Altöttings Albtraum

Porträt. Der Bestsellerautor und Religionshasser Andreas Altmann

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Die Entfernung zwischen Altötting und Paris beträgt rund 700 Kilometer Luftlinie. Für Andreas Altmann, der im Wallfahrtsort nahe München mit seiner schwarzen Muttergottes und den beigesetzten Herzen historischer Herrscher geboren wurde und seit 20 Jahren in Paris lebt, liegen zwischen diesen beiden Orten Welten. Altmann ist zugleich der berühmteste Sohn der Stadt und eine Art Albtraum Altöttings.

In seinem Bestseller „Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend“ (2011), einem von Aversion getriebenen Wortschwall mit hoher Sogwirkung, rechnete er mit seinem Geburtsort ab, frei von Skrupeln, Scham, Reue. Es ist die Revanche eines Mannes, der sich nach 20 Jahren Therapie im Pariser Refugium endlich vom Tyrannenvater und der Tristesse einer Jugend im erzkatholischen Kaff halbwegs befreit hat. Die Kleinstadt lässt Altmann bis heute in Rage geraten. „Alt­ötting ist ein Un-Ort, die Inkarnation von Bigotterie und Dummheit, Falschheit und Sinnbild des Bösen, der nackten Blödheit“, ereifert er sich in einem Pariser Café mit aufgerauter Stimme, ausholend gestikulierend. Er wirkt in seinem engen schwarzen Pullover und seiner dunklen Lederjacke wie ein sinistrer Poltergeist. „Als ich noch in Altötting lebte, gab es dort zwei Kinos, heute keines mehr. Früher eine Bücherei, heute nur noch stundenweise. Dafür sind die sogenannten ,Kapellplatz-Rutscher‘ nach wie vor unterwegs, die – mit dem Kreuz auf dem Buckel – laut greinen: ,Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa.‘ Dennoch, die geistige Wüste Altötting ist kein Einzelfall. Sie wuchert überall, wo der Pfaffe das Sagen hat.“

Der despotische Rosenkranzverkäufer
Im „Scheiß-Buch“, wie Altmann seine mehr als 100.00-mal verkaufte, in Literatur verwandelte Rache an Altötting nonchalant nennt, beschreibt er auch eine Jugend, die von Religion wie mit Bernstein überzogen schien. Altmanns Vater war der frömmelnde, seine Kinder dauerprügelnde Rosenkranzverkäufer, der größte Händler katholischer Devotionalien, ein grausamer Despot, der seine Frau in den Wahnsinn trieb. In der Schule wurden Frauen seinerzeit als Ausgeburten der Verkommenheit entehrt. Es gibt Stichwörter, die reizen Andreas Altmann zu Tirade und rhetorischer Kanonade – der Begriff des Katholizismus zum Beispiel. „Die Kirche will uns weismachen, dass der Herr Herrgott, den sie auch erfunden hat, jeden von uns kennt. Dass er genau weiß, weshalb er diesem oder jenem ein Scheißleben verpasst. Was für ein Hottentotten-Geblöke.“ Und weiter: „Die Kirche als Institution ist dermaßen versaut und verwahrlost – Mafiageld, Geldwäsche, Selbstmorde, Aktien in der Waffenindustrie, Missbrauch, Misshandlung, Sündenterror. Die katholische Kirche als moralische Instanz. Das muss ein Witz sein.“

„Dies beschissen schöne Leben“, Altmanns jüngstes Buch, das er diese Woche auch in Wien vorstellt, wirkt da wie ein Best of seiner Themen: Abenteurertum und Weltenbummelei, Sex, Sucht und Spiritualität (siehe Kasten am Ende). Wien und Österreich kennt der Vielreisende gut. Altmann studierte am Salzburger Mozarteum Schauspiel. Bei den Salzburger Festspielen durfte er beim „Jedermann“ irgendwo im ­Bühnenhintergrund dreimal „Halleluja“ schreien. Am Wiener Schauspielhaus absolvierte er ein paar Auftritte. Der Weg in die Literatur wurde Altmann ebenfalls von einem österreichischen Autor geebnet. „Liebe ist nur ein Wort“ von Johannes Mario Simmel war eines der ersten Bücher, die Altmann als Jugendlicher fasziniert las.

