Der älteste Zeuge: Mit Marko Feingold (103) und 600 Schülern in Auschwitz
Es ist sieben Uhr morgens, der gerade noch 103-jährige Marko Feingold sitzt frisch rasiert und voller Tatendrang als Erster im Frühstücksraum des Kongresshotels im polnischen Katowice, einer Stadt, die 40 Minuten Busfahrt vom ehemaligen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau entfernt liegt. Einer der wenigen Vorteile des Alters ist, erzählt er, dass man sich nur mehr jeden zweiten Tag den Bart stutzen muss, weil der so langsam wächst.
Ob es ihm schwer falle, immer wieder an den Ort, an dem er oft mehr tot als lebendig war, zurückzukehren? "Nein, aber gar nicht“, sagt er und sieht einen dabei fast verwundert an, "das ist doch so lange her, schauen Sie, das ist für mich, als würde ich eine alte Fotografie meiner Großeltern betrachten. Ein bissl fühle ich mich dabei wie ein Schauspieler, der in einem Bühnenstück zu arbeiten hat.“ Aus seinen Träumen hat er den Ort bis heute nicht drängen können.
Im Gegensatz zu vielen Überlebenden hat er das Grauen nie unter Verschluss gehalten, und zwar ab dem Tag seiner Befreiung in Buchenwald, dem 11. April 1945, über die ja auch "so viel Blödsinn geschrieben wurde“: "Den New Yorker Rabbi, der angeblich von Zimmer zu Zimmer gegangen ist und hineingeschrien hat ‚You are free‘, den hab ich nie gesehen. Und auch von der Selbstbefreiung, von der die Kommunisten so gern erzählen, hab ich nix gemerkt. Die SSler haben das Lager verlassen, plötzlich waren die Türme leer, es herrschte so eine eigenartige Stille. Dass es nicht mehr lange dauern konnte, war uns klar. In Buchenwald gab es ja auch illegale Radios. Die haben ein paar Häftlinge zusammengebaut. Und gehört haben wir die auch. Denn wir waren ja schon im KZ, uns konnte eh nichts Schlimmeres mehr passieren. An diesem 11. April hörte ich um die Mittagszeit ein Flugzeug, das ganz nieder über dem Lager flog, auf dem das amerikanische Hoheitszeichen war. Da wusste ich, es ist endlich vorbei …“ - Und wie war das Gefühl?! - "Mein Gott, man ist halt so langsam wieder in die Freiheit hineingerutscht, so als ob es eigentlich das Normalste der Welt wäre. Und davor ist man mit uns sechs Jahre so umgegangen, dass jeder Tierschutzverein eingeschritten wäre, wenn man Tiere so behandelt hätte. Und die ganze Welt hat zug’schaut, niemand hat uns geholfen. Manchmal hab ich mir im Lager gedacht, ich bin einfach nur in einem Irrenhaus gelandet. Der Hunger hat die Leute ja so verrückt gemacht, die haben ihren Geist nach und nach verloren und sind richtig vertiert. Und wisst ihr, was mir ein 20-jähriger Bub, der am nächsten Tag abg’spritzt (Anm.: so der Lagerjargon für die Todesinjektion ins Herz) werden sollte, gesagt hat? ‚Jetzt muss ich sterben und habe noch nie eine Frau gehabt.‘ Das hat ihn am Vorabend seines Todes beschäftigt. Ist das nicht eigenartig, woran die Menschen in solchen Situationen denken?“
"Nutzlosigkeit, Wertlosigkeit, Entmenschlichung"
Marko Feingold war 27 Jahre alt, als er 1940 nach einem Jahr Haft in Prag und Krakau gemeinsam mit seinem Bruder Ernst in jenes Lager deportiert wurde, das wie kein anderes zum Synonym für den Holocaust wurde. Mit großer Wahrscheinlichkeit waren die beiden Feingold-Brüder die ersten Österreicher, die in Zugwaggons, deren winzige Luken mit Stacheldraht versehen waren, nach Auschwitz transportiert wurden. Aus seinem Portemonnaie zieht er eine kleine weiße Karte, auf die mit zittriger Schrift die jeweiligen Nummern seiner KZ-Stationen geschrieben stehen. Wenn man ihn nach dem einschneidendsten Erlebnis während seiner Gefangenschaft fragt, kommt ohne zu zögern als Antwort: "Das war unsere Ankunft in Auschwitz. Es war helllichter Tag, als wir ankamen. Die berüchtigte Rampe existierte damals noch nicht. Der Zug blieb auf einer Waldlichtung stehen. Überall SSler, ein irres Geschrei. Als wir nur unsere Namen beim Aufstellen riefen, bekamen wir gleich von einem Tritte in den Bauch. Als sie uns die Wertsachen abnahmen, sagte einer: ‚Die werdet’s ihr jetzt ohnehin nicht mehr brauchen.