Kay Voges steht an der Bar der Meierei im Stadtpark, leicht irritiert, aber tiefenentspannt. Und das ist überraschend, denn es ist so: Wir bekommen keinen Tisch.
Wie immer bei dieser Rubrik hatte der Gast das Restaurant ausgesucht, und Voges hatte das Steirereck vorgeschlagen. Er kannte das Lokal nicht und wollte diese Kulinariklücke schließen. Nachdem ich nicht nur für die Reservierung, sondern auch für die Rechnung zuständig bin, hatte ich ihn vom Restaurant (5 Hauben) auf die Meierei (3 Hauben) runtergehandelt, aber leider: Nichts zu machen, sagt der Kellner jetzt, er finde keine Reservierung, nicht auf meinen Namen, auch nicht auf „profil“. Da müsse ein Fehler vorliegen, sage ich, ich hätte vor Wochen reserviert. Aber nein, sagt der Kellner, sie machen keine Fehler, und außerdem sind die zwei freien Tische am Fenster gar nicht wirklich frei. Er schaut erst mich an, dann Voges, schon möglich, dass wir nicht wie RZB-Banker bei der Kundenakquise aussehen, aber ich trage meinen besten Hoodie, und die Cargo-Hose von Voges ist ebenfalls fast blitzsauber. Voges bleibt entspannt. „Wir können gern ein andermal wiederkommen“, sagt er, „oder wir suchen uns ein anderes Lokal, einen Döner-Stand, für mich ist alles in Ordnung.“ Und bevor ich mich nochmals entschuldigen kann, hat er sein Handy in der Hand und den nächstbesten Italiener angerufen, das Ristorante Al Borgo gleich auf der anderen Seite des Stadtparks. Offenbar ist Kay Voges doch sehr viel unkomplizierter, als ich es erwartet hatte.
Seit vier Jahren ist er Direktor des Wiener Volkstheaters, im Sommer wird er das Haus nach nur einer Periode wieder verlassen, er geht ans Schauspiel Köln. „Ich bin ein bisschen naiv hier angekommen und hab erst spät gemerkt, dass es in Wien eine andere Kultur gibt als anderswo“, sagt er: „Ich komme aus dem Ruhrgebiet. Wenn wir in eine andere Stadt kommen, dann sehen wir es nach dem Motto: ,Hey, woanders ist es auch scheiße.‘ Wenn Wiener verreisen, dann denken sie sich: Nirgendwo ist es so schön wie bei uns. Diesen Mentalitätsunterschied muss man erst mal verstehen, und das hat gedauert.“
Wir sind mittlerweile im Ristorante Al Borgo, einem etwas besseren Italiener in der Innenstadt, gleich neben dem Palais Coburg. Die Inneneinrichtung ist im Vergleich zur Speisekarte ungewöhnlich reduziert, vor allem angesichts dessen, dass die Stammklientel laut den aushängenden Fotos Anwälte und Fußballer sein dürften. Wir sitzen vor gebratenen Jakobsmuscheln auf Weißkohlcreme (16,90 Euro, die Creme war eigentlich unnötig) und geräuchertem Thunfisch-Tatar mit Ricotta-Mango-Mousse (17,50 Euro, könnte ebenfalls ein bisschen weniger aufgebrezelt daherkommen), und Voges erzählt von seinen ersten Tagen in Wien. Davon, dass er das Volkstheater neu erfinden musste: „Es war ja so etwas wie das Sorgenkind der Wiener Theaterlandschaft, schlecht finanziert und irgendwo zwischen Burgtheater und der Josefstadt eingeklemmt.“ Voges wollte das Image als verschnarchte, ziemlich beliebige Bühne durchbrechen, und das sei nicht von heute auf morgen gegangen, meint er: „Aber jetzt passt es, wir haben das Framing durchgesetzt, dass es bei uns das aufregendste Programm der Wiener Theaterszene gibt, wir wurden zum Berliner Theatertreffen eingeladen und haben das herausragendste Ensemble der Stadt.“ Das Volkstheater unter ihm habe „neue Schichten angesprochen. Es gab in Wien immer schon ein kulturaffines Publikum, das aber mit dem Theater nichts am Hut hatte. Ich hab mich immer, wenn ich in der Arena war, gefragt: Warum kommen die Leute nicht zu uns? Sie hielten Theater für elitär und konservativ. Die Konzerte waren unser Schlüssel zum Erfolg. Ein Theater für den Fußballfan gab es davor noch nicht, aber jetzt schon.“
