Wie stellt sich Aktivistin Lena Schilling die Welt vor?
Der Regen ist hartnäckig an diesem Freitagvormittag, in Ostösterreich fällt er sogar heftig aus. In der Nähe von Nickelsdorf schälen sich die Besucher des Nova-Rock-Festivals aus ihren verschlammten Zelten, wenige Stunden Schlaf liegen hinter ihnen, noch Tausende Biere vor ihnen. Auch in Hirschstetten im Wiener Stadtteil Donaustadt stehen, ohne Musikbegleitung, etliche bunte Zelte, auch sie beherbergen junge Menschen, sie haben allerdings andere Sorgen. Ihre Versammlung dient nicht der Unterhaltung, sondern einer besseren Welt.
Hier, in der Randzone des 22. Wiener Gemeindebezirks, wächst die Bundeshauptstadt gerade über sich selbst hinaus. Zehntausende neue Wohnungen wurden und werden am nordöstlichen Stadtrand errichtet, und schon jetzt übersteigt das Verkehrsaufkommen die vorhandenen Kapazitäten. Die Donaustadt ist zur Stop-and-Go-Area geworden. Darum wird hier auch Tiefbau in größerem Maßstab betrieben, die Asfinag errichtet im Auftrag der Gemeinde eine vierspurige Straßenverbindung zwischen Südosttangente und dem neuen Stadtteil „Seestadt Aspern“. Von dort soll eine Schnellstraße, die „Spange Aspern“, weiter in Richtung Nordostumfahrung führen (sowie zum ebenfalls umstrittenen und vorläufig gestoppten Lobau-Tunnel). Die Proteste gegen diese „Stadtstraße“, die Baustellenbesetzungen und Demonstrationen der vorwiegend jugendlichen Klimaschützer (und das robuste Vorgehen der Stadt gegen dieselben) erregten in den vergangenen Monaten überregionale Aufmerksamkeit. Naturschützer der alten Schule fühlten sich an Hainburg erinnert, einige Politiker möglicherweise auch.
Angestoßen wurden die Aktionen maßgeblich von einer 21-jährigen Politikwissenschaftsstudentin: Lena Schilling. Jüngere Semester fühlen sich an Greta Thunberg oder Luisa Neubauer erinnert, Schilling selbst bezeichnet sich auf Instagram als „Zuckergoscherlrevolutionärin“, der „Falter“ nannte sie „Frau Bürgermeisterschreck“. Die Wiener Verkehrsstadträtin Uli Sima jedenfalls spricht nicht mehr mit ihr.
profil kommt ein paar Minuten zu spät zum Gesprächstermin im Hirschstettner Protest-Camp, der Grund liegt nahe, ist aber auch ein bisschen peinlich: Stau auf der Tangente. Lena Schilling nimmt die Nachricht mit Humor. „Ja, das mit der Straße ist ein Problem, haha.“ Auf der Website des Protestcamps „Lobau bleibt“ werden Anreisewege natürlich nur für Öffis und Fahrrad beschrieben, die Adresse des Camps darf man ruhig symbolisch begreifen: Anfanggasse (Ecke Spargelfeldstraße).
„In Hirschstetten beginnt die Revolution“, wird Lena Schilling irgendwann einmal sagen. Noch muss der Slogan mit Substanz gefüllt werden. Die inoffizielle Bundesgeschäftsstelle der österreichischen Klimaschutzbewegung erinnert an ein Sommerferienlager, wäre da nicht die lärmende Großbaustelle nebenan: urige Idylle unter altem Baumbestand; Hängematten, Eigenbaumöbel, improvisierte Feldküche; Jurte mit Heizgelegenheit, diverse Transparente, ein gutes Dutzend Zweipersonenzelte, in der Mitte zwei größere Strukturen. In einer davon werden gerade Fahrradanhänger zusammengeschweißt, in der anderen sitzt Lena Schilling in ihrem, nun ja, Büro. Es besteht aus einer Biergarnitur, die mit Ach und Krach zwischen drei Schwerlastregale gequetscht wurde; griffbereit liegen Werkzeug, Klebeband, Megafon. Auf dem Biertisch steht ein Laptop, es gibt Filterkaffee im (Mehrweg-)Plastikbecher, ein Monoblocsessel wird herbeigeschafft. Schilling erzählt, wie das damals war, vor ungefähr einem Jahr.
