Alles so schön cool hier in der Schule

Alles so schön cool hier: Engagierte Lehrer in Steyr erfinden den Unterricht neu

Lehrer in Steyr erfinden den Unterricht neu

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Von Edith Meinhart

In Steyr fehlt ein Lokal für Leute, die auf Polstern lümmeln und Wasserpfeife rauchen wollen. Armin und Edis, zwei 16-Jährige mit bosnischen Wurzeln, erfinden es gerade. Sein Name: „Ching ching“. Das soll an den Klang von Geld erinnern und den beiden helfen, mit ihrer Idee ein bisschen reich zu werden. Katrin ist ein hübsches, blasses Mädchen. „Allergikerin“, sagt sie. Auf ihren Teller kommt nur Bio, an ihre Haut lässt sie nur Cremen ohne Zusatzstoffe. Sie und ihre Banknachbarin Kerstin feilen an einem Businessplan für ein Wellness-Lokal, das Superempfindliche verwöhnt.

Ebenso nötig wäre ein Kapperlshop, finden Michael und Denis. Michael hat immer eine auf dem Kopf. Seine ursprüngliche Geschäftsidee – ganz anderes Metier – war nicht überzeugend. Außerdem musste er ständig an das Mädchen denken, in das er verliebt ist. Fast wie im richtigen Leben. Ihr Lehrer zieht von einem Team zum nächsten. Die Kapperllabels, die Michael und Denis in ihr Online-Sortiment aufnehmen wollen, sind ihm nicht geläufig; und er findet es nicht schlüssig, wenn im Businessplan angehender Wasserpfeifenlokalbesitzer der Budgetposten Personal fehlt. Entzückt ist er trotzdem.

Josef Kaindl weiß, wie Betriebswirtschaftslehre auch sein kann. Schlimm. Es ist noch nicht lange her, da drohte die Handelsschule in Steyr eine Restveranstaltung für Versager und Verweigerer zu werden. In den Klassen saßen Jugendliche, die sonst auf der Straße gestanden wären; Halbstarke, die sich nicht einmal mehr bemühten, so zu tun, als könnten sie dem Unterricht folgen; Jugendliche, die am Ende der Pflichtschule kaum lesen konnten; viele davon Migranten. Und ihnen gegenüber: überforderte Lehrer. „Die Arbeit machte keinen Spaß mehr“, sagt Helga Wittwer, Englisch- und Psychologielehrerin. Am Ende jedes Schuljahres entließen sie und ihre Kollegen eine Generation ohne Zukunft ins Arbeitsleben. So wäre es noch lange weitergegangen, hätten nicht ein paar Rebellen befunden, dass es so nicht weitergehen darf.

Verräter. Hilfe war nicht zu erwarten, sagt der Biologielehrer Georg Neuhauser: „Wir sind überall angerannt: bei der Politik, der Gewerkschaft, den eigenen Kollegen.“ Also setzten sich Neuhauser, Wittwer und ein paar Kollegen zusammen und erfanden einen neuen Unterricht. „Cool“ – Cooperatives Offenes Lernen (siehe Kasten). Am Anfang erzeugte es überall Widerstand. Nur eine ÖVP-nahe Spitzenbeamtin im Bildungsministerium hielt die Hand über die Lehrerinitiative. Dafür gab es von roten Gewerkschaftern Beton. „Die Genossen mobilisierten dagegen, und die Schwarzen waren froh, dass sie diese Arbeit für sie erledigten.“ Den Gewerkschaftern war es vor allem darum gegangen, „zusätzliche Arbeit abzuwenden“, sagt Neuhauser: „Aus ihrer Sicht waren wir Verräter.“ Rückblickend betrachtet war Steyr das ideale Experimentierfeld. Die Handelsschulen waren im Dauerstreit der Bildungsideologen nicht einmal ein Nebenschauplatz gewesen. Dieses Desinteresse erwies sich nun als günstig. Unbemerkt von der Öffentlichkeit und den eigenen Kollegen sammelten die Pioniere Ideen und vernetzten sich mit Verbündeten im In- und Ausland. Die Guerillataktik hatte Erfolg: Inzwischen werden Cool-Stunden in 80 Schulen im Land angeboten – auch dort oft getragen von einer handverlesenen Schar von Lehrern.

In Steyr ist Frontalunterricht schon lange nicht mehr möglich. BWL-Lehrer Josef Kaindl hat es ausprobiert: Erst erklärte er 50 Minuten lang die Verästelungen des Marketingmix, danach fragte er seine Zuhörer, was sie behalten hatten: „So gut wie nichts“. Solche Experimente hätten ihm vor Augen geführt, „dass man seinen Stoff wunderbar vortragen kann, aber das heißt nicht, dass die Schüler einen Funken davon haben“. Die Folge davon ist in Studien nachzulesen. Laut OECD-Erhebung können 20 Prozent der 15-Jährigen nicht sinnerfassend lesen.

