Wohnen nach Corona: Heim-Spiele
Leben nach Corona - Teil 3: Wohnen
Dieser Tage jährte sich der erste Corona-Lockdown in Österreich. Im Angesicht der Corona-Pandemie wurde am 16. März 2020 das öffentliche Leben im Land vorübergehend stillgelegt. Der Lockdown ging zu Ende (bevor wieder ein neuer verhängt wurde),der Einschnitt ist geblieben. Ein Schock hatte sich verfestigt. Die Welt war, buchstäblich über Nacht, eine andere geworden, unser Lebensstil hatte sich in weiten Teilen als untauglich erwiesen. Schon in den ersten Wochen der Pandemie häuften sich deshalb die Spekulationen: Wie wird die Welt danach aussehen? Wie wird uns Corona verändern-und was wird bleiben, wie es war? Nach einem Jahr ist nun Zeit, Bilanz zu ziehen und noch einmal, genauer, nach vorn zu schauen: Wie werden wir leben, wenn die Gefahr, die vom Virus ausgeht, tatsächlich geringer wird und vielleicht ganz verschwindet? Was werden wir konsumieren, wohin werden wir reisen, wie werden wir uns kleiden, wie wohnen? In einer neuen Serie widmen wir uns diesen Fragen.
Es mag zynisch klingen, aber tatsächlich haben sich Seuchen in der Geschichte immer wieder befruchtend auf Architektur und Design ausgewirkt. Ohne die von der großen Cholera-Epidemie des 19. Jahrhunderts ausgelöste Verelendung von Paris hätte Napoleon III. den Architekten Georges Eugène Haussmann 1853 wohl nicht damit beauftragt, aus der düsteren Metropole eine imperiale "Stadt des Lichts" zu meißeln. Bis heute zehrt Paris mit seinen Prachtstraßen und Nervenzentren wie der Place de l'Étoile von Haussmanns Gestaltungsfuror.
Die Bauhaus-Pioniere Marcel Breuer und Ludwig Mies van der Rohe wiederum waren mit ihren minimalistischen Stahlmöbeln stark beeinflusst von Krankenhaus-Interieurs. Regelrecht Architekturgeschichte wurde mit zwei Sanatorien geschrieben: Josef Hoffmanns Sanatorium Purkersdorf (1904) und Hugo Alvar Aaltos Lungenheilanstalt im finnischen Paimio (1933),die durch ein Maximum an Sonnenlicht in den Zimmern und viele Terrassen exakt auf die Bedürfnisse der Kranken abgestimmt war.
Der vielleicht einflussreichste Architekt Österreichs, Richard Neutra, war seinerseits schwer von Krankheiten traumatisiert: Der gebürtige Wiener, der Mitte der 1920er-Jahre nach Kalifornien auswanderte, hatte selbst als Soldat Malaria und Tuberkulose nur knapp überlebt; sein Vater war an der Spanischen Grippe gestorben. Neutras klarer Modernismus ist durch ein Maximum an Lichteinfall und Luftzufuhr gekennzeichnet: Riesige gläserne Fensterflächen und die ersten Stahlkonstruktionen kreierten Räume von illusionistischer Weite. Le Corbusier platzierte in seiner 1929 entworfenen Villa Savoye nahe Paris gleich nach dem Eingang einen "Hygienealtar" in Form einer offenen Waschzelle. Die Villa selbst stand auf zylindrischen Säulen - ein Stilmerkmal, das auch die Funktion hatte, die Übertragung von Infektionskrankheiten aus dem feuchten Erdreich zu eliminieren. "Tuberkulose half dabei, die Architektur modern zu machen", schreibt die spanische Architekturhistorikerin Beatriz Colomina in ihrem Buch "X-Ray Architecture".
Und wie verhält es sich mit Corona? Dass die Nachwirkungen einer immer noch andauernden Zeit in Isolation und Ungewissheit in den eigenen vier Wänden, die plötzlich nicht nur Rückzugsort, sondern auch Büro, Schule, Schutz und zum Teil wohl auch eine Art Luxusgefängnis darstellen, Einfluss auf unsere Wohnkultur haben werden, ist unbestritten. Zu den definitiven Corona-Gewinnern zählt der Online-Möbel- und Einrichtungshandel. "Der Boom ist logisch", erklärt der Innenarchitekt Christian Satek: "Noch nie konnte man so lange so konzentriert den Blick über die Defizite seines Zuhauses schweifen lassen."
