Wir Heimkinder klagen an
Andreas Gugl, 49
Vater: unbekannt, stand in der Geburtsurkunde. Seine Mutter, damals keine 16, wurde auf der Fahrt von einem Feuerwehrfest nach Hause mehrfach missbraucht. Von einem der Täter wurde sie schwanger. Ihre Eltern jagten sie daraufhin vom Hof. Die junge Frau landete am Straßenstrich. Der kleine Andreas blieb bei den Großeltern zurück. Als der Bub eines Tages erzählte, dass ihn eine Großtante sexuell missbrauchte, wurde er der Lüge bezichtigt und landete im Landeskrankenhaus Klagenfurt auf der Heilpädagogischen Abteilung von Franz Wurst. Der mit dem Goldenen Ehrenzeichen des Landes Kärnten ausgezeichnete Primar wurde 2002 wegen Anstiftung zum Mord an seiner Ehefrau und sexueller Nötigung von minderjährigen Patienten zu 17 Jahren Haft verurteilt. 38 ehemalige Patienten sagten aus, in Erholungs- und Erziehungsheimen von Wurst missbraucht worden zu sein. Auch Andreas Gugl wäre als Zeuge geladen gewesen, doch er saß zur Zeit des Prozesses in Frankreich im Gefängnis, weil er einen Pädophilen erschossen hatte. Vor Kurzem bekam Gugl von der Opferschutzkommission Kärnten 18.000 Euro dafür zugesprochen, dass er nicht nur von Wurst, sondern auch in Heimen in Görtschach, Hartberg und Rosenhof über Jahre hinweg geprügelt, sadistisch gequält und sexuell missbraucht worden war. Auch das hatte dem Jugendlichen seinerzeit niemand geglaubt. Zwei Mal hatte er in seiner Not versucht, seinem Leben ein Ende zu setzen und war in der Psychiatrie gelandet. Heute, 35 Jahre später, ist für Gugl das schmerzhafte Kapitel längst nicht abgeschlossen: „Wurst war nicht der einzige Täter, es gibt noch viel mehr.“
Verena Udel, 60
Was ist eine Zerstörung wert, die man von außen schwer sehen kann? Verena Udel spielte zeit ihres Lebens den fröhlichen Kumpel. Nur die wenigsten in ihrem Umfeld wussten, dass die Frau, die von ihrer Geburt an in Heimen aufgewachsen war, innerlich tief verletzt war und dass sie als Erwachsene beschlossen hatte, dass ihr niemand mehr wehtun sollte. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass Nähe bedeutete, angespuckt, getreten und missbraucht zu werden. So war es für das Kindergartenkind, in der Volksschule, in der Hauptschule im Heim in Biedermannsdorf, im Poly und bei den Nonnen im St. Josefsheim in Brunn am Gebirge. Später zuckte sie oft zusammen, wenn jemand sie berührte, selbst wenn es eine Krankenschwester war. Sie wurde zur Einzelgängerin, blieb all die Jahrzehnte hinweg „wirklich, wirklich allein“, arbeitete als Pflegehelferin bei der Gemeinde Wien und machte eine Ausbildung zur Sozialarbeiterin. Seit einem Jahr ist sie in Pension, sie könnte sich entspannen: „Aber das Gefühl der Bedrohung geht nie weg.“ Sie hat eine Weile überlegt, ob sie als nunmehr offiziell anerkanntes Opfer der Kirche die ihr zugesprochenen 15.000 Euro überhaupt annehmen sollte. Sie war froh, damit einen Kredit abdecken zu können. Andererseits war ihr erst da bewusst geworden, dass sie es nie geschafft hatte, ihr Leben zu genießen, dass sie keine Freude kannte und sich keinen Tag geborgen und sicher fühlen konnte: „Diesen Verlust kann kein Geld der Welt wettmachen.“
Robert Volek, 64
Immer diese Albträume, das quälende Gefühl, nicht aufrichtig zu sein: Erst 2010 konnte Robert Volek seiner Frau erzählen, wie seine ersten 21 Jahre wirklich gewesen waren. Gemeinsam weinten sie über sein grausames Schicksal, das den Buben in einem Heim in Wien zur Welt kommen ließ und ihn bis zur Volljährigkeit von einem ins nächste weiterschob. In dieser Zeit war er auf viele Arten gedemütigt, geschlagen und missbraucht worden. Als er begann, seine Geschichte aufzuschreiben, fand er nach 40 Seiten immer noch kein Ende. Lücken, Zweifel, Fragen: In seinem Akt fehlen Spitalsaufenthalte, Beschwerden über Erzieher, Polizeiprotokolle. Volek war einer der Ersten, der seine Geschichte öffentlich machte. Beim Weißen Ring wurde er als Opfer Nummer 29 vorstellig und bekam für die Zeit seines Aufwachsens in verschiedenen Heimen der Stadt Wien 25.000 Euro zugesprochen, eine Geste, keine Entschädigung. Der Gedanke, dass die politisch Verantwortlichen schon vor Jahrzehnten über die Zustände in den Heimen Bescheid wussten, macht ihn krank. Eine schnelle Entschuldigung reicht ihm dafür nicht. „Dazu gehören immer zwei, jemand, der sie ausspricht, und jemand, der sie annimmt.“ Man habe einfach zu lange geschwiegen.
