Starr vor Angst

Anspruchsdenken, Machtgier und Zögerlichkeit lähmen die Koalition

Innenpolitik. Anspruchsdenken, Machtgier und Zögerlichkeit lähmen die Koalition

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Es war ein schöner Tag. Vormittags der Eid beim Bundespräsidenten, nach Mittag dann die offizielle Amtsübergabe in den Ministerien, schließlich das gemeinsame Abendessen mit den Gattinnen.

Wie mögen Werner Faymann und Josef Pröll diesen 2. Dezember 2008 wohl in Erinnerung haben, an dem sie einander versprochen hatten, alles anders, alles ein wenig besser, alles viel harmonischer anzugehen als ihre gescheiterten Vor­gänger?

Zwei Jahre später hat diese Regierung die schlechtesten Sympathiewerte, seit es in Österreich große Koalitionen gibt: Bloß noch 53 Prozent würden laut Umfragen heute SPÖ oder ÖVP wählen. In den Daten der meisten Institute rangiert Heinz-Christian Straches FPÖ bereits vor der Volkspartei. Und wenn sich nichts Grundsätzliches ändere, seien die beiden Regierungsparteien „auf dem besten Weg, die FPÖ zur stimmenstärksten Partei zu machen“, meinte vergangene Woche der steirische Landeshauptmann Franz Voves (SPÖ). Kollege Andreas Koller von den „Salzburger Nachrichten“, alles andere als ein Alarmist, meinte vergangenen Freitag gar schon: „Man wird sich an den Gedanken gewöhnen müssen, dass die FPÖ in der nächsten Regierung sitzen wird.“

Das als Versagen dieser Regierung an allen Fronten zu interpretieren greift zumindest kurz. Sie hat das Land schließlich nicht schlecht durch die Krise gebracht. Vergangene Woche lobte eine Expertise der EU ausdrücklich die Erfolge der Österreicher beim beeindruckenden Niedrighalten der Arbeitslosigkeit und vor allem das klug eingesetzte Mittel der Kurzarbeit.

Freilich käme kaum jemand in Österreich auf die Idee, dies als besondere Leistung anzuerkennen – dazu sei der Staat schließlich da, darauf habe man Anspruch, meinen die Wähler. Darum will jetzt auch niemand die Rechnung begleichen. Budgetsanierung? Natürlich! Sparen? Schon, aber bitte nicht bei mir.

Seit die Regierung vor etwa vier Wochen ihren Budget­entwurf vorgelegt hat, ist es Nationalsport, sich aus dem Sparpaket hinauszureklamieren. Der Stiftungsverband protestiert gegen die höhere Besteuerung von Stiftungen, die Wirtschafts­treuhänder gegen weniger Steuerabzugsmöglichkeiten, An­legervertreter und Immobilienfonds gegen die Besteuerung von Kursgewinnen. Niki Lauda droht, nach Bratislava abzuziehen, sollte die Flugticket-Besteuerung nicht fallen, die Rechtsanwälte fluchen über höhere Gerichtskosten, Hilfsorganisationen beklagen die gekappte Entwicklungshilfe. Die Hoteliersvereinigung macht auf ganz dramatisch: „Die Regierung führt uns auf die Schlachtbank.“ Die Autofahrerklubs klagen über die höhere Mineralölsteuer. Studenten- und Jugendorganisationen marschieren im Wochentakt gegen die um zwei Jahre verkürzte Bezugsdauer der Familienbeihilfe auf, Seniorenvertreter beklagen entrüstet die Streichung des Alleinverdienerabsetzbetrags für Pensionisten. Kardinal Christoph Schönborn („Schönborn liest Regierung die Leviten“, titelte die Austria Presse Agentur sinnig) kritisierte das Budget ebenso wie der evangelische Bischof Michael Bünker und die islamische Religionsgemeinschaft. Unzufrieden zeigten sich Caritas und Diakonie, Lebenshilfe und Arbeitersamariterbund. Die Gerichtsdolmetsch-Vereinigung, die Zivildiensteinrichtungen, die Behindertenverbände, die Wittgensteinpreisträger – sie alle protestierten. Zur Großdemo riefen vergangenen Samstag der Katholische Familienverband, die Hochschülerschaft, die Kinderfreunde, Attac und mehrere Gewerkschaften auf.