Pausenflair. In der Schule in Steyr herrscht fast immer Pausenflair. In den „offenen“ Lernphasen (vier bis zwölf Cool-Stunden pro Woche können es sein) bleiben die Türen offen. Die Schüler suchen sich aus, wo sie lernen, was sie erledigen und mit wem. Darum schlendern stets ein paar Grüppchen durch die Gänge oder hängen in der Chill-out-Zone herum: Die einen rechnen hier ihren ökologischen Fussabdruck aus, ein Arbeitsauftrag des Biologielehrers – während die anderen Buchhaltungsbelege sortieren, ein Job des BWL-Lehrers.

Aufgaben selbstständig, kreativ und im Team lösen, so lautet das Ziel. Die Wirtschaft schätzt diese Fähigkeit. Früher seien 90 Prozent der Absolventen arbeitslos geworden, inzwischen sind es nur mehr 80, sagt BWL-Lehrer Kaindl. Große Unternehmen wie das Motorenwerk BMW, der schwedische Konzern SKF und der Fahrzeughersteller MAN klinkten sich in das Experiment ein. Zweimal innerhalb von drei Schuljahren machen die Schüler einen Ausflug in die Praxis.

Für die Cool-Fraktion in Steyr braucht ein besserer Unterricht nicht mehr Stoff, sondern mehr Raum. Damit die Schüler zu ihren Lehrern Beziehungen aufbauen können, bleibt die Zahl der Lehrer pro Klasse gering. Zwei Stunden pro Woche steht Persönlichkeitstraining auf dem Programm. Da lernen die Jugendlichen, „sauber“ zu kommunizieren, Sach- und Gefühlsebene auseinanderzuhalten, Pauschalierungen und Gerüchte aufzudecken. Hier kann auch einmal erörtert werden, warum man keinen Businessplan zustande bringt, wenn man frisch verliebt ist.

Bei größeren Krisen tritt der Klassenrat zusammen. Ein Fall aus der Praxis: Die türkischen Mädchen unterhalten sich auf Türkisch. Die österreichischen sind verunsichert: „Die lachen uns aus.“ Dazwischen eine Gruppe Bosnier, die nicht weiß, zu wem sie halten soll. Die Lage entkrampft sich erst, als sich im Klassenrat jeder einzeln präsentiert – und die ethnischen Blöcke sich als Haufen unterschiedlicher Persönlichkeiten herauskristallisieren. In den Schulen entladen sich alle Spannungen einer pluralistischen Gesellschaft im Leistungsstress. Die wenigsten Lehrer haben gelernt, damit umzugehen – wie Kaindl, der Familientherapeut war, bevor er Lehrer wurde, oder Biologiekollege Neuhauser, der eine therapeutische Zusatzausbildung hat. Viele fühlen sich auch nicht zuständig für die widrigen Umstände des Lernens. Dabei weiß man aus der Gehirnforschung, dass man mit Druck und Angst nicht besser, sondern weniger lernt. Die Cool-Lehrer fördern gezielt das Selbstbewusstsein der Schüler. Neuhauser erzählt von einem Geschwisterpaar aus Bosnien, das mit seinen Eltern eine Weile in Schweden lebte. Jetzt sprechen die Kinder Schwedisch, Englisch, Bosnisch – und ein nicht fehlerfreies Deutsch. In der Klasse gehören sie zu den „Schlechten“. Neuhauser sagte zu ihnen: „Vier Sprachen, ich finde das zum Niederknien!“

Im Biologiesaal hat er einen Stationenweg der Sinne aufgebaut: Ein paar Mädchen versuchen, mit verbundenen Augen Gerüche zu erraten: Rosmarin, Muskat, Kaffee. Auf Station zwölf kann man das „Richtungshören“ ausprobieren, indem man sich die Enden eines eineinhalb Meter langen Gartenschlauchs an die Ohren hält, während jemand mit einem Bleistift rechts oder links der Mitte auf den Schlauch klopft. Neuhauser versucht, seine Augen und Ohren überall zu haben. Cool-Stunden können „ganz schön anstrengend sein“, sagt er. Vielleicht auch ein Grund, warum einige Kollegen keine einplanen. Sie bringen sich um manche Überraschung. In Kaindls BWL-Klasse etwa sitzt ein schüchternes Mädchen. Als es vor Kurzem darum ging, einen Businessplan für einen Hochzeitsshop zu machen, ging eine verborgene romantische Seite mit ihr durch. Lehrer Kaindl war baff: „Sie hat zehn A4-Seiten geschrieben und sich richtig hineingesteigert in die Idee. Wirklich bussi!“