„Mitte Mai haben wir ja diese Presseaussendung an den Bürgermeister gemacht. Dabei haben wir uns auch ein bisschen aus dem Fenster gelehnt.“ Konkret stand in dem Schreiben, das am 16. Mai 2021 über die Austria Presse Agentur lief: „Niemand sollte die Entschlossenheit unserer Generation unterschätzen, auch nicht der Wiener Bürgermeister.“ Und: „Wird gebaut, wird besetzt. Wenn Michael Ludwig ein zweites Hainburg erleben will, dann kann er das haben.“ Gezeichnet: Lena Schilling.
Ein Jahr später kann Schilling über ihre damalige Goschertheit nur mehr grinsen. Der Bürgermeister ließ sich von dem Schreiben freilich nicht aus dem Konzept bringen. „Aber nachdem wir das so frech angekündigt hatten, mussten wir es auch machen. Also habe ich die Versammlung hier angemeldet, am 28. August ist das Camp entstanden, am 30. August wurde die erste Baustelle besetzt. Und der Stein ist ins Rollen geraten.“ Womit die jungen Aktivistinnen nicht gerechnet hatten: Die Polizei rückte zwar an, räumte die Besetzung aber nicht. „Die Aktion war ursprünglich nur für einen, vielleicht zwei Tage geplant, aber nachdem nicht geräumt wurde, sind wir halt geblieben.“ So schlugen Lena Schilling und die „Lobau bleibt“-Bewegung in der Donaustadt Wurzeln – und fanden reichlich fruchtbaren Boden vor: Schon bei den ersten Organisationstreffen waren auch Anrainer vor Ort, viele hatten sich schon zuvor in Bürgerinitiativen gegen das Straßenbauprojekt formiert. „Wir sind hier sehr schnell angekommen. Die Pfarre hat uns das Fließwasser spendiert, der Strom kommt von einer Nachbarin in der Siedlung. Die Leute hier wollen die Straße auch nicht.“
„Lobau bleibt“ ist auch ein Schulbeispiel gelungener Koalitionsbildung. Auf der Stadtstraßenbaustelle kam zusammen, was zwar irgendwie zusammengehört, aber einander trotzdem lange nicht grün war: die schulstreikenden Greta-Thunberg-Fans von Fridays For Future, die deutlich radikaleren und auch ideologisch stärker aufgeladenen Gruppen Extinction Rebellion und System Change Not Climate Change sowie die Aktion „Letzte Generation“, die regelmäßig mit Straßenblockaden Aufsehen (und Pendleraggression) erregt. Bis zum Aufruf von Schillings Schülerinnen-Gruppe „Jugendrat“ kochten die verschiedenen Bewegungen ihre jeweils eigene Suppe. „Ich glaube, ich bin ziemlich goschert und ein bisserl größenwahnsinnig, und durch diese Ankündigung war allen klar: Wir machen das jetzt. Das war sicher ein Antrieb, und gerade bei einer ganz konkreten Sache müssen wir manchmal ideologische oder taktische Unterschiede beiseitelegen.“
„Da haben wir uns auch ein bisschen aus dem Fenster gelehnt.“
In Österreich hatte die Klimabewegung nach eineinhalb Jahren Pandemie etwas an Schwungmasse verloren. Die Besetzung in Hirschstetten schlug ein neues Kapitel auf. „Ich war vorher ja auch bei Fridays For Future“, erzählt Schilling: „Da machst du sanften zivilen Ungehorsam, schwänzt die Schule und demonstrierst. Und plötzlich organisierst du Baustellenblockaden. Das ist auch juristisch ein anderes Kaliber. Wir hatten am Anfang ziemlich viele Rechtshilfetreffen.“