‘ Als es dunkel wurde, scherte man uns die Haare in einem Raum. Und zwar an allen Stellen. Ratzfatz. Mein Bruder und ich sahen uns glatzköpfig an und begannen zu weinen. Es war der Moment, in dem man erstmals dieses Gefühl der Nutzlosigkeit, Wertlosigkeit und Entmenschlichung spürte.“
Durch wie viel Zufälle, Schicksalsfügungen und strategische Tricks Feingold jenem Ort entkam, "den man doch eigentlich nur durch den Kamin verlassen konnte“, und seine unglaubliches Überleben in drei weiteren KZ’s kann man in seinen Erinnerungen nachlesen: "Ich bin nach meinen Monaten in Auschwitz quasi als bereits Sterbender nach Neuengamme gekommen. Eigentlich habe ich mich bereits aufgegeben gehabt, in zwei Monaten bin ich 25 Kilo leichter geworden. In Neuengamme waren sie entsetzt, dass die ihnen ein solches Skelett von einem Arbeiter geschickt haben.“
Seine Lebensgeschichte hat Marko Feingold mithilfe von zwei Salzburger Historikern vor ein paar Jahren auf 325 Seiten aufgezeichnet: Der Titel "Wer einmal gestorben ist, dem tut nichts mehr weh“ (im Otto Müller Verlag) steht im krassen Gegensatz zu seiner nahezu elektrisierenden Vitalität. Es ist bewegend, seine Geschichte zu lesen, aber den demnächst 104-jährigen Feingold beim Erzählen zu erleben, mit all seinem Schalk, seinem Humor, seiner pathosfreien Trockenheit, seiner Entrüstung und seiner ungeschminkten Direktheit, ist einfach unglaublich. "Wir sind die letzte Generation“, sagt ein Schüler nachdenklich beim Frühstück, "die noch mit solchen Menschen reden kann. Das ist sehr traurig, aber auch eine solche Ehre, dass wir das noch erleben dürfen.“
Nachhaltige Erfahrung für Jugendliche
Insgesamt haben diesmal 600 Jugendliche aus ganz Österreich drei Tage lang Gelegenheit, Marko Feingold aus allernächster Nähe zu erleben und mit ihm die erste Stätte seines Überleben-Lebens von insgesamt vier Konzentrationslagern zu besuchen. Gemeinsam mit Tausenden anderen Jugendlichen sowie den letzten Überlebenden und deren Nachkommen aus der ganzen Welt werden sie heute, am Holocaust-Gedenktag, die drei Kilometer von Auschwitz nach Birkenau gehen - im "March of Remberance and Hope (MoRaH)“, einer Institution, die sich aus dem 1988 gegründeten "March of the Living“ entwickelt hatte, und den direkt Betroffenen und ihren Nachfahren vorbehalten war. Olivia Pixner, 39, Journalistin, Dokumentarfilmerin und Mitbegründerin der Österreich-Organisation von MoRaH, begleitete diese Reisen von Anfang an: "In meiner Schulzeit besuchte man zwar schon Auschwitz oder Mauthausen, aber die Schüler wurden damals aus den Bussen gekippt und blieben danach weitgehend unbetreut. Unser Ziel ist es, diesen emotional so schwierigen Teil der österreichischen Geschichte für sie nachhaltig erfahrbar zu machen.“ Vorbereitungs-Workshops mit Lehrern gehören da genauso dazu wie Veranstaltungen, "in denen die Schüler das Erlebte noch einmal nachbearbeiten können.“ Neben den Lehrern reisen auch sozial und psychologisch ausgebildete MoRaH-Organisatoren und Betreuer mit, "die sofort, sollten Schüler Unterstützung brauchen, zur Stelle sind“.
