Afghanistan-Reportage: Das Hindukusch-Dilemma

Afghanistan-Reportage: Mit deutschen Soldaten im Kriegsgebiet auf Patrouille

Mit deutschen Soldaten und afghanischen Polizisten im Kriegsgebiet auf Patrouille

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Kann man den Krieg vergessen, wenn er direkt durch das Kirchenfenster hereinschaut? Die kleine Gemeinde von Pfarrer Andreas Ginzel versucht es nicht einmal. Während sie an diesem Sonntagvormittag Mitte Jänner die Messe feiert, zeichnen sich in den Sicherheitsglasscheiben der Kapelle die Silhouetten waffenstarrender Fahrzeuge ab: Humvees mit aufgepflanzten Maschinengewehren, Schützenpanzer und Jeeps, das Brummen ihrer Motoren legt sich über die Predigt, die Fürbitten, die Gebete.

Es liegt auch über dem Lied, das Pfarrer Ginzel in Camp Marmal, dem deutschen Feldlager nahe Mazar-i-Sharif, Provinz Balkh, Nordafghanistan, nun anstimmt.„Sorgen quälen und werden mir zu groߓ, lautet die erste Zeile, die Gitarre schrummt. „Mutlos frag ich: Was wird morgen sein?“, fallen drei Dutzend Bundeswehr-Soldaten in Uniform, viele von ihnen selbst hier mit der Pistole im Halfter, ein.

Das könnten genauso gut die Damen und Herren im Berliner Regierungsviertel singen, von denen die Kirchgänger nach ­Afghanistan abkommandiert wurden: Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel und Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg etwa, um nur zwei zu nennen. Der Text würde sich aber auch für US-Präsident ­Barack Obama anbieten, für Groß­britan­niens Premier Gordon Brown – eigentlich für die Staats- und Regierungschefs ­aller NATO-Mitgliedsländer: „Herr, ich rufe: Komm und mach mich frei! Führe Du mich Schritt für Schritt.“

Für Kirchenlieder wird keine Zeit sein, wenn sich die politische und militärische Führung der Allianz am Donnerstag dieser Woche in London trifft, um über die Zukunft des ­Afghanistan-Konflikts zu beraten. Eine hochrangig besetzte Konferenz soll binnen weniger Stunden Einigkeit über etwas erzielen, an dem die Welt zuvor neun lange Jahre gescheitert ist: eine Strategie, um das von 30 Jahren Bürgerkrieg zerrissene Land endlich zu befrieden und zu einem selbstständig funktionierenden Staat zu machen.

Das ist die ambitionierte Mission der NATO-geführten Sicherheitstruppe ISAF ­(International Security Assistance Force), zumindest offiziell.
In Wirklichkeit geht es derzeit ganz pragmatisch nur noch um zwei Ziele: das Land erstens nicht wieder gänzlich an die radikal­islamischen Taliban und andere Aufständische zu verlieren, die der afghanischen ­Regierung und ihren Verbündeten in immer größeren Teilen des Landes einen blutigen Guerillakrieg liefern. Und zweitens eine ­Situation herzustellen, die einen möglichst raschen Rückzug erlaubt, ohne Afghanistan allzu offensichtlich im Stich zu lassen.

Die Politik hat die Geduld mit dem Einsatz verloren
– und das, obwohl dieser vermutlich vor allem noch viel mehr Zeit bräuchte. Aber die ist begrenzt, wo in Legis­laturperioden gerechnet wird. Von einem Ende der Mission redet offiziell zwar noch keiner. Vom Anfang vom Ende aber sehr viele. Schon Wochen vor der London-Konferenz nannte Barack Obama ein Datum, ab dem die US-Truppen nach und nach heimgeholt werden sollen: Mitte 2011, feinsinnig abgestimmt auf die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2012.

In Großbritannien spricht sich Gordon Brown angesichts immer höherer Verluste dafür aus, die „Vorgehensweise anzupassen“. In Deutschland – mit 4300 Bundeswehr-Soldaten für das Regionalkommando Nord verantwortlich – ruft eine ganze Reihe von Spitzenpolitikern, an vorderster Front Verteidigungsminister zu Guttenberg, nach einem Termin für den Beginn des Abzugs.