Franz Josef Stangl, 63
Kaum hatte er das Drama seiner Kindheit zu Papier gebracht, hätte er es umschreiben müssen. „Der Bastard“ heißt der erste Band der Lebenserinnerungen des 1952 in Graz geborenen Buben einer überforderten, ledigen Mutter. Er war fünf, als die Fürsorge eine Pflegemutter für ihn fand, die ihn prügelte, elf, als er vor dem Drill im Grazer Erziehungsheim Rosenhof davonlief, zwölf, als er in der Besserungsanstalt Steyr-Gleink einem NS-Kampfpiloten, der Priester geworden war, in die Hände fiel (nachzulesen im Band „Der Klosterzögling“). Mit 16 landete Stangl in einem Jugendheim in Korneuburg, wo Erzieher ihn mit Fäusten traktierten und traten, bis er bewusstlos war. Er arbeitete von früh bis spät, für einen Schilling am Tag. Mit 18 wurde er als „unerziehbar“ entlassen, körperlich und seelisch zerstört. Er betäubte sich mit Alkohol, ging einbrechen, kam ins Gefängnis. Anfang der 1980er-Jahre zwangen ihn Panikattacken, sich seiner Vergangenheit zu stellen. 1986 blätterte Stangl erstmals im Fürsorgeakt. Er suchte seine Schwester und seine Mutter. 2009 ließ er den Akt erneut ausheben und fand darin ein vierseitiges Dokument, demzufolge seine Mutter von ihrem Adoptivvater missbraucht worden war und seine Schwester der Vergewaltigung entstammte. Da war der erste Teil seiner literarischen Erinnerungen schon erschienen: „Mein Opa ist darin gut weggekommen. Ich hatte ja keine Ahnung.“ Inzwischen sind die Zettel verschwunden: „Jemand hat in dem Akt herumgestochert. Ich weiß bis heute nicht, wer das war.“
Ursula Trollmann, 57
Behütet und schwerelos hatte ihr Aufwachsen begonnen. Sie lebte bei ihrer Großmutter, bis ihre Mutter von einem neuen Mann schwanger wurde, sie zu sich holte und das Martyrium seinen Lauf nahm. Der Stiefvater verging sich an ihr. Das Mädchen vertraute sich der Oma an, die ihr glaubte, ihre Mutter aber beschimpfte sie als Lügnerin und schob sie ins Heim ab. Im April des Vorjahres sagte Ursula Trollmann in einem der bis heute ganz wenigen Strafprozesse, in denen sich Täter verantworten müssen, in einem abgetrennten Raum vor einer Videokamera aus, was sie in sechs Heimjahren am Wilhelminenberg, im Polizeikinderheim in der Wiener Boltzmanngasse, in Klosterneuburg, in Wien-Nussdorf und in Brunn am Gebirge durchgemacht hatte: Vergewaltigungen, Wasserfolter, Hunger, unfassbare Gewalt. Drei Mal unterbrach das Gericht, weil sie unter den Erinnerungen kollabierte. Als Kind hatte Ursula Trollmann gelernt, ihren Schlägern in die Augen zu schauen und niemals zu weinen. „Dir muss man den Schädel einhauen, damit du etwas spürst“, schimpften sie. Die Klasnic-Kommission sprach ihr 15.000 Euro zu, das Bundessozialamt versagte ihr eine Opferrente. Kein Betrag der Welt kann die heute 57-Jährige dafür entschädigen, dass sie kein spielender, junger Mensch sein durfte, dass man ihr „alles genommen hat, meine Würde, meinen Stolz, meine Kindheit und sogar mein Lehrlingsgeld“. Sie möchte nur endlich nicht mehr herumgestoßen und verächtlich gemacht werden, sondern als „ganzer Mensch gesehen und respektiert“.