Ein Herzstück und das Besondere des MoRah-Konzept ist es, auf diesen Exkursionen in direkten Kontakt mit Überlebenden treten zu können. Marko Feingold ist Österreichs ältester, eloquentester, enthusiastischster und unermüdlichster Überlebender. Olivia Pixner kennt ihn seit vielen Jahren: "Marko ist ein Phänomen, einzigartig. Es gibt keine Frage, die er nicht beantwortet, er ist einfach nicht zu bremsen und wird nie müde.“ "Doch, doch“, grinst er, "manchmal bin ich todmüd’, da will ich gar nicht aufstehen, aber kaum seh ich die jungen Leute vor mir, fang ich an zu erzählen, ist alle Müdigkeit wie weg. Dann kann ich schon gar nicht mehr aufhören. Ich mach dann ja nie Schluss, es sind immer die anderen, die mit mir Schluss machen.“
"Die SSler waren ja alles solche Deppen“, wird er bei der ersten Fragenrunde der Schüler nach dem Frühstück sagen, "die konnten ja kaum eins und eins zusammenzählen. Nur im Schlagen, da waren sie gut. Hätten nicht wir, die Häftlinge, die Lager organisiert und aufgeschrieben, was wir brauchen, hätte gar nichts funktioniert. In Auschwitz gab es ja am Anfang nicht einmal genug Essensschüsseln für alle.“
Die Frage nach den ersten Tagen nach der Befreiung von Buchenwald kommt auf. Jetzt wird Marko Feingold richtig zornig. Noch heute kann er "diese Schande, die Österreich auch nach der Befreiung auf sich geladen hat“, nicht verkraften. "Die Häftlinge von allen Nationen wurden abgeholt, als Helden gefeiert, nur um uns Österreicher scherte sich niemand. Von den 500 überlebenden Österreichern waren gerade einmal 30 Juden. Niemand kam, wir mussten uns selbst drei Busse in Weimar kapern, um dort überhaupt wegzukommen. Weil der feine Herr Doktor Karl Renner, nach dem bis heute in jedem Kaff ein Institut benannt ist, keine KZ-Häftlinge in Wien haben wollte. Wir durften nicht nach Wien zurück, man wollte uns sogar zurück nach Buchenwald schicken, deswegen bin ich in Salzburg mit einer Handvoll anderer ausgestiegen und dann auch für den Rest meines zweiten Lebens geblieben.“ Dort ist Marko Feingold bis heute Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde, die Schar der Mitglieder ist jedoch äußerst überschaubar: "Grad 30 Leut’. In Salzburg gibt’s keinen Antisemitismus, weil’s dort gar keine Juden gibt, sag ich immer. Was natürlich insofern ein Blödsinn ist, weil der Antismetismus auch ohne Juden blüht. Mit Schokolade bin ich dort jedenfalls nie begossen worden, aber an den Feingold haben sie sich inzwischen gewöhnt. Ganze Wände kann ich inzwischen mit meinen Orden und Auszeichnungen tapezieren, für jeden Schmarr’n habe ich was gekriegt, aber Juden mögen sie bis heute nicht in Salzburg.“ Eine Lanze bricht er nur für die Salzburger Nonnen: "Die waren die ersten, die schon 1945 alles wissen wollten, was uns widerfahren ist. Während die anderen nicht einmal anstreifen wollten. Als überlebender KZ-Häftling war man nicht mehr als ein Krimineller für die Leut’.“
Das Erzählen, Erinnern, Zurechtrücken, in allen plastischen Details, ist seine Leidenschaft, seine Energiequelle und seine Mission. Auf seiner Mission wird der "Maxi“, wie sie ihn nennt (Max ist tatsächlich auch sein erster Vorname), von seiner Frau Hanna Feingold, 69, mit resoluter Zärtlichkeit unterstützt. Ganz selten verlässt ihn während der folgenden Tage seine Erinnerungskraft und er sucht nach einem Namen oder einem Ort, dann ist sie sofort zur Stelle: "Maxi, das war nicht der Tito, sondern der Franco“ oder "Nein, Maxi, während der Reichskristallnacht warst du schon in der Tschechoslowakei.“ Sie begleitet ihn seit über einem Vierteljahrhundert auf seinen Wegen gegen das Vergessen: "Sie ist meine Generalsekretärin und leider auch sehr schnell mit dem Terminausmachen.“
"Nicht nur Wiener, sondern auch Schla-Wiener"
Hanna Feingold weiß alles - im Leben ihres Mannes ist sie ebenso zu Hause wie er selbst, abgesehen davon kennt sie jeden NS-Historiker, Nazi-Kommandanten und jede Textzeile von Stefan Zweig, "der noch immer bei uns in Salzburg keine angemessene Straße hat, das ist ein wirklicher Skandal.“ Allein in den nächsten paar Wochen stehen Vorträge in 14 Schulen auf dem Programm. "Ich möchte die Zeit, die mir noch bleibt, vor allem für die jungen Menschen nützen“, sagt er verschmitzt und nicht ohne Stolz auf seine unglaublichen Energien. "Mein Glück ist, dass ich maximal wie ein 80-Jähriger aussehe, während die meisten 80-Jährigen eher wie 100 ausschauen.“ Das Bonmot gefällt ihm sehr, er wird es noch öfter zum Einsatz bringen. Die Schüler wollen Selfies mit ihrem Zeitzeugen machen. "Ich bin nicht nur ein Wiener, sondern auch ein Schla-Wiener“, sagt er, und setzt für alle sein schönstes Fotografier-Gesicht auf: "Ich schaue jedem ganz besonders in die Optik, jedem Einzelnen.“
Selbst im Bus bei der Fahrt zum Lager, wo viele noch vor sich hindösen, erzählt er weiter. Die Geschichte vom braunen Anzug, der ihm in Auschwitz vom Leib genommen wurde und dann doch bis 1945 überlebte. Alle vier Konzentrationslager. Man stelle sich vor! Sechs Millionen vernichtete Juden, ganz Europa ein Schlachtfeld wie im Mittelalter, aber den braunen Anzug haben sie immer weitergeschickt: Von Auschwitz nach Neuengamme, von dort nach Dachau, von Dachau nach Buchenwald, seiner letzten Station, wo er am 11. April 1945 nach sechs Jahren hart organisiertem und betreutem Sterben "langsam wieder leben lernen“ und seine Würde zurückerobern musste.
