Ärztekammer und Lehrergewerkschaft verlieren an Lobby-Stärke
Es wird richtig schlimm viel schlimmer, als sich die meisten Leute überhaupt vorstellen können. Wenn Sie was Ärgeres als einen Schnupfen kriegen, dann wünsch ich Ihnen viel Glück, erklärt der Sitznachbar in Halle E des Wiener Museumsquartiers. Vorne im Saal läuft da gerade ein Video, in dem eine junge Mutter, ihr zappelndes Kleinkind auf dem Schoß, über die triste Zukunft sinniert: Es ist fraglich, ob in ein paar Jahren noch ein Kinderarzt in unserem Ort sein wird. Ich kann nicht 50 Kilometer in die nächste Stadt fahren. Ich hab ja nicht einmal ein Auto. Nach ihr ist ein Mann um die 50 an der Reihe, offensichtlich Bewohner eines kleinen Dorfes. Zuerst hat die Post zugesperrt, jetzt hört unser Geschäft auf. Dann geht auch noch mein alter Doktor in Pension, und es kommt kein neuer nach, lamentiert er. Schließlich steht auch noch ein soignierter Herr mittleren Alters am Rednerpult und spricht über Todsünden und ein biblisches Desaster.
Geht die Welt also doch demnächst unter? Wenigstens teilweise?
Lieber tot als krank
Die österreichische Ärztekammer hatte am Mittwoch vergangener Woche zu einem Protestkonvent geladen. Und was dort geboten wurde, konnte einem sensiblen Zuhörer durchaus auf den Magen schlagen. Etwa 500 Ärzte, großteils in weißer Arbeitsmontur und mit Adrenalin-Höchststand, zeichneten das Bild eines Gesundheitssystems, in dem man lieber tot als krank sein möchte: Der Hausarzt ins Ausland geflohen, das Spital verriegelt, die nächste Ambulanz weit weg und überfüllt, der Facharzt unterbezahlt, entnervt und von der Bürokratie zermürbt.
Die Ärztekammer hat traditionell einen ausgeprägten Hang zum Drama. Wann immer in der jüngeren Vergangenheit aus der Politik ein Vorschlag kam, der den Ärzten missfiel, floss das Blut in Strömen und zwar nicht bloß metaphorisch. Massenhaftes Siechtum ist das Mindeste, was ein Gesundheitsminister angeblich riskiert, der sich nicht auf Punkt und Beistrich an die Vorstellungen der Standesvertretung hält. Derzeit wettern die Götter in Weiß (eine gendergerechte Formulierung erübrigt sich, im Präsidium der Kammer sitzen nur Männer) gegen die elektronische Gesundheitsakte (ELGA) und gegen die geplante Gesundheitsreform. Am 5. Dezember sollen in den Bundesländern Informationsveranstaltungen stattfinden. Bis dahin werden die Patienten in vielen Wartezimmern mit Plakaten eingeschüchtert. Mein Arzt ist weg und Unser Spital ist weg, heißt es darauf.
Fahrplan für neues Lehrerdienstrecht
Szenenwechsel zu einem anderen Kampfplatz der Republik: Am 7. und 8. November erschienen in mehreren österreichischen Tageszeitungen Berichte über eine geplante Initiative der Regierung bei ihrer bevorstehenden Klausur. Dort sollte, so konnte man lesen, ein fixer Fahrplan für den Beschluss des neuen Lehrerdienstrechts verabschiedet werden. Demnach müssten die Pädagogen künftig länger in der Klasse stehen, und zwar 24 Stunden pro Woche statt bisher 18. Ein neues Dienstrecht für Lehrer steht seit gut vier Jahren auf der Agenda. Mehrere angepeilte Deadlines musste Unterrichtsministerin Claudia Schmied verstreichen lassen, weil sie einfach nicht vom Fleck kam. Falls nun tatsächlich etwas weitergehen sollte, wäre das als kleine Sensation zu werten ein Beweis, dass die Regierung doch noch etwas zustande bringt.
Der Einzige, der das nicht glaubte, war Paul Kimberger, Vorsitzender der ARGE Lehrer und Chefverhandler der Lehrergewerkschaft. Soviel ich weiß, wird es bei der Klausur nur um die Ausbildung der Pädagogen und um die Studiengebühren gehen, erklärte er profil damals auf Anfrage. Mehr gebe es auch beim besten Willen nicht zu verkünden: Was da vorgeschlagen wurde, ist ein reines Lehrer-Sparpaket. Das ist mit mir nicht zu machen.
Kimberger sollte Recht behalten. Das Lehrerdienstrecht wurde angeblich auf dem kleinen Dienstweg über ein paar Telefonate neuerlich vertagt. Ebenso wie ein Beschluss zum Ausbau der Ganztagsschule, mit der die Lehrer ebenfalls keine rechte Freude haben.
Kaum Einhalt für Lobbying-RambosÄrzte und Lehrer sind zweifellos wichtige Berufsgruppen, von deren Können und Motivation in der Republik einiges abhängt. Aber die Gewissheit, mit der beide Interessenvertretungen davon ausgehen, dass die Politik auf Knien um ihre Zustimmung bitten muss, verwundert dann doch. Leider basiert das Selbstbewusstsein der Mediziner und Pädagogen auf Erfahrungswerten: In der jüngeren Vergangenheit traute sich die Politik tatsächlich sehr oft nicht, den Lobbying-Rambos in die Quere zu kommen.