Ilonka Stahleder, geb. Redinger, 62
1958 bis 1968, das waren ihre zehn Jahre am Wilhelminenberg. „Es weiß ohnedies jeder, wie es da zugegangen ist, was soll ich viel sagen?“ Der Bericht der von der Stadt Wien eingesetzten Untersuchungskommission ist 344 Seiten dick. „Außer sexuellem Missbrauch habe ich ziemlich alles erlebt, was da beschrieben ist“, sagt Ilonka Stahleder. Durst, Hunger, Schmerzen, Erniedrigungen, Ohnmacht, Einsamkeit, Angst. Mit 15 kam das Kind einer Alkoholikerin in das von Klosterschwestern geführte St. Josefsheim Brunn am Gebirge, und obwohl das schwer vorstellbar ist, „dort war es noch schlimmer, die Hölle auf Erden“. Sie sei bei 60 Grad in der Waschküche gestanden, habe bis zum Umfallen genäht und gebügelt, ohne einen Schilling dafür zu sehen. Nach einem Jahr durfte sie zu ihrer Mutter zurück. Die Angst, in einen Abgrund zu stürzen, verfolgte sie ihr ganzes Leben lang. Sie heiratete einen Mann, der sich als Schläger herausstellte, ließ sich wieder scheiden, musste um die Alimente kämpfen und drehte fast durch bei dem Gedanken, sie könnte ihren Hausbesorgerposten verlieren und das Jugendamt ihre Tochter in ein Heim stecken. Nur für ihr Kind habe sie all die Jahre durchgehalten, „ich wäre sonst irgendwann untergegangen“. 5000 Euro bekam sie von der Kirche, 20.000 von der Stadt Wien für die Jahre am Wilhelminenberg. Sie nahm das Geld und fühlte sich dabei wieder wie das kleine Mädchen, das man vor mehr als 50 Jahren ins Heim gesteckt hatte: „Da hast du, mehr bist du nicht wert, und jetzt gib Ruhe!“
Karl Martinek, 63
„Ich war Marillenpflücken.“ Damit pflegte der 63-jährige Wiener die Lücken im Lebenslauf zu erklären, die Aufenthalte im Gefängnis gerissen hatten. „Lieber Karl, das ist keine Strafe, sondern eine Erziehungsmaßnahme“, sagte der Richter zu dem 14-jährigen, der eben aus einem Heim ausgebrochen war. In der gefürchteten Besserungsanstalt Kaiserebersdorf sollte der Bub auf den rechten Weg zurückfinden. Gewalt war alltäglich. Eines Tages ging Martinek mit dem Spitzbohrer auf einen Erzieher los, der gedroht hatte, ihm die Zähne einzuschlagen. Daraufhin wurde er im Besinnungsraum verprügelt, bevor man ihn, nur im T-Shirt und in Handschellen, mit einem Lkw nach Kirchberg am Wagram verfrachtete. Dort, in einem ehemaligen Bezirksgefängnis, wurden in zehn Zellen Burschen wie er festgehalten. „Es war eiskalt, wir haben am Tag einen halben Liter Wasser zu trinken bekommen, statt einer Toilette hat es einen Kübel gegeben, und verarztet hat uns ein Tierdoktor“, sagt Martinek. Beamte hätten ihn „mit Zigaretten an den Hoden verbrannt und auch sonst arg gefoltert“. Als er später seinen Akt im Staatsarchiv ausheben ließ, fand sich neben belangloser Korrespondenz aus dieser Zeit ein einziges Blatt Papier. 29. Juni 1967 bis 18. November 1969, für Martinek bis heute der einzige handfeste Beleg, dass es bis in die 1960er-Jahre in Kirchberg am Wagram, gegenüber dem Wirt, „wo sich die Beamten angesoffen haben, bevor sie uns gequält haben“, ein „Guantanamo“ gegeben habe. Für 17 Jahre in Heimen sprach die Stadt Wien Martinek 20.000 Euro zu, „drei Euro am Tag“. Vom Bund: null, weder Geld noch eine Entschuldigung.
Margit Christine Skala, 71
Ihre Mutter, eine Alleinerzieherin, hatte nie Zeit. Als Mädchen zog sie von Nachbar zu Nachbar, von Tante zu Onkel, verbrachte die Sommer im Ferienlager. Mit neun kam sie in ein von Nonnen geführtes Heim in der Hinterbrühl. Die Ordensfrauen schlugen mit Bürsten auf nackte Hände, zwangen die Mädchen, ihr Erbrochenes zu essen. Als Margit Christine Skala Reißaus nahm, verurteilte das Jugendgericht sie wegen Vagabundage zu zwei Wochen Haft. Danach landete sie für dreieinhalb Jahre in einem Heim in Wiener Neudorf, wo jede Aufmüpfigkeit mit „Korrektion“ geahndet wurde, eiskalte Dunkelhaft in einem Verlies unter der Kirche. Sie habe sich die Haare ausgerissen, um sie im Finsteren zu zählen, und vertrage bis heute keine geschlossenen Räume, sagt die 71-Jährige: „Bei mir zu Hause sind alle Türen ausgehängt.“ Mit 14 arbeitete sie 65 Stunden in der Woche, schleppte schwere Wasserkübel in der Wäscherei und zwickte am Abend Strasssteine in Metallfassungen, eine Leiharbeit für ein Unternehmen aus der Gegend. Dafür hat sie nie einen Lohn gesehen. Der Orden streifte sogar die 80 Schilling ein, die sie bei ihrer Einlieferung in der Tasche trug. Mit 21 trat Skala in eine Welt hinaus, in der sie nicht einmal das Geld kannte. Für die Misshandlungen durch die Nonnen in der Hinterbrühl erhielt die inzwischen 71-jährige Wienerin 5000 Euro von der Kirche zugesprochen, 15.000 legte der Weiße Ring für die Jahre in Wiener Neudorf drauf. Das an ihr begangene Unrecht sei damit nicht abgegolten, sagt Skala: „Ich will zumindest den Lohn und die Versicherungszeiten zurück, die man mir vorenthalten hat.“