Lena Schilling vereint drei wesentliche Eigenschaften einer politischen Aktivistin: Pragmatismus, Überzeugungskraft, Unbeirrbarkeit. Und sie fährt große Geschütze auf – weil die Ziele keine kleinen sind. Die Stadtstraße ist nur eines davon, und möglicherweise das bescheidenste, es geht am Ende ja immer auch um die Erderwärmung insgesamt, es geht um politische Sichtbarkeit junger Menschen, es geht um Verteilungsgerechtigkeit, ums Prinzip und ums System. Lena Schilling, die in ihrer Jugend viel Marx und Luhmann gelesen hat, aber auch Romane von Dostojewski und Tweets der linken US-Kongressabgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez, sagt: „Auf der ganzen Welt gibt es Kämpfe wie unseren. Es geht um Kohlengruben, Bagger oder Baumhäuser, im Amazonas, in Indien oder Hirschstetten. Wir sind überall. Unsere Praxis unterscheidet sich, aber wir sind alle Teile einer globalen Klimagerechtigkeitsbewegung. Eine Revolution im Großen bedeutet immer Kämpfe im Kleinen.“
Schilling spricht solche Sätze tatsächlich fast druckreif und ohne Formulierungspausen. Man ahnt, dass sie sie so oder so ähnlich schon einmal anderswo ausgesprochen hat, aber man hat nie den Eindruck, mit Sprechschablonen beworfen zu werden. Ihr rhetorisches Talent macht einen erheblichen Anteil ihres Charismas aus, was auch ihre unmittelbare Zielgruppe registriert. In TV-Konfrontationen bietet sie auch medienerfahrenen Diskussionsgegnern wie dem Verbund-Chef und IV-Landespräsident Martin Ohneberg souverän Paroli. Miles Schäfer, Wiener Landessprecher der SPÖ-nahen Aktion Kritischer Schüler, zollt Respekt: „Lena Schilling ist für ihre Generation durchaus ein Idol. Sie ist sehr gut darin, ihre Forderungen und Ziele klar zu formulieren, was vielen fehlt, die in ihrem Alter auf dem politischen Parkett stehen. Und sie kritisiert auch das System. Sie sagt nicht nur: Wir müssen das Klima retten – sie erklärt auch, wie es dazu gekommen ist.“
Zum Beispiel sagt sie, wieder wortwörtlich druckreif: „Es gibt planetare Grenzen und naturwissenschaftliche Gesetze. Wie unsere Gesellschaften organisiert sind, ist kein Naturgesetz, das haben wir ausverhandelt. Aber es gibt planetare Regeln, nach denen wir spielen müssen. Wenn wir sie nicht einhalten, dann ist es zu spät. Dann werden Kipppunkte erreicht, dann haben wir es nicht mehr unter Kontrolle. Dann haben wir Hunderte Millionen Flüchtlinge, gewaltige Hungersnöte und Naturkatastrophen. Ich finde es absurd, dass wir seit 50 Jahren von Wissenschafter:innen davor gewarnt werden, aber noch immer zu wenig dagegen tun. Die erzählen seit Jahrzehnten, was ich hier erzähle. Ich bin auch nicht gescheiter als andere. Ich bin aber wie wir alle dafür verantwortlich.“
Lena Schilling wurde 2001 in Wien geboren und ist in Meidling aufgewachsen, einem Bezirk, der in Porträts über den prominenten Meidlinger Sebastian Kurz gern als „Arbeiterbezirk“ tituliert wird. Sie hat einen kleinen Bruder und zwei Katzen, jobbt neben ihrem Studium an der Uni Wien (Politikwissenschaften) als Tanzlehrerin. Ihr Vater arbeitet für eine Bank, er ist auch ein politischer Sparringpartner und hätte nichts dagegen, wenn seine Tochter „etwas Gescheites“ arbeiten würde. Einer ihrer Großväter war Bezirksrat der FPÖ; ihre Mutter Christina ist Sozialarbeiterin und Lenas politischer Leuchtturm. Sie leitet ein Flüchtlingshaus in Wien, wo die damals 14-Jährige die Flüchtlingswelle 2015 sehr direkt erlebte – und weiter politisiert wurde. Auch als Schülerin an der HBLA Herbststraße ist sie damals politisch engagiert, nähert sich einer Gruppe der marxistischen Linkswende an und hält Referate über Rosa Luxemburg. Ende 2018 wird sie vom Wiener Fridays-For-Future-Gründerduo Katharina Rogenhofer und Johannes Stangl für den Klima-Aktivismus entdeckt, Anfang 2020 gründet sie den Jugendrat, eine unabhängige politische Organisation, in der junge Menschen zur politischen Aktion bewegt werden sollen. Außerdem ist sie seit Anfang 2021 Sprecherin der Initiative Lieferkettengesetz Österreich.
