Neymar

WM-Tagebuch: Aua!

Brave Japaner, böser Neymar – und eine englische Elfmetersensation.

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Wenn einmal der Wurm drin ist, gibt es kein gutes Ende mehr. Das gilt für Äpfel und Kirschen genauso wie für den deutschen Beitrag zu dieser Fußball-WM: Am Mittwoch vergangener Woche teilte der Weltverband FIFA mit, dass auch der deutsche Schiedsrichter die Heimreise antreten muss. Nach dem frühen Aus des Teams hätte der Münchner Felix Brych eigentlich gute Chancen gehabt, mindestens noch eine wichtige Partie zu pfeifen – mit etwas Glück vielleicht sogar das Finale. Stattdessen blieb es bei nur einem Einsatz in der Gruppenphase.

Schuld am verfrühten Urlaubsantritt ist offenbar ein nicht gegebener Elfmeter für Serbien im Match gegen die Schweiz. Der serbische Coach Mladen Krstajić hatte danach spontan angeregt, Schiri Brych dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag zu überantworten. Dieser Idee wollte die FIFA zwar nicht nähertreten, aber die Schmach ist auch so groß genug: Die letzte WM, bei der ein deutscher Schiedsrichter nur ein einziges Spiel leiten durfte, fand 1982 statt.

Und jetzt reicht es dann langsam mit den historischen Pleiten für unser schwer gebeuteltes Nachbarland (siehe dazu auch die Covergeschichte dieser Woche). Wir hatten unseren Spaß; mittlerweile ist es bloß noch mitleiderregend.

Vielleicht hat es die Deutschen getröstet, mitanzusehen, welch schwere Bürde der Aufstieg ins Achtelfinale für einige Mitbewerber bedeutete. In der ersten Entscheidungs- woche dominierte der Angsthasenfußball. Matches wie Schweden gegen die Schweiz und Kroatien gegen Dänemark lassen sich aus der Perspektive des Publikums getrost als Vergeudung von Lebenszeit archivieren. Dass junge Männer grundsätzlich zum Draufgängertum neigen, wie die Wissenschaft behauptet, kann man nach diesen Darbietungen nicht mehr ganz glauben. Sogar der sonst meist unerschrocken wirkende Xherdan Shaqiri zeigte plötzlich Nerven. Sympathisch eigentlich, aber leider furchtbar langweilig zu besichtigen.

Wo von selbst keine Dramatik aufkommen will, sorgt wenigstens das Reglement der K.o.-Phase gelegentlich für Prickeln. Gleich drei Begegnungen im Achtelfinale wurden durch Elfmeterschießen entschieden. Überraschendster Sieger dabei: England, das in der Vergangenheit fünfmal hintereinander in dieser Disziplin gescheitert war. Mal lag es an den Schützen, mal an den berüchtigten englischen Tormännern, meistens teilte man die Schuld brüderlich. Doch am 3. Juli 2018 endete der Fluch. „England gewinnt ein Elfmeterschießen – eine Schlagzeile, von der Sie dachten, dass Sie sie niemals lesen werden“, schrieb das Boulevardblatt „Sun“. Gewohnt blumig berichteten die Kollegen in Kolumbien über das dramatische Ende: „England hat die Angst Kolumbiens gespürt und, wie ein Hai das Blut schmeckt, mit all seinen Waffen angegriffen.“

Davon abgesehen, lieferte Woche drei in Russland ein paar interessante Erkenntnisse: • Das Altherrenballgeschubse der Spanier ist, ganz ehrlich, nicht mehr auszuhalten. Man versäumt keine wesentlichen Szenen, wenn man sich während eines Spiels die Nägel manikürt, Sudokus löst oder Hemden bügelt. Der gelegentliche Blick auf den Fernseher zeigt immer das gleiche Bild: Andrés Iniesta und Kollegen schieben im Mittelfeld den Ball hin und her, schön langsam und vorsichtig, damit nur ja keiner ins Schwitzen kommt. Zum Glück hatte der russische Torwart Igor Akinfejew am 1. Juli einen guten Tag und hielt am Ende zwei Elfmeter der Spanier. Für diesmal haben wir Tiki-Taka also hinter uns.

