Wien-Sonnwendviertel: Prominente bauen ein Haus für Arme
Favoriten lag immer hinter den Gleisen. Wie ein Schutzwall schirmten sie Wiens inneren Teil seit dem Bau der k. u. k. Südbahn Mitte des 19. Jahrhunderts vom großen Vorstadtdistrikt ab. Nur wenige Hundert Meter Luftlinie südlich des prachtvollen Belvedere des Prinzen Eugen erstreckten sich öde Zeilen von Arbeiterhäusern mit Wasser am Gang und Plumpsklo im Hof. Dazwischen lagen unüberwindlich Dutzende Gleisstränge.
Seit dem Bau des Wiener Hauptbahnhofs ein gutes Stück westlich des alten Südbahnhofs ist hier alles anders: Wo heruntergekommenes Frachtenbahnhofgelände die Stadt teilte, stehen inzwischen hübsche Wohnanlagen. Auch einen Namen hat dieses Areal bekommen, das so lange nur Gegend war: Sonnwendviertel, benannt nach einer früher in die Ödnis rostender Lagerschuppen mündenden Gasse.
Auf dem von Gleisen befreiten Areal haben heute Erste Bank, Bawag und ÖBB ihre Firmenzentralen, der Finanz-und Unternehmensberater BDO verlegte sein Hauptquartier hierher, René Benkos Signa Holding baute Türme mit feinen Büros und luxuriösen Appartements.
"Haus der Zukunft und der sozialen Innovation"
Demnächst bekommen auch die armen Leute etwas - und das ist nicht von schlechten Eltern. Der Entwurf für das hier entstehende "Haus der Zukunft und der sozialen Innovation" ist immerhin Wolf D. Prix/Coop Himmelb(l)au zu verdanken. Auf 5000 Quadratmetern Nutzfläche soll an diesem Ort geschehen, was in der rauen Wirklichkeit oft zu kurz kommt. Im Erdgeschoss wird es ein Tageszentrum für obdachlose Frauen geben, in einem Kunstund einem Wissensraum sollen Talente in zu wenig geförderten Jugendlichen entdeckt und armutsgefährdeten Kindern der Zugang zu Bildung gewiesen werden. Ein Kinder-Gesundheitszentrum ist vorgesehen, weil Kinder und Jugendliche, die in ärmeren Familien aufwachsen, doppelt so oft krank sind wie in Durchschnittsfamilien Aufwachsende und weit häufiger an Karies leiden. Im neuen Haus wird es eine medizinische Erstversorgung für alle geben, also auch für Menschen ohne Sozialversicherung - allein in Wien sind das mehr als 20.000. Ein Grätzl-Café und ein Kino sind ebenfalls eingeplant, auch Kabarett kann gespielt werden.
Die Büroflächen im Dachgeschoss des neuen Hauses sollen an Start-ups, Digitalunternehmen, aber auch NGOs vermietet werden. Das zwecks Lichteinfall großzügig abgegrabene Untergeschoss wird ebenfalls vermietet. Die Einnahmen fließen in den Betrieb des Hauses zurück, denn das Unternehmen CAPE 10, benannt nach dem 10. Wiener Gemeindebezirk, Favoriten, ist zu strikter Gemeinnützigkeit verpflichtet.
Ersonnen haben das Projekt der Internist Siegfried Meryn, der Wiener Unternehmer, Wirt, Großwinzer und Eishockey-Präsident Hans Schmid, der Sozialwissenschafter Harald Katzmair und der inzwischen leider verstorbene Chef der Vienna Gruppe, Andreas Hutflesz. Die Partnerfirma der Vienna Gruppe, IC Development, entwickelte bereits das boomende Viertel Zwei am Rande des Wiener Praters und unterstützt von Beginn an CAPE 10. Einen zentralen Gedanken des Projekts verfolgt Gründer Meryn seit Jahren mit seiner Aktion "Nein zu krank und arm", die sich der Prävention vor "Armutkrankheiten", der Hilfe für erkrankte Alleinerzieherinnen, der Kostenübernahme von medizinischen Leistungen für Bedürftige und der Soforthilfe in Gesundheitsfragen verschrieben hat. Auch diese Organisation wird künftig im CAPE 10 einquartiert. Die bereits angelaufene Aktion "Max &Lara" wird mitübersiedelt. Ihr Ziel ist es, Kindern, die aus finanziellen Gründen nicht ins Kino oder Theater, nicht ins Stadion oder in den Prater ausgeführt werden können, ebendies zu ermöglichen. Prominente "Paten" tun dies schon seit einigen Monaten.