Durchs regennasse Hirschstettner Gras spaziert, in Schlapfen, die „Lobau bleibt“-Aktivistin Leo. Sie ist seit dem vergangenen Dezember regelmäßig hier im Camp, seit der Räumung der Baustellenbesetzung „Wüste“ Anfang Februar fast durchgehend. „Wir versuchen, hier die Utopie zu leben“, sagt sie und meint die niederschwellige Andersartigkeit der Versammlung: „Man kann hier auch ohne Geld wohnen, bekommt etwas zu essen, Dinge werden getauscht oder selbst gemacht, und wir nehmen Rücksicht aufeinander.“ Der Camp-Bewohner Jochen, im wetterfesten Hundetrainer-Outfit, Zigarillo im Anschlag, war früher bei System Change und Extinction Rebellion engagiert, versteht sich aber inzwischen als unabhängiger Aktivist: „Bei Extinction Rebellion wurde ja auch schon früher gegen den Lobautunnel protestiert, aber da konnte man sich nach zwei Stunden Plenum nicht einmal auf ein Logo einigen. Mit ‚Lobau bleibt‘ ist sehr schnell etwas weitergegangen, das finde ich schon hervorragend.“ Einen Kritikpunkt mag er allerdings nicht verschweigen: „Es ist schon ein sehr schichtspezifischer Protest, den wir hier betreiben. Anrainerinnen aus der Arbeiterklasse verstehen unsere Anliegen kaum. Wir reden leider nicht immer auf Augenhöhe mit ihnen.“
„Um vier Uhr früh schaue ich auf mein Handy und sehe: Flammen.“
Ein zweites Treffen mit Lena Schilling, diesmal im Café Baharat im 6. Bezirk, beste Bobo-Lage. Das Café fungiert als soziale Einrichtung für Geflüchtete und wird von Lena Schillings Mutter Christina geleitet. Es gibt Eistee, eine Mitarbeiterin erklärt einem jungen Mann, wie es sich mit dem Verhältnis zwischen Männern und Frauen in Österreich so verhält. In einem Hinterzimmer stapeln sich Kleider- und Sachspenden für Geflüchtete aus der Ukraine. Lena Schilling erklärt, warum sie es derzeit nur noch unregelmäßig ins Protestcamp hinaus schafft: Sie hat gerade Stress auf einer anderen Baustelle. Dieser Tage beendet sie das Manuskript für ihr erstes Buch, das im Herbst erscheint und „Radikale Wende“ heißen wird. Das Titelbild zeigt die Autorin bei einer Baustellenbesetzung, im Hintergrund vermummte Polizei, aber Schilling mag eigentlich gar nicht martialisch sein, sie kann auch Selbstironie: „Jetzt schreib ich halt auch ein Buch, wie man das so macht als Klimaaktivistin.“ Sie ist sich ihrer Rolle bewusst und auch der Tatsache, dass es eine Rolle ist. Sie füllt sie allerdings erfrischend authentisch aus, das Megafon greift sie sich beim Fototermin ganz selbstverständlich, das Accessoire gehört in ihrem Rollenfach einfach dazu. Schilling legt es locker an. „Ich bemühe mich sehr, nicht die ultrastrenge Veganerin heraushängen zu lassen.“
Zeitgemäßer Aktivismus ist auch: Offenheit signalisieren, Anschlussfähigkeit erhalten. „Lobau bleibt“ sektiert nicht, und Lena Schilling ist in ihrer offenherzigen Verbindlichkeit als Vorzeigeaktivistin eine Idealbesetzung. Sie lässt vieles einfach aussehen, was nicht einfach ist. Aber sie gesteht auch zu, dass es manchmal schwierig wird. Die noch junge Geschichte von Lobau bleibt ist gespickt mit bedeutenden Erfolgen und traumatischen Ereignissen. Bisweilen lag beides sehr nahe beieinander.
Am 1. Dezember verkündete Umweltministerin Leonore Gewessler (Die Grünen) das Aus für die Wiener Nordostumfahrung und den Lobautunnel. In einem ersten Statement wies die Ministerin dezidiert auf die Verantwortung hin, die sie gegenüber jenen Menschen spüre, die heute für den Klimaschutz auf die Straße gingen. „Und kurz darauf ist es losgegangen“, erinnert sich Lena Schilling. Die Blockade der Baustelle bei der Hausfeldstraße wurde behördlich aufgelöst, eine polizeiliche Räumung damit jederzeit möglich. Es folgte ein schulbeispielhafter PR-GAU durch die Stadt Wien, die eine Anwaltskanzlei Briefe an „Lobau bleibt“-Aktivistinnen verschicken ließ, in denen auf die Möglichkeit einer „solidarischen Haftung“ für die entstandenen Millionenschäden hingewiesen wurde. Die Adressaten waren zum Teil erst 13 oder 14 Jahre alt, manche von ihnen auch nie auf einer Baustellenbesetzung gewesen.