Genetisch bedingte Bargeldlosigkeit
Als Autor ist Andreas Altmann, der sich selbst am liebsten als „writer“, als Schreiber bezeichnet, kein Freund der ganz feinen Klinge. Er schnitzt seine Geschichten mit gröberem sprachlichem Werkzeug, scheut kein Pathos, schießt nicht selten übers Ziel. Er laboriere, notiert Altmann in „Dies beschissen schöne Leben“, an „genetisch bedingter Bargeldlosigkeit“. Die Sprache, stellt er mit Hang zum machohaften Poltern fest, sei eine „elende Hure. Sie treibt es mit vielen.“ Stichwort Schreiben. Altmann-Alarm. „Einer der dümmsten Sätze zum Journalismus“, ereifert er sich, „stammt vom 1995 verstorbenen Nachrichtenmoderator Hanns Joachim Friedrichs, der meinte, dass man einen guten Journalisten daran erkenne, dass er sich nicht gemeinmache mit einer Sache, auch nicht mit einer guten. Ich vertrete das genaue Gegenteil als Reporter: Ich bin Partei, ich ergreife Standpunkte. Der Leser soll wissen, woran er bei mir ist. In meinen Reisebüchern rege ich mich auf, bewundere, urteile, verurteile, singe Lobgesänge. Natürlich täusche ich mich manchmal: Pech gehabt.“
Als Reporter ist er nur noch selten im Auftrag von Zeitschriften und Zeitungen unterwegs, seit einiger Zeit erscheinen seine Bücher im Jahrestakt. Seinem auf zahllosen Reisen eingeübten „romantischen Lebensstil“ ist er treu geblieben. Gut die Hälfte des Jahres ist er noch immer unterwegs. „Dies beschissen schöne Leben“ entstand in Kambodscha, in einem schlichten Hotelzimmer. Rauchen, trinken, ­schreiben, lesen. So lautet sein Romantik-Programm.

„Dilettant mit Hingabe“
Am Alltag scheitert Altmann zumeist. Leben und Kunst, Alltäglichkeit und Schreiben wusste er noch nie unter einen Hut zu bringen. Er geht linkisch mit den Dingen und Phänomenen um, die ihm begegnen. Altmann kann nicht kochen, er versagt, wenn er ein Hemd zusammenlegen muss. Er beschäftigt Helferinnen, die ihm die Wäsche machen, für ihn zur Post gehen und seine Wohnung putzen. Will Altmann einen Nagel in die Wand schlagen, blättert er die Gelben Seiten durch, um nach einem Handwerker zu telefonieren. Sitzt an seinem Fahrrad, einem bis in die letzte Schweißnaht durchgestylten Traum in Rot-Schwarz, eine Schraube locker, schiebt Altmann das Vehikel in die nächste Werkstatt. Die Buchbinder und Schneider im Bezirk leben ebenfalls gut von ihm. Andreas Altmann ist im Umkreis seiner Wohnung, die in einer Sackgasse im elften Arrondissement liegt, sehr beliebt, er gilt, wie er selbst schreibt, als ein „Dilettant mit Hingabe“, als Gentleman, dem das Leben auch mit 63 noch Rätsel aufgibt.
Altmanns Verlangen nach Ordnung und Überschaubarkeit wirkt da wie ein notwendiges Gegenprogramm, wie rettendes Land in stürmischer See. Als Elfjähriger begann er, Tagebuch zu führen. 53 Wohnungswechsel sind darin bis dato verzeichnet. In das Appartement mit den ausgesuchten Jalousien und den handgetischlerten Bücherregalen, in dem er heute lebt, ist er mit gezählten 86 Kisten bedruckten Papiers, Büchern und Manuskripten, eingezogen. 28 Euro pro Quadratmeter, für Pariser Verhältnisse sehr annehmbar. Um exakt 153.906 Euro hat Altmann laut eigener Zählung in den vergangenen Jahrzehnten Freunde und Bekannte auf verschiedenen Kontinenten betrogen. Er führt Buch über seine kleinen und großen Machenschaften. Zwölf Lederjacken hängen im Kleiderkasten. Er führt auch eine Liste mit den 8000 Büchern seiner Bibliothek. Gerade was seine Lektüre betrifft, erweist sich Altmanns innere Unrast als mustergültig. Zerlesene Bücher pflegt er mit Spezialleim, Isolierband, Schneidwerkzeug und feinem Schleifpapier, unrettbare Exemplare trägt er zum Buchbinder.
Alle seine Bücher tragen den Stempel „Ex libris Andreas Altmann“. Freunden leiht er diese nur, wenn seinen Anordnungen Folge geleistet wird: „Hände waschen vor dem Benutzen.“