Zunächst wollen die USA jedoch mit ­einem Kraftakt für die Wende zum Guten sorgen. Sie schicken zu den derzeit rund 100.000 in Afghanistan stationierten NATO-Soldaten weitere 30.000 ins Gefecht – und erwarten dafür, dass ihre Partnerstaaten ­ihrerseits mindestens 7000 Mann zur Verfügung stellen, gerne auch mehr. Allgemeines Einverständnis existiert im Bündnis über diese Vorgangsweise aber beileibe nicht. Wie denn auch, wo der Kampf gegen Taliban & Co nicht einmal einhellig als Krieg bezeichnet werden darf? Nach offizieller Berliner Sprachregelung herrschen in ­Afghanistan aus vielerlei Gründen beispielsweise lediglich „kriegsähnliche Zustände“.

Die von den USA geforderten zusätz­lichen 2500 Bundeswehr-Soldaten wird die schwarz-gelbe Koalition in London wohl nicht zusagen. Zuletzt machte gerüchteweise die Zahl 1500 die Runde. Ganz sicher will Deutschland verstärkt in den Aufbau der ­afghanischen Sicherheitskräfte investieren.
Ihnen soll, zumindest darüber sind alle der gleichen Meinung, so schnell wie möglich die Verantwortung für das Land übertragen werden: Männern wie Oberst Khalid und seinen wackeren Polizisten. Damit der Westen die Hölle am Hindukusch guten Gewissens verlassen kann.

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Heute wollen sie zeigen, was sie können.
Oberst Khalid, Kommandant der Afghanischen Nationalpolizei (ANP) im Distrikt Kholm, blickt von der Freitreppe seines Hauptquartiers zufrieden auf seine Truppen, die im Hof Aufstellung genommen haben: blaugrau die Uniformen, blitzblank die Stiefel, verwegen die verspiegelten Sonnenbrillen. Gleich werden sie zu einer Fußpatrouille aufbrechen, gemeinsam mit deutschen ­Polizisten und Soldaten, die sich ein Bild ­ihres Könnens machen wollen.

Die Lage in Kholm wird derzeit als ­„ruhig, aber nicht stabil“ eingestuft. Die gleichnamige Stadt liegt an einem neuralgischen Verkehrsknotenpunkt: Richtung ­Süden führt die Ringroad, die wichtigste Straßenverbindung des Landes, zum Salang-Pass und weiter nach Kabul. Richtung ­Osten geht es nach Kunduz, dem unruhigsten Winkel Nordafghanistans. Es kommt allerhand durch in Kholm, sowohl an Menschen als auch an Schmuggelwaren.

Ein Umstand begünstigt die Situation ­allerdings:
Hier leben nur wenige Paschtunen, also jene Volksgruppe, in der die Taliban ihre ethnische Basis haben. Seit Anfang vergangenen Jahres werden Oberst Khalid und seine Leute von einem „Mentoring Team“ ausgebildet. Jeweils vier Beamte des deutschen Innenministeriums und vier Feldjäger – Militärpolizisten der Bundeswehr – versuchen, ihnen die Grundsätze professioneller Exekutivarbeit zu vermitteln.

In Kholm sind sie schon recht weit.
Die Stadt und der gleichnamige Distrikt befinden sich am Übergang zur letzten Phase des sechsstufigen Programms, das sich über elf Monate erstrecken soll. Noch begleiten die Deutschen das Training, bald werden sie es nur noch beobachten.

Allerdings: Kholm ist nur einer von 112 Distrikten im Bereich des Regionalkommandos Nord. In 50 davon sind die Deutschen für die Ausbildung der ANP zuständig, ­lediglich zwei befinden sich auf dem Niveau von Kholm, zwei weitere liegen knapp darunter, drei stehen ganz am Beginn. Bleiben 42, in denen noch nicht einmal ein Anfang gemacht wurde.
89.000 Polizisten gibt es nach offizieller Statistik derzeit bei der ANP, 109.000 sollen es Ende des Jahres sein. „Die Rekrutierungszahlen sind so hoch, dass praktisch ­jeder genommen wird, der kommt“, klagt Jens Lüdemann*, einer der deutschen Polizeiberater, deren Zahl bis Mitte des Jahres von 60 auf 200 aufgestockt werden soll.

Dass die afghanischen Polizeischüler kein Auswahlverfahren durchlaufen müssen, schlägt sich auf die Qualität: Den meisten müssen erst einmal ganz grundlegende Dinge beigebracht werden. Zum Beispiel, wie man eine Dusche benutzt, weil sie noch nie eine gesehen haben. Schreiben und lesen, weil die Analphabetenrate bei 60 bis 90 Prozent liegt. Fragen statt schlagen, weil viele der Polizisten ihr ganzes Leben nichts ­anderes kennen gelernt haben als Krieg. „Es muss raus aus ihren Köpfen, dass da draußen das Recht des Stärkeren gilt und der Stärkere derjenige ist, der Uniform trägt“, sagt Lüdemann, während er sich einen Weg durch den belebten Markt von Kholm bahnt.

