Gegenteil: Es bedeutet, dass die Politik das Debattieren über verschiedene Standpunkte wieder lernen muss. Sachpolitische Debatten müssen wieder jenen Stellenwert bekommen, den sich parteipolitische Profilierungsversuche ohne Inhalt und Niveau in den letzten Jahren still und heimlich erschlichen haben.
„Wie leicht doch bildet man sich eine falsche Meinung, geblendet von dem Glanz der äußeren Erscheinung“, sagte schon Molière. Man könnte ergänzen, dass auch die Glanzlosigkeit in die Irre führen kann. Gerade in einer „Mediendemokratie“, in der vor allem die Macht der Bilder großen Einfluss auf die Meinungsbildung in der Bevölkerung hat, ist dabei Diskussion und Streit unverzichtbar. Unterschiedliche Medien mit unterschiedlichen Leser:innen, Seher:innen und Hörer:innen bieten die Möglichkeit, viele Menschen zu erreichen.
Wenn dabei für fortschrittliche Gesellschaftsmodelle und gegen autoritäre oder biedermeierliche Tendenzen argumentiert und gestritten werden kann, dann sind selbstverständlich die sogenannten „Boulevardmedien“ genauso dafür geeignet. Beispielsweise sind die wöchentlichen „Fellner LIVE!“-Formate in oe24.tv explizit ein Versuch, diese Ansprüche größtmöglich zu erfüllen. Eine Prise Humor kann auch hier die Verdaulichkeit politischer Inhalte erleichtern. Überhebliches Nasenrümpfen gegenüber den manchmal auch zurecht kritisierten „Boulevardmedien“ rechtfertigt aber letzten Endes nicht, auf diese wichtigen Plattformen für die positive Beeinflussung gesellschaftlicher Entwicklungen zu verzichten.
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