Es sei ein Wunder, so nimmt Altmann, dem Religion Mummenschanz ist, dann doch Zuflucht zum Glauben, wie er als Sohn des Altöttinger Rosenkranzkönigs zur Sprache gefunden habe. „Vielleicht bewegten sich plötzlich innere Geröllmassen, vielleicht brannte in meinem Hirn eine Synapse durch, vielleicht öffnete sich eine. Erst spät entdeckte ich die Schönheit der Sprache, die mich bis heute nicht losgelassen hat. Bei mir kam noch hinzu, dass ich nur via Sprache den ungeheuren Druck in mir loswerden konnte. Irgendetwas musste her, sonst wäre ich wohl zugrunde gegangen.“

Andreas Altmann agiert gern als Störenfried, als Agent provocateur in eigener Sache, nicht selten aus Notwehr. Es ist der Blick hinter die bürgerlich-besenreine Fassade, die ihn reizt. Sein Schreiben und Reden schickt er selten durch den Filter der Routine und Abgeklärtheit. Das „Scheiß-Buch“ spukte ihm 30 Jahre lang im Kopf herum, ehe er sich ans Schreiben machte. „Die große Gefahr bestand darin, mich selbst als Mittelpunkt einer Jeremiade, als ambulanten Tränensack, als Jämmerling und arme Sau darzustellen. Das wollte ich auf keinen Fall.“

In Deutschland diskutiert der Bundestag über die Einführung des Dosenpfands? Die Kosten für Vollkaskoversicherungen steigen? Angst vor dem Fremden macht sich breit? Über das von ihm so empfundene Erstarken von Verdummung und Stumpfsinn, über die „Lauge brausender Mittelmäßigkeit“ kann Altmann minutenlange, zornige Monologe halten, ungerecht in der Art ihrer Absolutheit, aufklärend in der Manier ihres J’accuse. „Ich fresse Buchstaben. Der ungeheuren Verblödung wegen, der wir ständig ausgesetzt sind, benötige ich das Rüstzeug Sprache“, grollt er. „Die Verdummung rastet nie. Lesen ist mein Fallschirm, mein Flammenwerfer, mein Rettungsboot, meine Lungenmaschine, um davonzukommen, um die Welt auszuhalten. Indem ich mich, wenn auch nur virtuell, von Menschen umzingeln lasse, die mich durch Sprache und Geist beschützen, die mir helfen, die Schafsköpfe auszuhalten.“

Im Gegenzug wurde und wird Altmann häufig verbal attackiert. Man warf ihm vor, sich mit fremden Federn zu schmücken. Seit Jahren füttert er die Festplatte seines MacBooks mit fortlaufenden Dossiers, die mit „Phrases“ und „Words“ überschrieben sind; seine Zitierwut und sein Bildungshunger sind legendär. Er wurde in seiner Funktion als Reiseschriftsteller verunglimpft, man unterstellte ihm öffentlich, er habe blasiert in die Welt gesetzt, dass er weit über 100 Orte bereist, den Globus gleichsam auskartografiert habe. Auf der Wunschliste der Destinationen, die Altmann in 30 Berufsjahren als Reporter noch nicht buchte, finden sich viele weiße Flecken. Die Gemeinde der Paulo-­Coelho-Bruderschaft irritiert Altmann dagegen mit Bedacht: In so gut wie jedem seiner Bücher donnert er gegen den brasilianischen Philosophen des literarischen Blubberns und dessen „Eso-Geseiche“.