Dank OMV konnten im Vorjahr 22 Kinder mit ihren Eltern am Kinder-Weihnachtsball in der Hofburg teilnehmen. Auf Einladung von Direktorin Karin Bergmann ging man im März ins Burgtheater, die Wiener Austria lud zu einem Heimspiel ins Stadion am Verteilerkreis, die Gastronomie-Familie Kolarik tischte im Schweizerhaus im Prater auf, Dominique Meyer ließ die Kinder hinter die Kulissen der Staatsoper schauen, und von Hans Schmid gab es Karten für den Saisonstart der Wiener Capitals. Demnächst wird mit Toni Mörwald gekocht.
"Sehr nahmhafte Spenden"
Meryn, seit Jahren ein agiler Netzwerker, hat prominente Unterstützer für die gute Sache an Bord geholt: OMV-Generaldirektor Rainer Seele, Siemens-Österreich-Chef Wolfgang Hesoun und Medienmacher Gerhard Zeiler zieren den neuen CAPE-10-Prospekt. Bauunternehmer Hans Peter Haselsteiner und der inzwischen in Russland aktive Ex-Magna-Chef Siegfried Wolf haben sich "mit sehr namhaften Spenden" (Meryn) eingestellt.
Der Künstler Erwin Wurm wird den Kunstraum entwickeln, Matthias Naske will dort das Konzerthaus anbieten, Nicholas Ofczarek und Harald Krassnitzer sind für Schauspiel zuständig.
Für das neue Quartier hätte man keinen besseren Standort finden können als diesen hier am Rand des 10. Wiener Gemeindebezirks. Favoriten ist mit seinen rund 200.000 Einwohnern nicht nur der größte Bezirk Wiens, der "zehnte Hieb" wäre nach Wien, Graz und Linz auch Österreichs viertgrößte Stadt. In keinem anderen Bezirk Wiens werden so viele Kinder geboren wie hier (zuletzt 2200 pro Jahr). In Favoriten sind rund 50.000 Zuwanderer gemeldet, das Durchschnittseinkommen ist mit 26.000 Euro pro Jahr das drittniedrigste der Stadt, nur in der Brigittenau und in Rudolfsheim-Fünfhaus verdient man noch weniger.
Wiens kinderreichster Bezirk hat derzeit dennoch nur fünf Kinderärzte, eine Fachärztin für Jugendpsychiatrie und sieben Gynäkologen. Die Lebenserwartung in Favoriten beträgt 75 Jahre, das sind sechs Jahre weniger als im wohlhabenden Döbling.
Das liegt auch daran, dass Kinder und Jugendliche, die in materiell schlechteren Verhältnissen aufgewachsen sind, später dreimal so oft an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Gelenksproblemen, Diabetes und psychischen Leiden laborieren. Die höhere Krankheitsanfälligkeit ist nicht nur eine Folge der schlechteren Wohnverhältnisse und der ungesünderen Ernährung, sondern auch der mangelnden Information, was dem Körper guttut und was nicht.
Dem soll nun im CAPE 10 abgeholfen werden.
Obwohl Siegried Meryn und Hans Schmid den Sozialdemokraten nahe stehen (Meryn saß viele Jahre für die SPÖ im ORF-Stiftungsrat, Schmid managte Wahlkämpfe für Franz Vranitzky), ist das Projekt strikt überparteilich. Im Advisory Board, dem Beratungsgremium des Projekts, sitzen etwa der ehemalige ÖVP-Obmann Josef Pröll, Wirtschaftskammerpräsident Harald Mahrer und der frühere Raiffeisen-International-Generaldirektor Karl Sevelda, ein Liberaler bis ins Mark.
Die Pläne sind eingereicht, mit dem Bau könnte im zweiten Quartal 2019 begonnen werden. Ende 2020 soll das CAPE 10 den Betrieb aufnehmen.