Vor allem die ÖVP, die in beiden Gruppierungen die absolute Mehrheit stellt, verlässt im Zweifel häufig der Mut. SP-Unterrichtsministerin Claudia Schmied musste das etwa vor drei Jahren feststellen, als sie versuchte, den Lehrern zwei Unterrichtsstunden mehr pro Woche abzuringen. Noch am Tag der Bekanntgabe drohte die Lehrergewerkschaft mit Streik, und die ÖVP ging flugs auf Distanz zu Schmied. Ihre Gegner waren im Tonfall nicht zimperlich. Die Ministerin impliziere, dass sie 60.000 faule Hunde als Lehrer beschäftigt, sagte etwa der damalige Vorsitzende der Pflichtschullehrergewerkschaft, Walter Riegler. Entweder Schmied kommt zur Besinnung und nimmt das zurück, oder es gibt gewerkschaftliche Maßnahmen.
"Schleichende Verstaatlichung des Gesundheitswesens"
Am Schluss gewannen die Lehrer. Ein paar gestrichene Zulagen blieben ihr einziger Beitrag zur Budgetsanierung.
Ziemlich genau ein Jahr davor hatte die damalige ÖVP-Gesundheitsministerin Andrea Kdolsky versucht, der Ärztekammer eine Gesundheitsreform schmackhaft zu machen. Das Projekt sollte 600 Millionen Euro pro Jahr einsparen und war bereits zwischen den Sozialpartnern ausverhandelt. Doch die Mediziner hatten keine Lust auf Veränderungen, schon gar nicht auf ihre Kosten. Es gab Protesttage und österreichweite Ordinationsschließungen netterweise auch am 16. Juni, also während der Fußball-EM in Österreich. Walter Dorner, damals Präsident der Kammer, bezeichnete die Ideen als schleichende Verstaatlichung des Gesundheitswesens. Seiner fachmännischen Diagnose nach seien die Politiker völlig von der Leiste. Nach drei Monaten intensiv-ärztlicher Betreuung ging die Regierung k. o. Die Reform wurde für tot erklärt, wenig später verblich auch die Karriere der Ministerin.
Es gibt rund 120.000 Lehrer und etwa 40.000 Ärzte. Zählt man Familienangehörige dazu, kommt man leicht auf eine halbe Million Wähler, die sich eventuell beim nächsten Urnengang rächen könnten. Doch es ist nicht ihre schiere Menge allein, die Lehrer und Ärzte für die Politik so gefährlich macht. Beide Berufsgruppen haben auch beste Möglichkeiten, für ihre Anliegen zu kampagnisieren. Sind die Lehrer böse, sind es schnell auch die Elternvertreter. Ist der Arzt unrund, fühlt sich der Patient gleich noch kränker.
Doch es gibt Indizien, dass die besten Zeiten der Blockierer vorbei sein könnten. Vor zwei Wochen beschloss der Nationalrat die Einführung der elektronischen Gesundheitsakte sämtliche Querschüsse aus der Ärztekammer gingen ins Leere. Mitgestimmt hat unter anderem der Grün-Abgeordnete und Arzt Kurt Grünewald. Er halte ELGA zwar noch für verbesserungsfähig, meint er. Aber die Proteste der Kammer sind überzogen. Auch die Gesundheitsreform bleibt auf Schiene. Vor einer Woche schickten die sechs Chefverhandler von SPÖ und ÖVP einen Brief an Ärztekammerpräsident Artur Wechselberger, in dem sie darum ersuchen, die Patienten nicht zu verunsichern und sich ingesamt zu mäßigen. Gesundheitsminister Alois Stöger verliert schön langsam die Geduld. Konstruktive Kritik ist erwünscht, gezielte Falschinformation geht nicht. Da muss die Politik reagieren, sagt er.
Neue Chefs im Amt
Auch die Lehrergewerkschaft kann sich auf die Unterstützung der ÖVP nicht mehr hundertprozentig verlassen. Der Tiroler Landeshauptmann Günther Platter erklärte vor Kurzem, es sollte letztlich auch machbar sein, dass die Politik die Entscheidungen vornimmt. Reine Blockade der Lehrer dürfe nicht stattfinden. Wirtschaftsminister Reinhold Mitterlehner sieht das genauso. Er soll bei der jüngsten Regierungsklausur im kleinen Kreis gefordert haben, das neue Dienstrecht notfalls ohne Zustimmung der Gewerkschaft zu beschließen.
Es könnte helfen, dass in beiden Interessenvertretungen zuletzt neue Chefs ins Amt kamen. Lehrergewerkschafter Kimberger ist erst 44 Jahre alt und zumindest nach eigenen Aussagen darum bemüht, nicht ausschließlich als Betonierer Karriere zu machen. Ärztekammerpräsident Wechselberger gilt als erheblich gemäßigter als sein Vorgänger Dorner. Wenn der Tiroler Allgemeinmediziner nicht gerade vor ein paar hundert aufgebrachten Kollegen im Museumsquartier referieren muss, kann er sehr entspannt und freundlich über den Verhandlungsstand reden. Bei ELGA fehlt uns noch eine gescheite Suchfunktion, damit die Ärzte damit arbeiten können, erklärt Wechselberger. Und bei der Gesundheitsreform wünsche er sich ein Bekenntnis der Politik zum niedergelassenen Arzt. Beides wäre vermutlich machbar, glaubt er.
Das biblische Desaster, das der Wiener Vizepräsident Johannes Steinhart beim Protestkonvent prophezeite, sucht man in Wechselbergers Analysen vergeblich. Für Übertreibungen dieser Art geht auch der ÖVP langsam das Verständnis aus. Die Bundesgesundheitskommission, wichtigstes Gremium in der heimischen Gesundheitspolitik, forderte die Ärztekammer am Freitag auf, ihre aktuelle Kampagne zu beenden. Der Antrag dafür kam aus der niederösterreichischen ÖVP.