25 Jahre saß Othmar Karas für die ÖVP im Europaparlament, jetzt ist er Präsident des Europäischen Forums Alpbach. An der Politik verzweifeln kann er trotzdem immer noch. Und zwar so sehr, dass er dabei fast aufs Essen vergisst.
Wenn man sich mit Othmar Karas zum Essen trifft, dann wird das irgendwann zu einem Fall für den Elmayer, und genau an diesem Punkt bin ich jetzt. Du darfst erst essen, wenn auch das Gegenüber einen Bissen genommen hat, so hat es damals in der Tanz- und Benimmschule geheißen. Aber was zur Hölle machst du, wenn das Gegenüber sein Filetto di Branzino ganz offenbar in Sashimi verwandeln möchte? Wir sitzen im „Sole“ in der Wiener Annagasse, meine Orecchiette con salsiccia e broccoli (23 Euro) stehen seit gut zehn Minuten auf dem Tisch, unberührt. Sie sehen sensationell aus und riechen noch besser, aber Karas steckt mitten in einem Vortrag über die Segnungen des Europäischen Binnenmarkts und macht keine Anstalten, diesen zu unterbrechen, im Gegenteil, er hat noch nicht einmal die Gabel in der Hand.
Soll ich anfangen?
Aber nein, das geht einfach nicht. Ich hoffe, dass der Wirt mein Essen extra heiß geordert hat, immerhin ist Karas Stammgast und kommt häufiger mit Gästen vorbei, aber die Hoffnung ist zugegeben gering. Das „Sole“ gibt es seit den frühen 80ern, erzählt Karas, es wird geführt von einem ganz besonders kunstsinnigen Mazedonier und war das Stammlokal seines Schwiegervaters, des ehemaligen Bundespräsidenten Kurt Waldheim. Gleich da drüben sei er immer gesessen, sagt Karas und deutet durch den Raum. Am Tisch daneben habe früher immer Hannes Androsch gegessen, übrigens meistens allein. Jetzt biegt Karas ansatzlos in das Thema „Verantwortung politischer Parteien“ ein, sein Besteck liegt immer noch wie ein Fremdkörper am Tisch, also verabschiede ich mich von meinen Orecchiette und überlege, womit man kalte Hauswurst mit lauwarmen Nudeln und labbrigen Brokkolistangen am besten retten könnte. Mit Ketchup wahrscheinlich, Ketchup hilft angeblich immer.
„Ich bin kein großer Esser“, sagt Othmar Karas jetzt. Ich nicke, alles andere hätte mich an dieser Stelle auch wirklich sehr überrascht. „Ich bin kein Gourmet. Essen ist für mich Teil des Tagesablaufs, nicht mehr. Ich gehe eigentlich nur essen, wenn ich dabei Termine habe, sonst nicht.“ Ich nicke wieder und hoffe für die vielen Menschen, die vor mir mit Karas essen waren, dass sie nie besonders hungrig zum Termin mit ihm gegangen sind. „Auch in Brüssel?“, frage ich etwas verwundert. Die belgische Hauptstadt ist schließlich bekannt dafür, Politiker zu verzaubern: Selbst wenn man sie als Asketen hinschickt – zurück kommen sie meistens als Träger des Alfred-Gusenbauer-Ordens am doppelt langen Band.
Aber ja, auch in Brüssel, meint Karas. Wenn er dort bei irgendwelchen Veranstaltungen als Speaker eingeladen war, dann sei er oft gleich nach seiner Rede abgedampft, noch vor dem kulinarischen Teil. Kurz hänge ich bei der Frage, wie 50 hungrige Europa-Abgeordnete wohl reagieren, wenn Othmar Karas vor dem Abendessen zu einer Rede ansetzt. Für die Warmhalte-Platten-Lobby muss der Mann jedenfalls ein Geschenk des Himmels gewesen sein. Dann verwerfe ich den Gedanken wieder, schließlich ist der 67-jährige Karas seit dem vergangenen Jahr nicht mehr in Brüssel tätig, sondern lenkt als Präsident die Geschicke des Europäischen Forums Alpbach.
„Ich bin kein großer Esser“, sagt Othmar Karas jetzt. Ich nicke, alles andere hätte mich an dieser Stelle auch wirklich sehr überrascht.