„An dem Abend war ein Plenum, das sicher das emotionalste war, an dem ich jemals teilgenommen habe. Ein 55-jähriger Familienvater stand mit Tränen in den Augen vor mir und sagte, ich kann nicht mehr, die wollen meine Existenz vernichten. Meine Eltern waren natürlich auch besorgt. Wenn es eine Einschüchterung sein sollte, hat es sicher ein Stück weit funktioniert. Aber da ich mich bis dahin eh schon so weit aus dem Fenster gelehnt hatte, war es irgendwie auch schon wurscht.“ Nur wenige Tage später folgt für die Aktivistinnen der nächste Schock: In der Nacht auf den 31. Dezember wird ein Brandanschlag auf eine Holzkonstruktion der Besetzer verübt. Mehrere Personen befinden sich zu dem Zeitpunkt in dem Gebäude. „Um vier Uhr früh schau ich auf mein Handy und sehe: Flammen. Was ich nicht wusste: Sind da Leute drinnen, ist jemand in Gefahr? Ich bin so schnell wie möglich hin, und um fünf Uhr früh steh ich dort, neben mir Kripo und Verfassungsschutz – und ein Aschehaufen, wo vorher ein Gebäude war.“
Auch heute, ein halbes Jahr später, lässt die Erinnerung Schillings Stimme zittern. „Neben der Asche standen noch Schuhe. Diese 16-jährigen Kids sind barfuß durch die Flammen gelaufen.“ Am Ende war zum Glück niemand schwerwiegend verletzt. Die psychologische Wirkung des Attentats war dennoch hartnäckig. „Nach acht Stunden im Dauereinsatz und dem Versuch, das alles medial zu kommunizieren, bin ich nach Hause gefahren, um meine Katzen zu füttern. Und dann sitz ich in der Schnellbahn, auf dem Weg, den ich schon so oft gefahren bin, scrolle auf meinem Handy durch meine Facebook-Nachrichten und sehe die ganzen Drohungen. Ich hatte auch vorher schon Hassnachrichten erhalten, aber in dem Moment habe ich mich ernsthaft gefragt: Was heißt das jetzt? Kann es sein, dass wirklich einmal jemand kommt und versucht, mich anzuzünden?“
„Ich frage immer: Wie viel könnt ihr mitbestimmen?“
Dass der Bürgermeister in einem ersten, durchaus zynischen Kommentar den Aktivisten eine gewisse Mitschuld an dem Ereignis unterstellte, nimmt Lena Schilling ihm bis heute übel. Dass ein ehemaliger SPÖ-Sektionschef dem unbekannten Täter via Facebook gar „einen Orden“ wünschte, empfindet sie mit gutem Grund als Skandal. Die Gesprächsbasis mit der Wiener Stadtregierung, namentlich mit Ulli Sima, ist empfindlich gestört. Auf Anfrage will sich Sima nicht zu Schilling äußern, die Aktivistin gibt eine vielsagende Anekdote zum Besten: „Am 1. Februar wurde das Camp an der Hausfeldstraße geräumt, und während meine Freundinnen Pfefferspray im Gesicht hatten, hat mir Ulli Sima ein Mail geschickt, in dem stand: ‚Meine Hand bleibt ausgestreckt.‘ Da fragt man sich schon: Was sind das für mixed signals? Das ist nicht die Kommunikation, die man in einer schwierigen Beziehung an den Tag legen sollte. Vielleicht sollten wir mal zur Paartherapie gehen.“ Tatsächlich wären die Aktivisten ja kompromissbereit: „Wenn die depperte Straße schon gebaut wird, dann doch bitte mit Kreuzungen, mit Gehsteigen, mit Radwegen, mit Straßenbahnlinien. Wenn man schon die Straße baut, warum dann in der rückschrittlichsten Form, die man sich vorstellen kann?“
Wir nähern uns der großen, vielleicht entscheidenden Frage: Geht es den Klima-Aktivistinnen nur um diese 3,2 Kilometer Asphalt in der Donaustadt? Oder um mehr? Ist die Stadtstraße gar nur ein Symbol? Schilling widerspricht, und dann auch wieder nicht. Es gehe selbstverständlich in erster Linie um diese konkrete Straße, um die falschen Versprechen und verfehlten Visionen, die an ihr hingen. Die Mobilitätswende beginne hier, oder sie beginne nie. Aber natürlich ist diese Straße auch ein Symbol. Ihre übergeordneten Ziele formuliert Lena Schilling so: „Wir wollen eine klimagerechte Welt, eine Mobilität, die so einfach ist, dass niemand mehr eine halbe Stunde im Auto sitzen will. Leistbares Wohnen für alle. Das heißt auch, dass die Stadt Wien nicht ihre Baugründe verspekuliert, dass dem Leerstand der Kampf angesagt wird. Auf einer größeren Ebene heißt es, dass wir europaweit an einer Mobilitätswende arbeiten, an einer Energiewende, auch das ist jahrzehntelang verschlafen worden. Und global betrachtet müssen wir als Europa endlich Verantwortung übernehmen.“