• Seit ein paar Tagen geistert das Gerücht herum, Real Madrid sei an Kylian Mbappé interessiert – und bereit, für den 19-jährigen Franzosen 272 Millionen Euro zu bezahlen. Real dementiert zwar, aber das muss nicht viel heißen. Falls er bei Paris Saint-Germain bleibt (wo er derzeit nur leihweise spielt), wird es auch nicht billig; 180 Millionen wären als Ablöse für den Teenager fällig. Man kann das natürlich verrückt finden. Aber wer Mbappé im Match gegen Argentinien gesehen hat, versteht das Wettbieten um den jungen Mann. Zwei Tore schoss Mbappé selbst, an einem weiteren war er beteiligt. Im Sprint erreicht er eine Höchstgeschwindigkeit von 38 km/h. In Balltechnik und Spielverständnis ist er den meisten anderen weit voraus. Selten hat es so froh gemacht, einem Fußballer bei der Arbeit zuzusehen. Frankreich ist bereits im Halbfinale; die Mbappé-Show kann damit weitergehen.

• Um bei der #Neymar-Challenge mitzumachen, muss man nicht viel können. Es reicht, sich auf den Boden zu schmeißen, hysterisch zu schreien und eine Art Todeskampf zu simulieren. Das ist dann schon ziemlich nahe am großen Vorbild. Wenigstens die Twitter-Comunity hat also ein neues Hobby. Die meisten Fußballfans finden die Darbietungen des brasilianischen Superstars mittlerweile nicht mehr lustig. Wie der Schweizer Fernsehsender SRG errechnete, lag Neymar in den vier Spielen bis zum Viertelfinale insgesamt 14 Minuten lang auf dem Boden, winselnd, sich windend, sein baldiges Ableben simulierend. Am tollsten trieb er es in der Partie gegen Mexiko, als selbst die Zyniker im Publikum an eine ernsthafte Verletzung glaubten. Ein Mexikaner war ihm in der 71. Minute auf den Knöchel getreten. Neymar schrie wie am Spieß und rollte sich mit verzerrtem Gesicht über den Rasen. Nach fünf Minuten war er wieder fit und leistete einen brillanten Beitrag zum 2:0. Außer ein paar Grasflecken auf Hose und Trikot gab es offensichtlich keine Spätfolgen zu beklagen. Juan Carlos Osorio, Trainer der Mexikaner, fand danach klare Worte: „Er ist eine Schande für den Fußball.“ Dennoch soll Real Madrid auch an ihm interessiert sein. Kolportierte Ablösesumme: 300 Millionen Euro.

• In aufgeklärten Kreisen gilt es als unfein, mit Länderklischees zu arbeiten. Menschen seien überall auf der Welt ganz unterschiedlich, heißt es; so etwas wie eine nationale Befindlichkeit gebe es gar nicht. Geschenkt. Aber könnten wir bitte für die Japaner eine Ausnahme machen? Deren Fans waren schon in der Gruppenrunde damit aufgefallen, dass sie nach dem Match in ihrem Sektor ordentlich aufräumten. Und zwar nicht so, wie englische Hooligans (schon wieder so ein Klischee!) das tun würden, sondern im Wortsinn: Sie sammelten Plastikbecher und Papier ein und machten alles wieder schön sauber. Auch nach der bitteren Niederlage im Achtelfinale gegen Belgien – das 3:2 fiel erst in der Nachspielzeit – waren die Japaner nicht etwa frustriert und grantig, sondern fingen erneut an zu putzen. Später wurde bekannt, dass sogar die Kicker das machten. Die Mitglieder des japanischen Nationalteams hinterließen ihre Kabine besenrein und mit einem kleinen „Danke“-Schildchen in kyrillischer Schrift auf der Ablage. Gespielt hat Japan übrigens auch sehr ordentlich.

• Wenn FIFA-Präsident Gianni Infantino auf der Ehrentribüne neben Wladimir Putin sitzt, wirkt der russische Präsident auf einmal total seriös. Es kommt eben immer auf das Umfeld an. Am Freitag schickte Infantino eine Grußbotschaft an die zwölf jungen Fußballer, die in einer Höhle in Thailand festsitzen. Sollte es deren Gesundheit erlauben, seien sie alle zum WM-Finale nächsten Sonntag eingeladen, schrieb Infantino. Man mag ihm zugutehalten, dass er es nett meinte, aber wie es aussieht, werden die armen Burschen am Sonntag noch in der Höhle sein.

Wenn der Rekordweltmeister schon im Viertelfinale gegen einen Geheimfavoriten antreten muss, ist das zunächst einmal Pech für beide. Für das Publikum war die Partie Brasilien gegen Belgien am Freitagabend aber ein Leckerbissen. Gewonnen hat der Geheimfavorit; Belgien schlug Brasilien mit 2:1. Neymars Versuche, einen Elfmeter zu schinden, blieben erfolglos. Er kann sich jetzt zu Hause von seinen Verletzungen erholen.

Rosemarie Schwaiger