Das Heim wurde mit einer neuen, multifunktionalen Bedeutung aufgeladen; aus Corona erwächst aber auch eine Wirtschaftskrise, deren Langzeitfolgen noch nicht abzuschätzen sind. So werden wir aus finanziellen Gründen wohl ein Land der Mieter bleiben, wie die aktuelle Studie "Wohntrends 2035" des For schungsinstituts InWIS zeigt. In der jüngeren Generation habe man sich vom Traum vom Eigentum ohnehin schon längst verabschiedet, so die Studienautoren. Auch die Vorstellung, dass man sich Wohlstand durch eigene Anstrengung erarbeiten könne, ist in der Generation Praktikum längst versickert. "Der vererbte Habitus ist ein Riesenprivileg", meint die Schriftstellerin Sophie Passmann, 27: "Die zukünftigen Erben leben in Altbauten, die man sich in der Mitte der Gesellschaft nicht mehr leisten kann."Diese Beobachtung teilt auch die Wiener Innenarchitektin Elisabeth Auersperg: "Der Mittelstand bricht während der Pandemie bei unserer Klientel nahezu völlig weg. Die rüsten sich online auf. Im Luxussegment können wir uns über die Auftragslage nicht beklagen."
SCHLICHTER WOHNEN
Es ist definitiv kein Zufall, dass die heurigen Gewinner des Oscars der Architektur, des Pritzker-Preises, keine Schöpfer von Wolkenkratzern und schnittigen Museumsbauten sind. Das französische Architekt*innen-Duo Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal schließt mit seiner Philosophie an das Credo von Richard Neutra an, der mit seiner Vision einer "biorealistischen" Architektur, die möglichst naturnah, erschwinglich und bedürfnisorientiert gestaltet sein sollte, die Bauästhetik revolutionierte. Die Einfamilienhäuser von Lacaton und Vassal sehen häufig wie selbst gebastelt aus: Wellblechdächer, Kunststoffwände, simple Ausstattungen. Die Pritzker-Jury begründete ihre Entscheidung mit einem Argument, das auch als Anforderung für das postpandemische Wohnen gewertet werden kann: "Ihre Arbeit reagiert auf die klimatischen und ökologischen Notlagen unserer Zeit ebenso wie auf soziale Dringlichkeiten, insbesondere im städtischen Wohnungsbau." Lacaton und Vassal hatten beispielsweise Hunderte Sozialwohnungen in Paris um eine "Wintergartenkonstruktion" erweitert, die den Wohnraum vergrößert. Der holländische Stararchitekt Rem Koolhaas nennt deren Arbeit etwas spöttisch "Kalkutta-Minimalismus"; das Duo selbst will seine Arbeit als "Nichtarchitektur" gewertet wissen.
ALLES IM GRÜNEN BEREICH
Die kommende Generation wird mit sehr viel weniger Wohnfläche auskommen müssen - oder auch wollen. Die Soziologin Christine Hannemann, die in Stuttgart einen Lehrstuhl für Wohnsoziologie bekleidet, hält gar eine maximale Wohnfläche von 25 Quadratmetern pro Kopf zukünftig für "angemessen": "Die Klimakrise ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass wir jeden Quadratmeter unbebauter Fläche schützen sollten. Uns fehlen Bäume, keine freistehenden Gebäude aus Beton, in denen gerade einmal vier Leute wohnen." Das Eigenheim, das für die Generation der Babyboomer noch den Beweis erbrachte, es im Leben "geschafft zu haben", wird von Klimaaktivisten mit entsprechenden Schuldgefühlen aufgeladen. Das Prinzip der "Tiny Houses" wird in diesem Zusammenhang schon seit mehreren Jahrzehnten propagiert. Inzwischen ist der Trend zum kleinen Haus, der aus der USA-Ökoavantgarde der 1970er-Jahre stammt, auch bei uns angekommen. Im niederösterreichischen Gutenstein hat sich das Unternehmen Wohnwagon auf die Fertigung von solchen Winzlingsunterkünften (in Größen von 21 bis 27 Quadratmeter, Kosten im Schnitt circa 30.000 Euro) spezialisiert. Die Modelle mit kuscheligen Namen wie Fanni, Frieda oder Karl gibt es mit oder ohne Innenausstattung, sowie in Varianten wie dem alpinen Design oder einem skandinavischen Blockhaus-Look. Mit dem Werbeslogan "Kümmert euch um euren eigenen Scheiß" demonstrieren die Wohnwagonistas Klimaachtsamkeit und Autarkie: Diese beginnt bei der Bio-Toilette, in der Urin zu Gießwasser umgewandelt wird, und geht bis zur eigenen Stromversorgung durch ein Photovoltaiksystem.
In Städten wie Paris, London oder New York mit ihren seit Jahren exorbitanten Mietpreisen sind "tiny" Wohnzellen von zehn, zwölf Quadratmetern nichts Ungewöhnliches. Möbelerzeuger wie die italienische Firma Mobilspazio und ganze Architektengeschwader sind auf die Gestaltung von verschiebbaren Modulen, Klapplösungen und Mini-Apartments spezialisiert. Der britische "Economist" schrieb kürzlich, dass in den meisten dieser Städte die Menschen inzwischen davon ausgingen, für größere Wohnungen rund 34 Prozent ihres Einkommens auszugeben. Viele werden sich im Zuge der Wirtschaftskrise reduzieren müssen. Die Millennials, die in ihren Lebenskonzepten tendenziell viel mobiler sind, hängen in Wohnfragen "einem sympathischen Minimalismus an", so der Innenarchitekt und Designer Christian Satek: "Da herrscht eine neue, fast zenartige Bescheidenheit. Eine Topfpflanze, eine Matratze und eine Lampe: Man besitzt wenig, weil man schnell manövrierfähig sein möchte." Trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer oft prekären Verhältnisse sind diese Nomaden des 21. Jahrhunderts sehr erfinderisch, was "Upcycling" von alten Möbeln und "optimistische Farbkonzepte" betrifft. Jungfamilien werden immer mehr in Richtung heller Neubau gehen, wo der Wohnbereich mit offener Küche zum Erlebniszentrum für die gesamte Familie wird.