Es geht also ums Klima, und es geht um die Demokratie. Der menschgemachte Klimawandel ist nicht mehr zu leugnen; was der Mensch machen kann, um ihn zu bekämpfen, darüber wird inzwischen tatsächlich schon jahrzehntelang verhandelt. Die jährlichen UN-Klimakonferenzen nähern sich in Mäuseschritten Minimalkonsensen, und nicht nur Greta Thunberg sieht das Haus längst brennen, in dem wir alle gemeinsam sitzen und überlegen, warum es plötzlich so warm ist. Andererseits, so funktioniert Demokratie: Probleme werden erörtert, Lösungen gesucht, Kompromisse vereinbart, und Wahl für Wahl werden die Politiker zur Verantwortung gezogen. Das kann dauern, und es kann Rückschritte geben. -Ziele werden in Jahrzehnten berechnet. Für junge Menschen wie Lena Schilling klingt das nach Problemverschleppung. Ihr Aktivismus speist sich auch aus einem Gefühl der Ohnmacht. Es wurzelt in einer globalen Misere, aber auch im konkreten, individuellen Alltag. „Wenn ich in Schulklassen gehe oder Vorträge halte, dann frage ich immer: Wie viel könnt ihr in eurem Leben mitbestimmen? Und meistens ist die Antwort: Ziemlich wenig.“
Tatsächlich liegt unter dem Klimaprotest auch eine dicke Schicht Generationenkonflikt. Es geht bei den Klimastreiks und Baustellenblockaden auch um Selbstermächtigung. Die deutsche Fridays-For-Future-Aktivistin Ananda Klaar, 18, beschreibt in ihrem neuen Buch „Nehmt uns endlich ernst!“ diesen Grundkonflikt: „Wir werden von den Erwachsenen, vor allem von jenen mit Einfluss, nicht etwa beschützt, wie man das von einer Gesellschaft erwarten würde. Wir werden nicht ermächtigt. (…) Und während wir einerseits nicht ernst genommen werden, während wir keine Stimme haben bei den Themen, die uns selbst betreffen, bürdet man uns andererseits die Lösung vieler Probleme auf, mit denen die Alten nicht klarkommen, die die Alten erst geschaffen haben.“
Aus einer ganz ähnlichen Empfindung speist sich Lena Schillings politischer Aktivismus. Sie wünscht sich eine neue, engmaschige Form von Demokratie, eine Art Graswurzelherrschaft der Betroffenen, eine Stakeholderkratie. Was würde Lena Schilling in eine zukünftige Verfassung schreiben? „Es fängt schon damit an, dass ich nie allein eine Verfassung schreiben würde. Am Ende müssen die Menschen in den Themenbereichen, in denen sie Experten sind, also in ihren Jobs, in der Schule, der Lehre, der Uni, für ihren Bereich die Dinge festlegen, die notwendig sind. Die Leute, die in einem bestimmten Bereich unterwegs sind, müssen Lösungen formulieren.“ Den von der Bundesregierung eingesetzten Klimarat von 100 repräsentativ ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern hält sie zwar tendenziell für ein klientelpolitisches Feigenblatt (und weist auch darauf hin, dass ÖVP-Vertreter dem Rat schon präventiv ausgerichtet haben, dass seine Empfehlungen selbstverständlich nicht bindend seien) – er sei allerdings auch ein handfester Beweis dafür, „dass Menschen sehr viel progressivere Ideen haben, als ihnen zugetraut wird. Wir haben in Österreich klare Mehrheiten für eine fortschrittliche Klimapolitik.“ Es gelte freilich, den verantwortlichen Politiker:innen und Behörden diese Mehrheiten immer wieder unter die Nasen zu reiben. Und sei es mit einer Baustellen-Besetzung.