Aber geht sich das alles binnen weniger Monate aus, sagen wir: bis Mitte 2011? „Was man braucht, ist ein langer Atem“, antwortet Lüdemann diplomatisch. Immer wieder nehmen Polizisten nach abgeschlossener Ausbildung Reißaus und verschwinden. Sei es, weil ihnen der Job, der die höchste Todesrate des Landes hat, doch zu riskant für das gebotene Geld ist. Sei es, dass ihnen jemand mehr zahlt. Die Taliban?

Vor Lüdemann sichern seine afghanischen Kollegen die Seitengassen, in ihren coolen Sonnenbrillen spiegeln sich kleine Geschäfte, Mopeds, die blauen Burkas der Frauen. Die Polizisten haben seit dem letzten Mal deutliche Fortschritte gemacht, finden die Deutschen. Oberst Khalid ­lächelt zufrieden und erzählt, wie er sich mit den 1500 Paschtunen im Distrikt arrangiert hat, obwohl die schon drauf und dran waren, sich zu bewaffnen und in die Berge zu gehen: „Jetzt leben hier alle im Frieden“, sagt er dann.

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Dass sich ihre Truppen zumindest nicht in einem offenen Krieg befinden, konnte sich die deutsche Regierung bis Mitte 2007 ohne Weiteres einreden. Zwar waren da schon 18 Bundeswehr-Soldaten in Afghanistan ums Leben gekommen, die meisten davon aber – schlimm genug – nicht durch bewaffnete Auseinandersetzungen, sondern durch Unfälle. Der Norden, hauptsächlich von Tadschiken und Usbeken bewohnt, galt gegenüber dem paschtunisch dominierten Rest des Landes als ruhig und unproblematisch.

Die Deutschen versuchten aber auch, alles richtig zu machen. „Cultural awareness“, Rücksichtnahme auf die Landeskultur, lautet einer ihrer wichtigsten Grundsätze, als Freunde und Helfer wollen sie auftreten und nur ja nicht als Besatzer. Deshalb trägt die kleine Kirche im Camp Marmal, in der Pfarrer Ginzel die Messe zelebriert, etwa kein Kreuz am Dach: Die religiösen Gefühle der lokalen Arbeiter sollen nicht beleidigt werden.

Den Bau von 200 Schulen hat deutsches Geld zum Beispiel finanziert, in vier Städten wurde ein kommunales Wassernetz aufgebaut, mehrere entlegene Dörfer erstmals an die Stromversorgung angeschlossen. Die Bundeswehr selbst hat mehr als 700 Projekte in Zusammenarbeit mit zivilen Organisationen und Institutionen durchgeführt. Deutsche Soldaten durften bis vor Kurzem nur im äußersten Notfall schießen, von der aktiven Bekämpfung Aufständischer gar nicht zu reden.

Mittlerweile hat sich aber auch in ihrem Kommandobereich die Lage deutlich verschärft: Vor allem in Kunduz, wo die Bundeswehr ihren zweiten großen Stützpunkt unterhält, fordern Anschläge und ­Angriffe seit 2007 immer mehr Todesopfer – insgesamt sind bisher bereits 34 Deutsche ums Leben gekommen.

Im vergangenen September passierte dann etwas, das in der deutschen Öffentlichkeit als Sündenfall betrachtet wurde: Ein deutscher Offizier ließ ­unter nach wie vor nicht restlos ­geklärten Umständen zwei Tanklaster bombardieren, die von Aufständischen entführt worden waren. Beim Einsatz der Kampfjets wurden dutzende Zivilisten getötet. Seit vergangener Woche beschäftigt sich ein parlamentarischer ­Untersuchungsausschuss mit dem Fall, der den höchsten deutschen General, ­einen Staatssekretär und den früheren Verteidigungsminister den Job gekostet hat und auch den nunmehrigen Ressortchef zu Guttenberg schwer belastet.

Zudem hat die Kunduz-­Affäre eine hitzige Diskussion über den Sinn der deutschen Beteiligung am Afghanistan-Krieg ausgelöst, an der sich ­unter anderem auch Bischöfin Margot Käßmann, die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, beteiligte: „Immer mehr Militär zu schicken ist doch offensichtlich keine Lösung und bringt keinen dauerhaften Frieden“, formulierte sie in ihrer Weihnachtspredigt. Die Debatte schlägt nicht nur der deutschen Bevölkerung, die nach jüngsten Umfragen ­bereits zu 70 Prozent gegen den Einsatz ist, aufs Gemüt, sondern auch den Soldaten.