OFFICE, SWEET OFFICE
Während die Wohnrevolution im 19. Jahrhundert, angetrieben durch die Industrialisierung und das Verschwinden der Heimarbeit, eine räumliche Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz mit sich brachte, drehte sich das Konzept seit Beginn der Lockdowns wieder zunehmend um. Wird das Homeoffice nach dem Ende der Pandemie wieder verschwinden? Das deutsche Unternehmen Statista publizierte kürzlich die Ergebnisse einer Umfrage in der Immobilienbranche: Die besten Chancen werden dort Gemeinschaftsbüros oder sogenannten Co-Working-Spaces attestiert (79 Prozent der Befragten gaben an, dass dieses Konzept 2022/23 dominieren wird); das "Büro-Core", so der Terminus für das Herzstück einer Firma, in dem sich die ins Homeoffice ausgelagerten Mitarbeiter regelmäßig zu Besprechungen einfinden, wird dieser Umfrage nach die zweithäufigste Office-Variante repräsentieren. Dass Social Distancing die Arbeitswelt vielleicht über Jahre hinaus prägen wird, macht eng besetzte Großraumbüroflächen obsolet. Bei Einhaltung der Abstandsregeln werden in den alten Räumen nur mehr ein Viertel der früheren Mitarbeiter untergebracht werden können. "Einer der wenigen positiven Effekte dieser Pandemie", so der "New Yorker", "ist, dass das offene Großraumbüro mit seinem dauernden Lärmpegel und dem Mangel an Rückzug verschwinden wird."Die künftig leeren Büroflächen werden, so die Prognose vieler Experten, zu Apartments, manchmal mit hotelartigem Service, während im Erdgeschoß allenfalls eine Art Dorfleben in Form von Cafés, Bars und Lebensmittelläden simuliert werden wird.
WIE SIEHT ES DENN HIER AUS?
Die Wohnung als Bühne und Inszenierung der eigenen Persönlichkeit hat in einer Phase, in der die Grenzen zwischen Privatem und Beruflichem auch durch zahllose Online-Besprechungen aufgehoben wurden, eine verstärkte Bedeutung bekommen. Tatsächlich war es noch nie so einfach, guten Geschmack zu entwickeln, etwa mithilfe von Instagram und anderen sozialen Medien. Hunderte Apps von Magazinen, die Online-Plattformen von Midcentury-Auktionshäusern oder Blogs wie apartmenttherapy wirken als Geschmacksverstärker. "Das empfinde ich als durchaus positiv", so Satek, der seit fast 30 Jahren sein Ambiente nicht mehr verändert hat. ("Ich lebe sehr nachhaltig und habe meine Vintage-Möbel immer sorgfältig renoviert.") "Es ist alles für alle extrem leicht zugänglich. Der Nachteil ist, dass soziale Medien den Geschmack homogenisieren." Breitenwirksam stilprägend empfindet Elisabeth Auersperg "die Gestaltung von sogenannten Designund Boutique-Hotels sowie Design-Versandhäuser wie Westwing. Dort schauen sich die Menschen viel ab." Sie selbst lebt "eigentlich nicht sehr aufregend": "Ich habe ein paar Antiquitäten geerbt, denen ich meine Raumgestaltung untergeordnet habe."
Eklektizismus heißt das Schlagwort zum Zeitgeist in den internationalen Architektur- und Designmagazinen. Der Pionier des Eklektizismus war der Österreicher Josef Frank, der 1933 über die USA nach Schweden emigrierte. Frank verfolgte eine Wohnphilosophie, in der Gemütlichkeit und Sentimentalität nicht verpönt waren und die die Bauhaus- und Werkbund-Puristen deswegen zum Explodieren brachte. Als Ludwig Mies van der Rohe einmal ein Frank-Interieur voller bunter Muster, Sitzinseln und Epochenbrüchen betrat, brüllte er: "Das ist das Frank-Bordell!" Das Assemblieren von Stilelementen aus verschiedenen Epochen ist auch die Methode all jener, deren oberstes Geschmacksgebot die Abgrenzung von der Masse darstellt. Ganz nach der Devise: Das verlässlichste Ticket in den Individualismus ist noch immer die Flucht in die Vergangenheit - ganz im Sinne Hugo von Hofmannsthals, der einmal gestöhnt haben soll: "Alles, was uns unsere Vorfahren hinterlassen haben, sind heikle Möbel und schwache Nerven!"