Zunge mit Salsa Picante: La lingua italiana
Meine Kindheit war geprägt von Speisen, die, was ihre Akzeptanz betrifft, seit den 1960er-Jahren eine turbulente Achterbahnfahrt absolviert haben. Es geht um die sogenannten argen Sachen, als die Innereien aller Art heute noch großteils betrachtet werden. Die beiden Pole heißen Ekel und Erregung. Wer dem Fleischkonsum generell kritisch gegenübersteht, ist von Innereien gleich noch um ein Hauseck angewiderter; ich finde das ein wenig seltsam, denn gerade der Verzehr dieser als minderwertig angesehenen Stücke widerlegt den Vorwurf der Verschwendung. Das Vaterunser der anderen Fraktion heißt from nose to tail; die heutigen Foodies pilgern in die Kathedralen und Kapellen der Innereienküche-ins Gut Purbach auf ein rohes Herz, zum Buchecker auf gebackene Hoden.
Man kann das alles aber auch gelassener sehen; und es ist dabei sicher hilfreich, von einer Großmutter bekocht worden zu sein, die den hochverdienten Innereien-Propagandisten Max Stiegl mit einem milden Lächeln bedacht hätte. Ich bin also in einer Küche aufgewachsen, in der Großmutter mir den aufgeschlagenen Kopf eines gekochten Suppenhuhns reichte, damit ich das Hirn herauszuzeln konnte. Ich bin aufgewachsen in einer Küche, in der Nierndln, Leber und das damals noch unterschätzte und deshalb ziemlich billige Bries zum Standard gehörten und Blut mit Zwiebeln zu einem Tommerl geröstet wurde. Und ich bin aufgewachsen in einer Küche, in der gar nicht selten in einem großen Topf eine Rindszunge stundenlang vor sich hin köchelte. Zwar blödelte mein Vater jedes Mal, dass er doch nichts essen wolle, was andere schon im Mund gehabt haben (der Witz hatte damals schon einen Bart wie Hermann Nitsch),aber dann setzte er sich zu Tisch und haute rein. Wir aßen unaufgeregt und unheikel. Anderswo ist das Verhältnis zu Innereien noch viel entspannter. In tschechischen Supermärkten etwa, deren Status jenem unserer Marktführer entspricht, liegen in der Fleischvitrine gestapelte Stierhoden wie bei uns die Knacker aus Mehl und Separatorenfleisch. Da könnte man jetzt auch trefflich diskutieren, was appetitlicher ist.
Ich will mich diesmal aber vor allem der Zunge widmen, die ich für eines der besten Stücke des heimischen Fleischangebots halte-vom Schwein über Kalb, Rind bis hin zum Lamm. Zunge wird hierzulande häufig zur Zungenwurst entstellt, in Italien ist la lingua vom Aostatal bis ins sizilianische Ragusa allgegenwärtig: mürb, zart, saftig und unverwechselbar im Geschmack.
Zunge mag am liebsten eine gediegene Begleitung mit kräftigem Aroma, keinesfalls großes Brimborium. Deshalb wird sie in vielen Rezepten einfach gekocht, aufgeschnitten und mit einer feinen Sauce serviert. Zwei Beispiele will ich anführen.
Zunächst aber muss das Organ gegart werden. Rind, Kalb oder Schwein-es funktioniert nahezu gleich. Ich nehme einen großen Topf mit Wasser, lasse es aufkochen und gebe 1 Handvoll Wurzelgemüse, 2 Lorbeerblätter, 1 TL Pfefferkörner und kein Salz(!)hinein. Dann lege ich die Zunge dazu; die eines Rindes braucht bis zu 3 Stunden, Kalb und Schwein sind in guten 2 Stunden so weich, dass ich mit einer Nadel hineinstechen kann wie in zimmerwarmes Schmalz. Wichtig ist, die Zunge noch warm zu schälen, sonst lässt sich die raue Haut kaum noch entfernen. So vorbereitet, lasse ich die Zunge im Kochsud langsam auskühlen.
Im Piemont wird dazu gerne eine Salsa picante serviert. Dafür schlachte ich eine 400 g-Dose Pelati (oder die gleiche Menge jener hausgemachten Pelati, die ich am Höhepunkt der Tomatensaison vor einigen Wochen hier vorgestellt habe) und drücke sie mit einer Gabel durch ein grobes Sieb. Dann wässere ich 3 EL getrocknete Steinpilze für etwa 30 Minuten in lauwarmem Wasser, hacke sie klein und hebe den Pilzsud auf. Währenddessen schneide ich 2 Stangen Sellerie, 3 Knoblauchzehen und 1 Schalotte sehr fein und dünste das Gemüse in 2 EL Butter an. Nach einigen Minuten gebe ich 3 bis 4 EL gehackte Petersilie und die gehackten Pilze dazu, drehe die Hitze kurz höher und lösche mit je 1/8 Liter Weißwein und Pilzsud ab. Dann kommen die Tomaten dazu, etwas Salz und mutig Pfeffer. So köchelt die Salsa eine halbe Stunde sacht dahin.
Die noch warme Zunge schneide ich in 5 mm dicke Scheiben und richte sie mit der Salsa an. Dazu passen Crostini mit Tomatenpesto ganz wunderbar. Und eine Flasche vom piemontesischen Gavi di Gavi. æ Nächste Woche: ein Spaziergang durch die Geburtsstätte der römischen Innereienküche.