„Der einzelne Landser fühlt sich verarscht“
, ärgert sich Pfarrer Ginzel nach der Messe bei Kaffee und Kuchen: „Er soll für Sicherheit sorgen, aber wenn er mal schießt, dann ist das auch nicht recht. Diejenigen, die rausfahren, sind schlicht und einfach verunsichert von der Debatte.“

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Rausfahren ist genau das, was die Soldaten von Oberst Michael Matz fast jeden Tag tun müssen: Matz kommandiert die „Quick Reaction Force 4“ – die schnelle Eingreiftruppe der ISAF in Nordafghanistan. „Die Erfahrung ist: Wo wir sind, wird geschossen. Und wo wir sind, schießen auch wir zurück“, sagt Matz trocken. Er verwehrt sich allerdings dagegen, dass auch im Bereich des Regionalkommandos Nord ­alles immer schlimmer wird.

„Die Hotspots sind immer die gleichen. Sie verlagern sich nicht, und ihre Zahl steigt auch nicht an“, berichtet er. Die Vorgangsweise der Aufständischen sei nicht erkennbar professioneller geworden, die Zahl der Anschläge steige ebenfalls nicht an. Die schnelle Eingreiftruppe führt alle ihre Einsätze gemeinsam mit Einheiten der Afghanischen Nationalarmee (ANA) durch, die bereits jetzt einen deutlich besseren Ruf hat als die nationale Polizei. Über 96.000 Soldaten verfügt die ANA derzeit, auch sie soll in den nächsten Monaten vergrößert werden. Die Planungen sehen mit Ende des Jahres 134.000 Mann vor.

Aber hier gilt genau wie bei der Exekutive:
Pläne werden auf Papier gemacht, und Papier ist geduldig. Noch ist die ANA nicht einmal ansatzweise in der Lage, ihr Territorium zu kon­trollieren. „Das Problem ist, dass die afghanischen Sicherheitskräfte derzeit nicht in ausreichender Zahl zur Verfügung stehen“, räumt auch Oberst Matz ein. „Das heißt: Wenn wir mit massiver Präsenz in Einsatzräume gehen, kommt es zu einem Verdrängungseffekt: Die Aufständischen weichen aus, sickern nach unserem Abzug aber wieder in das Gebiet ein.“

Und dann sagt auch er das, was die Politiker, die ihn nach Afghanistan geschickt haben, nicht mehr wirklich hören ­mögen: „Man braucht hier viel Zeit. Irgendwann muss man dem Ziel ja näher kommen. Es ist Ausdauer gefordert, diese Operation geht nur in kleinen Schritten.“

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Es ist nicht leicht abzuschätzen, was die Afghanistan-Konferenz in London bewirken wird und welche Ideen sich dort durchsetzen. Ob der vergangenes Jahr durch Wahlbetrug an der Macht gebliebene Präsident Hamid Karzai mit seinem angekündigten „Versöhnungsplan“ Sympathisanten findet. Ob die Briten mit der Idee auf Verständnis stoßen, einen Treuhandfonds einzurichten, um verhandlungsbereite Taliban aus dem Aufstand herauszukaufen – eine Strategie, mit der in Afghanistan schon mehr Kriege entschieden wurden als durch Kampfhandlungen. Ob sämtliche NATO-Staaten den Kraftakt der USA unterstützen, und wenn ja, wie lange.

Ob die Amerikaner tatsächlich willens sind, sich auch um den lange vernachlässigten Aufbau der staatlichen Institutionen zu kümmern. Ob es der Westen damit ernst meint, die Verantwortung für Afghanistan den Sicherheitskräften des Landes erst dann zu übertragen, wenn diese dafür bereit sind.

Eines hat die Geschichte dieses Kriegs aber gezeigt – mehr Soldaten im Land bedeuteten bislang immer auch mehr Widerstand und mehr Opfer, sowohl unter den Militärs als auch unter den Zivilisten. So war das Jahr 2009, in dem die Zahl der NATO-Truppen erstmals auf über 100.000 Mann stieg, gleichzeitig auch das blutigste seit Beginn des Einsatzes. 2010 dürfte nicht viel besser werden. Und es wird wohl noch viele Jahre brauchen, bis das, was Pfarrer Andreas Ginzel den Gläubigen als Segen auf den Weg hinaus mitgibt, mehr ist als ein frommer Wunsch: „Gehet hin in Frieden.“