Dass der braune Anzug während des ganzen Martyriums penibel erfasst und immer dabei war, zeuge wieder einmal von dem pervertierten Ordnungssinn der Nazis: "Er war mir natürlich ein bisserl zu groß, als ich ihn dann in Buchenwald wieder bekommen habe.“ Dann schlägt er sich mit der flachen Hand auf die Stirn: "Jetzt fällt mir was ein! Im G’schäft haben sie immer zu mir gesagt, dass ich, wenn ich einen braunen Anzug trag, besonders grantig war. Das muss wohl damit zu tun haben.“ Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Zu Anzügen scheint er ein besonderes Verhältnis zu haben. Schon in seiner Jugend, als der 1913 in der heutigen Slowakei geborene Sohn eines Bahnbau-Technikers und einer "jüdischen Mamme, die für ihre vier Kinder alles machte“, mit 13 oder 14 Jahren "bei den Prater-Indianern“ in Wien die Nahkampfschule des Lebens und Bühnen besuchte, wo "die dicke Rosl mit der größten Unterhose der Welt“ oder die Frau mit dem Vogelgesicht auftrat, war er immer fein gekleidet. Die Mutter Cilly Feingold war übrigens die Einzige aus der direkten Verwandtschaft, die 1936 eines natürlichen Todes gestorben ist. Von der Arbeitslosigkeit aus Wien vertrieben, tourte er mit seinem Bruder Ernstl, der 1942 vergast wurde, vor dem "Anschluss“ durch die eleganten Badeorte des Mussolini-Italien. Bis zu Mittag verkauften sie Unmengen an flüssigem Bohnerwachs in den feinen Hotels, danach warfen sie sich in schnittige Anzüge ("Wir brauchten zwei Taxis für unsere Koffer, mit so viel G’wand reisten wir.“) und ab zum Fünfuhrtee: "Ich war ein sehr, sehr guter Tänzer. Und wenn die Sonne scheint, denken Männer und Frauen das Gleiche.“ Das Leben vor den sechs Jahren im Irrenhaus war schön, so schön. Seine Affinität zu feinen Stoffen machte er im Nachkriegs-Salzburg zum Beruf. Dort brachte er es im Handel mit Damenbekleidung zu legendärer Meisterschaft, "Wiener Mode“, hieß sein Laden, vor 30 Jahren hat er ihn dann doch geschlossen. In Pension war er jedoch nie und wird er nie sein, denn er hat eine Berufung: Bis zu seinem letzten Atemzug die erlebten Höllen in aller Detailgenauigkeit weiterzugeben, vor allem an "die dritte Generation, die jetzt endlich eine Chance hat, ein reines Österreich zu übergeben“.