Von 1999 bis 2024 war Karas Abgeordneter zum Europäischen Parlament, er war ÖVP-Delegationsleiter und Vizepräsident des Parlaments. Die 25 Jahre in Brüssel haben ihn zum bekanntesten Europapolitiker des Landes gemacht, und zu einem, der oft genug mit der eigenen Partei gestritten hat. Vor allem dann, wenn die ÖVP zu weit nach rechts schielte und antieuropäische Reflexe bediente – wie damals, als die Regierung Kurz die Familienbeihilfe für Osteuropäerinnen absenken wollte. Dann wurde Karas verlässlich laut. Dass es jetzt doch eine Regierung ohne FPÖ-Beteiligung gibt, erleichtert wohl keinen ÖVP-Politiker so sehr wie Karas, weil er sich dadurch ein paar Fragen erspart.
Ein Selbstläufer ist die österreichische Dreierkoalition aber seiner Meinung nach nicht. „Was ist das Anliegen der Regierung? Das muss viel klarer werden, als es jetzt ist“, sagt Karas, „es gibt große Herausforderungen, die können wir nur in einem europäischen Kontext lösen, und wir müssen dafür auch Österreich selbst reformieren. Das Wichtigste ist aber, dass man sich den Menschen, den Wählern erklärt. Die Leute müssen wissen, was wir tun und warum wir das tun. Ich habe in meiner ganzen politischen Laufbahn eines festgestellt: Wer den Menschen erklären kann, was er tut, der hat kein Problem mit den Wählern. Aber Überzeugungsarbeit zu leisten, heißt zunächst einmal, dass man eine eigene Überzeugung hat.“
Ein Selbstläufer ist die österreichische Dreierkoalition seiner Meinung nach nicht. „Was ist das Anliegen der Regierung? Das muss viel klarer werden, als es jetzt ist“, sagt Karas.
Aber haben alle Akteure tatsächlich eine Überzeugung? Karas lehnt sich zurück, ganz sicher ist er sich offenbar nicht. Er stochert in seinem Fisch, lädt auf die Gabel und legt sie dann wieder hin, ohne einen Bissen zu essen. Irgendwie habe er das Gefühl, dass noch nicht alle verstanden haben, worum es jetzt geht. „Wir haben in den vergangenen Jahren immer nur noch von Krisen geredet, nicht mehr von Herausforderungen. Das begann mit der Finanzkrise und kumulierte im Jahr 2015“, sagt er dann. Dieses Mindset habe in der Gesellschaft Spuren hinterlassen. Überall in Europa. Karas: „Auch das deutsche Wahlergebnis ist keine Überraschung. Wir haben jahrelang dabei zugesehen, wie sich das aufgebaut hat. Aber warum waren wir so lange so naiv? Wir haben einfach die ordnungspolitische Auseinandersetzung mit der extremen Rechten nicht geführt.“ Als Partei der politischen Mitte hätte man immer nach Lösungen suchen müssen, das haben aber die wenigsten Mitte-Parteien gemacht, meint er. „Zuletzt sind viele den einfachen Weg gegangen, den scheinbar einfachen Weg.“
Wenn man Karas so zuhört, dann vergeht die Zeit tatsächlich wie im Flug. Der Mann kann problemlos 60 Minuten durchreden, und es ist spannend, ihm zuzuhören, denn er klingt ein bisschen wie ein Politiker aus einer anderen Zeit. Immer wieder geht es in seinem Vortrag um Respekt, um Werte und um Kompromisse, vor allem um Kompromisse. „Kompromisse sind das Wesen der Demokratie. Das ist manchmal nicht sexy, aber sie führen zu Ergebnissen.“ Diese Kompromissfähigkeit sei in den vergangenen Jahren massiv verloren gegangen: „Es fehlt das gegenseitige Vertrauen.“
Vielleicht sollte man einfach öfter gemeinsam essen gehen. Als vertrauensbildende Maßnahme. Man muss ja nicht alles aufessen. Vor allem nicht, wenn es längst kalt ist.
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Markus Huber
ist im Hauptberuf Herausgeber des Magazins „Fleisch“ und schreibt für profil alle zwei Wochen die Kolumne „Powerlunch“.