Mehrheitsmeinungen sind im Übrigen selten in Stein gemeißelt, die Vorstellung von einem gelungenen Leben ist wandelbar. Ein schönes Beispiel von vor 120 Jahren: Ein Kommentar aus einem US-amerikanischen Magazin aus dem Jahr 1899, es ging um eine damalige Mobilitätswende: „Es gibt Stimmen, die behaupten, das Automobil werde das Fahrrad ersetzen, aber dies ist blanker Unfug. Jene, die ihr Fahrrad liebgewonnen haben – und es gibt bereits mehrere Millionen Fahrradfahrer –, werden nicht so schnell auf das wunderbare Gefühl verzichten, wie ein Vogel durch die Landschaft zu gleiten, und schon gar nicht zugunsten des wesentlich zweifelhafteren Vergnügens, in einem mühsamen und übel riechenden Automobil zu reisen.“
Wie der Mensch die Welt sieht, hängt immer auch davon ab, was er alles zu sehen bekommt. Lena Schilling steht nicht an, es ihm zu zeigen.
Eine kurze Geschichte der „Lobau bleibt“-Bewegung
16.5.2021: Presseaussendung des Jugendrats. Lena Schilling: „Wird Lobau-Tunnel gebaut, machen wir 2. Hainburg.“
28.8.2021: Errichtung des ersten, angemeldeten Protestcamps in der Hirschstettner Anfangstraße.
30.8.2021: Besetzung der Stadtstraßen-Baustelle bei der Hirschstettner Straße 44.
6.9.2021: Blockade der Stadtstraßen-Baustelle bei der Hausfeldstraße.
20.9.2021: Besetzung der SPÖ-Zentrale in der Löwelstraße durch Aktivistinnen von Extinction Rebellion.
23.9.2021: Greenpeace-Aktivistinnen besetzen das Büro des Wiener Bürgermeisters Michael Ludwig.
24.9.2021: Achter globaler „Klimastreik“ von Fridays For Future. In Wien ist die „Lobau bleibt“-Besetzung Leitthema der Veranstaltung.
31.10. – 13.11.2021: In Glasgow findet die 26. UN-Klimakonferenz statt.
1.12.2021: Umweltministerin Leonore Gewessler verkündet das Aus für den Lobau-Tunnel.
10.12.2021: Die Stadt Wien lässt Anwaltsbriefe mit Klagsdrohungen an Klima-Aktivistinnen verschicken.
31.12.2021: Auf das Camp in der Hirschstettner Straße wird ein Brandanschlag verübt.
21.1.2022: Die Wiener Stadtregierung präsentiert den Wiener „Klimafahrplan“. Wien soll bis 2040 klimaneutral sein.
23.1.2022: Gesprächstermin zwischen „Lobau bleibt“-Aktivistinnen und Verkehrsstadträtin Ulli Sima endet ergebnislos.
1.2.2022: Räumung des Protestcamps bei der Hausfeldstraße. 48 Personen werden vorläufig festgenommen.
28.2.2022: Der Weltklimarat IPCC veröffentlicht seinen jüngsten Klimabericht. Die Forscher warnen, dass schon 2030 die Erderwärmung die 1,5-Grad-Schwelle erreichen könnte.
25.3.2022:Weltweiter Klimastreik von Fridays For Future. In Wien zählen die Veranstalter 10.000 Teilnehmerinnen.
5.4.2022: Räumung des Camps in der Hirschstettner Straße. 25 Personen werden vorläufig festgenommen.
25.5.2022: Wiederbesetzung des Protest-Camps „Wüste“ in der Hausfeldstraße. Die Polizei räumt das Gelände umgehend.
28.5.2022: Demonstration von „Lobau bleibt“ vor dem SPÖ-Parteitag in Wien.
14.6.2022: Klimaschutz-Konferenz „Austrian World Summit“ in Wien.