"Auch beim Sterben braucht man Humor"
Den Gedenkmarsch bestreitet er diesmal in einem Shuttlebus, der für "Survivors“ bereitgestellt ist: "Man ist ja schließlich keine 100 mehr.“ Die Schüler marschieren im Pulk von Tausenden anderen Jugendlichen die drei Kilometer vom "Arbeit macht frei”-Tor in Auschwitz nach Birkenau, unter den Gedenkenden befindet sich eine Abordnung der österreichischen Kultusgemeinde mit ihrem Präsidenten Oskar Deutsch, ein Chor der israelischen Armee, der Sohn des verstorbenen Nobelpreisträgers Eli Wiesel und einige Unterrichtsminister aus Israel und der EU, darunter auch die Österreicherin Sonja Hammerschmid. Am Nachmittag treffen wir wieder Marko Feingold. Er geht ungebeugt und mit geradem Blick durch das Gelände, in dem er den schlimmsten Teil seines Lebens gelassen hat, nur manchmal stützt er sich auf einen Stock. Eineinhalb Stunden steht er im Freien, in der Kälte - vor der "Sauna“, wie der Ziegelbau in Birkenau, dem Vernichtungslager neben Auschwitz, im Lagerjargon hieß. Das Gebäude mit dem zynischen Namen diente als "Desinfektions- und Entwesungsanstalt“, erklärt Olivia Pixner, die die nächste Fragerunde moderiert. Das Mikrofon wird von Schüler zu Schüler gereicht, es gibt keine Frage, vor der Marko Feingold zurückschreckt. "Haben Sie manchmal daran gedacht, sich umzubringen?“ - "Als ich in Auschwitz landete, dachte ich mir, es wird vielleicht ein paar Wochen, einen Monat dauern. Hätte ich gewusst, dass Lager die nächsten sechs Jahre meines Leben sein werden - ich hätte mich vermutlich umgebracht.“ - "Haben Sie sich an die Leichen irgendwann gewöhnt?“ - "Wir waren Leichen gewohnt, bei der Arbeit starben ständig Kameraden. Starben sie vor 15 Uhr, wurden sie als Tote registriert, ab 15 Uhr wurden die Bücher geschlossen, dann wurden sie noch einen Tag als lebend geführt. Dass aber ein SS-Mann einem Toten noch mit dem Stiefel den Schnee vom Gesicht trat, daran konnte man sich nie gewöhnen.“ - "Worüber hat man geredet?“ - "Über alles Mögliche. Wir haben uns bei der Arbeit auch Witze erzählt. Auch beim Sterben braucht man Humor. Von mir wollten alle immer so gerne wissen, was ich in meiner Zeit in Italien gegessen habe.“
Es ist bereits dämmrig, als alle zu den Bussen aufbrechen. Doch nirgends findet sich das versprochene Shuttle-Gefährt für Marko Feingold. Die MoRaH-Organsiatorin Iris Singer stoppt heldenhaft den Bus mit dem israelischen Armeechor, der unter großem Gejohle den "possible oldest survivor of this world“ und seine Frau Hanna dann sicher zum Parkplatz bringt.
Am Abend des nächsten Tages treffen noch alle einmal alle zusammen. Es war ein langer Tag, der seinen Höhepunkt mit einem Gedenkdienst in der Krakauer Synagoge hatte. Shmuel Barzilai, der Wiener Ober-Kantor, hatte den Tempel mit "Hava Nagila“ so sehr zum Kochen gebracht, dass alle - Schüler, Überlebende, Touristen, Lehrer und auch Hanna Feingold - in einer Schlange durch die Synagoge tanzten. Marko Feingold saß in der ersten Reihe und hätte sichtlich gerne mitgemacht. "Solche Erlebnisse sind ein wichtiger Punkt,“ sagt Roland Engel, der pädagogische Leiter von MoRaH, "wir möchten, dass die Schüler auch die Lebensfreude und Vielschichtigkeit von jüdischem Leben erfahren und nicht ausschließlich mit dem Leid des Holocaust konfrontiert werden.“
Es ist knapp vor Mitternacht in einem Seminarhotel nahe Krakau. Nach dem Essen haben sich die 600 Schüler aus allen Teilen Österreichs in einem Saal versammelt, manche sitzen am Boden. In ihren Gesichtern ist Erschöpfung geschrieben, doch die Aufregung über das Erlebte überstrahlt sie. Olivia Pixner strahlt mit. Ihre Vision vom Weitergeben der Erinnerungen ist wieder einmal aufgegangen. Sie lädt die Schüler ein, ein paar Worte zu sagen. Marko Feingold tritt auf die Bühne, ohne Stock, voller Energie, nach fast 17 Stunden ohne Ausruhen auf den Beinen oder im Bus. Tosender Applaus, Gejohle, ein Wald von Smartphones. Er ist sichtlich gerührt. "Wow, das war so cool“, sagt ein Bub ins Mikrofon, "ich danke Ihnen so sehr, das wir diese Tage mit Ihnen erleben durften.“ - "Wie würden Sie Ihr Leben in drei Worten zusammenfassen?“, will ein Mädchen wissen. Marko Feingold verschickt sein bestes Maurice-Chevalier-Lächeln und sagt: "Ich bin da.“ 600 Schüler schweigen, manchen rinnen die Tränen. Und sofort tut er etwas gegen die Stille und sagt: "Na, was ist denn? Fragt’s mich doch noch was.“