Es sind Sätze wie diese, die Voges in Wien nicht nur Freunde gemacht haben. Sie klingen out of context ein bisschen nach dem typischen Krawalldeutschen, der gekommen ist, um uns hier mal zu zeigen, wie es geht. Doch ist Kay Voges persönlich das genaue Gegenteil. Hier im Ristorante Al Borgo sitzt ein sehr netter, sehr zurückhaltender und vor allem reflektierter Typ. Ein Mensch, der sich Sorgen macht und nachdenkt. Aktueller, politischer müsse das Theater werden, sagt er: „Das Problem ist, dass uns unsere Geschichten gestohlen wurden. Die großen, bunten Erzählungen, von denen das Theater früher lebte, die machen mittlerweile die Populisten selbst. Trump, Kickl, die AfD, sie alle erzählen Märchen, grauenhaftere und absurdere Geschichten als wir, aber die Leute wollen sie offenbar glauben.“ Was das Theater dagegen tun kann? Voges denkt nach und erzählt dann von seiner Idee des „faktenbasierten Theaters“. Er meint damit Aufführungen wie die, bei der das Recherchekollektiv „Correctiv“, das Berliner Ensemble und das Volkstheater ihre Recherchen zum ominösen Vernetzungstreffen in Potsdam vorlasen. Oder die Abende, die „Dossier“ in Wien veranstaltet und dabei alles, was man über René Benko wissen sollte, auf die Bühne bringt. „Es arbeiten sehr viele Menschen daran, das Unsagbare wieder sagbar zu machen. Die demokratischen Maßstäbe werden unterwandert, und wir Kunst- und Medienmenschen muss sehr genau sein und Aktionen setzen.“
Man kann mit Kay Voges sehr gut und vor allem sehr lange über den Aufstieg der Rechten reden. Er ist da fast ein Getriebener, einer, der, wie er sagt, „den Antifaschismus mit der Muttermilch“ aufgesogen hat. Besonders stolz ist er deswegen auch auf die Aktion „Deutsches Volkstheater“: Rund um die österreichische Wahl hat das Volkstheater einen Song samt Video aufgenommen: „Heim ins Reich“ hieß die Karnevalsnummer, Volkstheater-Leute kasperlten darin in Uniform durchs sogenannte Führerzimmer des Volkstheaters. Es wirkte, als wären Stefan Weber und Drahdiwaberl von den Toten auferstanden, und einen entsprechenden Bart hatte die Aktion. Dass der immer wiederkehrende Aufstieg der FPÖ andere Ursachen hat als ein grundlegendes Deutschtümeln der Österreicher, ist spätestens seit den 2000er-Jahren abschließend ausdiskutiert. Voges sieht das aber anders. Zu viele in Österreich haben sich mit der FPÖ bereits abgefunden, sagt er, dem möchte er entgegenwirken.
Wir sind fertig mit dem Essen und spazieren zurück Richtung Steirereck. Wir reden über den Wiener Kulturbetrieb, und als wir im Stadtpark am Denkmal für Anton Bruckner vorbeikommen, hat Voges eine Eingebung: „Vielleicht ist das Problem mit Wien wirklich, dass die Stadt im Zweiten Weltkrieg viel zu wenig zerstört wurde. Die Stadt ist zu schön, da hat man nie eine lebendige Kulturszene gebraucht, die etwas Neues aufbauen musste. Vielleicht sollte man die Innenstadt abreißen. Für die Kultur wäre das gar nicht schlecht.“
Schade eigentlich, dass er im Juni bereits die Stadt verlassen wird. Ohne Besuch im Steirereck.