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Analyse: Der ewige Hoffnungsträger

Der ewige Hoffnungsträger

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Kurz nachdem die Schüsse in Dallas gefallen waren, berichtete John F. Kennedys enger Mitarbeiter Theodor C. Sorensen von zahllosen Menschen, die ihm erzählt hätten, der Tod des Präsidenten sei für sie noch berührender gewesen als der ihrer eigenen Eltern. „Ich nehme an“, meinte Sorensen „der Grund dafür dürfte darin zu finden sein, dass der Tod des Vaters oder der Mutter zumeist einen Verlust an Vergangenheit, doch die Ermordung Präsident Kennedys einen unschätzbaren Verlust an Zukunft darstellt.“

Diese Erklärung ist noch immer gültig. Nicht das, was er in seinem Amt vollbracht hat, machte Kennedy zu einer der großen Figuren des 20. Jahrhunderts. Das wissen wir heute, nach minutiöser historischer Aufarbeitung seiner tausend Tage im Weißen Haus, besser als damals.

Realpolitisch war JFK ein recht mittelmäßiger Präsident, der die USA und die Welt in der Kuba-Krise mit seiner Unentschlossenheit an den Rand des Atomkriegs geführt hatte; der an der Wiege des Vietnamdesasters der USA stand; der innenpolitisch nur wenige seiner Sozialgesetze durchbrachte; der nur sehr zögerlich die Bürgerrechtsbewegung von Martin Luther King unterstützte. Inzwischen ist auch allgemein bekannt, dass sich hinter der hochmoralischen Gebärde des Ehemanns der schönen Jackie ein obsessiver Schürzenjäger und notorischer Ehebrecher verbarg.

Aber all diese desillusionierenden Erkenntnisse konnten den Mythos Kennedys bis heute nicht zerstören. Auf diesen brillanten, reichen und glamourösen Spross einer mächtigen US-Dynastie wurden alle Sehnsüchte einer Generation projiziert, die spürte, dass eine neue Zeit angebrochen war.

Die verbissene und paranoide Phase des Kalten Kriegs, die bösen fünfziger Jahre waren zu Ende. Zum ersten Mal war mit John F. Kennedy ein Katholik amerikanischer Präsident geworden. Ein Ire obendrein. Die absolute Dominanz der WASPs, der weißen angelsächsischen Protestanten, war damit gebrochen. Ein Signal: Auch andere Minderheiten verstanden das. Im Sommer 1963 hatte Kennedy in einer TV-Ansprache erstmals seit Abraham Lincoln das Gewicht des hohen Amtes vorbehaltlos für die Gleichberechtigung der Schwarzen eingesetzt. Die Melange von pragmatischem Harvard-Liberalismus und katholischem Pathos in Kennedys Rhetorik wirkte umwerfend. Der jugendliche Charme faszinierte die Menschen. Und nach der Kuba-Krise schien plötzlich „friedliche Koexistenz“ mit dem Kommunismus, weltpolitische Entspannung angesagt.

Kennedy war nicht der Einzige, der die in Bewegung kommende Jugend inspiriert und die symbolischen Grundlagen für die wilde und kreative zweite Hälfte der sechziger Jahre gelegt hatte. Es gab ein internationales Triumvirat der Hoffnung: Neben Kennedy begeisterte – wenn auch nicht so nachhaltig – der Kremlchef Nikita Chruschtschow, der zu entstalinisieren begonnen hatte und für das anbrechende „Tauwetter“ in der Sowjetunion stand. Und in Rom residierte mit Johannes XXIII. ein gütiger Papst, der Modernität zuließ und die katholische Kirche durchlüftete.
Es war die Zeit, da man noch unschuldig von Fortschritt sprechen konnte. Dafür vor allem standen Kennedy und die USA. Es waren wohl die glücklichsten und zuversichtlichsten Jahre des vergangenen Jahrhunderts, in denen sich das mächtige Amerika von seiner freundlichsten und generösesten Seite zeigte.

Die Fortsetzung ist bekannt. Der gütige Papst starb, Chruschtschow wurde aus dem Amt gejagt und Kennedy erschossen – so wie später auch Martin Luther King und John F.s Bruder Robert Kennedy.

Noch tobte sich das freundliche und enthusiastische Jahrzehnt aus. Bald aber setzte die Gegenbewegung ein, der Rollback. Überall. Wieder kamen die alten Männer, die Nixons und Breschnews, die Reagans und Tschernenkos an die Macht, die im Geiste der fünfziger Jahre allesamt die Lockerungen und Öffnungen der sechziger Jahre rückgängig machen wollten.
Es konnte nicht wirklich gelingen. Der Kulturbruch, den Politiker wie Kennedy eingeleitet hatten, war zu tief. Als der Kommunismus untergegangen und der Kalte Krieg beendet war, schien der alte Spirit plötzlich wieder aufzuleben.

Man kennt das Bild des jungen Bill Clinton, wie er als Schüler dem Präsidenten Kennedy die Hand reichen darf und bewundernd zu ihm aufblickt. So unterschiedlich ihr Background auch ist, Clinton, die proletarische und demokratische Version des aristokratisch wirkenden Kennedy (sexuell war er nicht minder ausschweifend als sein Vorbild), bestach in den neunziger Jahren die US-Bürger ebenfalls mit jugendlichem Charme und intellektueller Brillanz. Wie in der kurzen Ära Kennedy schien im vergangenen Jahrzehnt die Zukunft wieder Gutes zu verheißen.

Clinton wurde nicht erschossen. Aber die Gegner haben mit allen Mitteln versucht, ihn politisch zur Strecke zu bringen. Und Anfang des neuen Jahrhunderts ist mit George W. Bush wieder eine Retro-Garde am Ruder – diesmal offenbar wirklich wild entschlossen, mit dem liberalen Erbe Kennedys radikal aufzuräumen: auf allen Ebenen – in den USA wie im Rest der Welt.

Der Mythos Kennedy aber lebt, weil die Zukunft, die John F. Kennedy und seine Zeit zu verheißen schienen, noch immer nicht eingelöst ist.