Vollkommener Gleichmut den letzten Dingen gegenüber will sich jedoch auch beim Reporter Andreas Altmann nicht einstellen. „Man geht nach seinem Tod ein ins göttliche Himmelreich?“ Es ist eine von Altmanns rhetorischen Fragen. „Bullshit. Es macht klick, und man ist tot.“

Dennoch muss er oft an jenen Nachmittag in Vietnam denken, an dem er mit einem Guide unterwegs war, der miserabel Englisch sprach. In einem Dorf gruben die Bewohner ihre Toten aus. Altmann fragte nach, sein Begleiter versuchte sich an einer Erklärung. Das entscheidende Wort für die Umbettungsaktion, das Sinn in das bizarre Totengedenken gebracht hätte, fiel dem Übersetzer nicht ein. Es ärgert Andreas Altmann bis heute, nicht zu wissen, was mit den Toten geschah.

Infobox
Salamischeiben und Zigarillos
Von magischen Momenten und Hungerorgien: Andreas Altmanns Bücher im Überblick.

Der Untertitel von Andreas Altmanns neuem Buch „Dies beschissen schöne Leben“ umreißt jene Form des Erzählens, die dem Autor wohl am nächsten liegt: „Geschichten eines Davongekommenen“. Altmann ist ein literarischer Feldforscher, ein genauer Beobachter und unerbittlicher Analytiker seiner selbst, mit einem Faible für die Themen Sex und Sucht. Seine Bücher entstehen buchstäblich im Vorübergehen. Was für Altmann zählt, ist der Wirklichkeitsgehalt, direkte Sprache ohne Schnörkel. „Ich bin kein Romanschreiber“, so Altmann. „Das kann ich nicht.“ Auf seiner Homepage ist der deutliche Hinweis zu finden: „ICH bin NICHT jener Andreas Altmann, der Gedichte veröffentlicht! ICH habe kein EINZIGES Gedicht geschrieben!“ Die Titel seiner Bücher zeigen die Richtung an: „Weit weg vom Rest der Welt – In 90 Tagen von Tanger nach Johannesburg“ (1996), „Notbremse nicht zu früh ziehen! – Mit dem Zug durch Indien“ (2003), „Im Land der Regenbogenschlange – Unterwegs in Australien“ (2008).

Für sein Tramp-Tagebuch „34 Tage 33 Nächte“ (2004) machte sich Altmann, der Reiseautor und Reporter, mit 2,77 Euro Taschengeld, einigen Salamischeiben und zwei Dutzend Zigarillos zu Fuß von Paris nach Berlin auf. „Nach 1863918 Schritten, nach siebzehn Blasen, nach 3647 verlorenen Gramm Körperfleisch“, rechnet er darin vor, „nach 34 Tagen und 33 Nächten, nach einer Tonne kleinlauter Gedanken und einer anderen voller Enthusiasmus und Überschwang bin ich am Ziel.“ Im vergangenen Jahr erweiterte er den Radius seines Wirkungskreises. Der Band „Gebrauchsanweisung für die Welt“ führte den Autor von Afrika über Asien bis nach Südamerika. „Wie viele Bücher könnte man über die Magie Asiens schreiben?“, fragt Altmann. „Eine Eisenbahnladung? Oder zwei? Ich ahne es nicht einmal.“ Für Herbst ist die Publikation von Altmanns Reportage aus dem Unruhegebiet Palästina geplant.

Andreas Altmann: Dies beschissen schöne Leben. Geschichten eines
Davongekommenen. Piper, 256 Seiten, EUR 20,60

Wolfgang Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.