Rücksichten auf Parteifreunde gibt es schon längst nicht mehr:
Gegen das Paket der von der SPÖ angeführten Regierung erhoben ÖGB und Arbeiterkammer ebenso Einwände wie die SPÖ Oberösterreich und die Tiroler Sozialdemokraten. Oberösterreichs Landeshauptmann Josef Pühringer (ÖVP) richtete seinem Parteivorsitzenden, dem Finanzminister, aus, er betrachte es als „Kriegserklärung“, wenn nun wegen der Einsparungen die Linzer Westumfahrung erst später gebaut werde, worauf der aus Oberösterreich stammende Wirtschaftsminister Reinhold Mitterlehner ankündigte, dem Budgetentwurf im Ministerrat nicht zustimmen zu wollen, sollte der Linzer Westring eingespart werden. Vorarlbergs Landeshauptmann Herbert Sausgruber (ebenfalls ÖVP) drohte Josef Pröll wegen der gekürzten Familienförderung gar mit dem Verfassungsgerichtshof. Ach ja: Die Opposition ist auch dagegen.

Österreich auf dem Weg zur Unregierbarkeit – arme Regierung! Arme Regierung? Wann hat denn jemand an deren Spitze zuletzt die Fahne gepackt und ein entschlossenes „Mir nach!“ verkündet? Wer hat denn der Öffentlichkeit ausreichend klargemacht, dass mit diesem Paket die Staatsschulden bloß etwas langsamer steigen werden und dass das Einsparen von fünf Prozent der üppigsten Familienförderung des Kontinents wohl kaum zu Massenelend führen werde?

Schon am Tag nach den Budgetbeschlüssen von Loipersdorf gestand der Kanzler milde zu, man könne ja über die eine oder andere Maßnahme reden, es werde schon da oder dort „abgeschliffen“ werden. „Nachschärfen“ ist das Verbum der Saison.

Politik ist schon längst nicht mehr „das Bohren durch dicke Bretter“ – das überstrapazierte Zitat Max Webers stammt vom Beginn des 20. Jahrhunderts –, sondern taktisches Getänzel. Vor Wahlen steigern sich die Parteien dann stets in einen Veitstanz, dem später ein übler Kater folgt. Am denkwürdigen 22. September 2008 – wenige Tage vor der Nationalratswahl – beschloss der Nationalrat eine Anhebung des Pflegegelds, die Verlängerung der Hacklerregelung, eine überdurchschnittliche Pensionserhöhung, die Abschaffung der Studiengebühren, die 13. Familienbeihilfe (rückwirkend sogar) und das Einfrieren des Autobahnvignetten-Preises. Gut die Hälfte der damals verteilten Wahlzuckerl wird jetzt unter anderem Titel wieder eingesammelt, die andere Hälfte ist beim nächsten Sparpaket abzugeben.

So ist wenigstens der Nationalrat beschäftigt, der seit Beginn dieser Legislaturperiode mangels Gesetzesvorlagen so unterbeschäftigt ist, dass Sitzungstage einfach gestrichen wurden. Man könne jetzt nicht viel tun, es stünden doch die Landtagswahlen in Salzburg, Oberösterreich und Vorarlberg vor der Tür, flüsterten Vertreter der Regierungsparteien den Journalisten zu. Als diese geschlagen waren, verwies man auf die bevorstehenden Urnengänge im Burgenland, in der Steiermark und in Wien. Nicht einmal das Budget wagte die Regierung so zeitgemäß zu präsentieren, wie es die Verfassung vorschreibt.

Jetzt gibt es lange keine Wahlen.
Das nächste Mal wird 2013 gewählt – ein Flugloch, das sich nur einmal in einem Politikerleben bietet. Eine drei Jahre währende wahlfreie Periode gibt es erst wieder zwischen 2030 und 2033, wenn nicht einer der 46 bis dahin anstehenden Urnengänge vorverlegt wird. In diesem sehr wahrscheinlichen Fall würde es sich bis zum Ende dieses Jahrhunderts nicht mehr ausgehen.

Noch klingen die Bekundungen der Regierung Gusenbauer/Molterer nach, als diese sofort nach Amtsantritt überfallsartig und diskussionslos die Legislaturperiode von vier auf fünf Jahre verlängerte: Das mache man nicht, damit sich die Abgeordneten länger die Hintern breit sitzen können, wurde beteuert. Vielmehr habe man so mehr Zeit zum Arbeiten, Zeit für unpopuläre, aber notwendige Maßnahmen, die in Vorwahlzeiten ja undenkbar seien. Voilà!

Über die Kärntner Ortstafeln etwa wird schon seit 55 Jahren gestritten. Sie sind ein Musterbeispiel für das Verkommen politischer Sitten: Jahrelang instrumentalisierte sie Jörg Haider in seinen treudeutschen Kampagnen. Als man im Frühjahr 2006 einer Lösung nahe war, ließ sie nicht Haider, sondern die SPÖ platzen: Man wollte dem damals noch amtierenden Kanzler Wolfgang Schüssel nicht diesen historischen Triumph gönnen. Derzeit vertritt die SPÖ die seinerzeitige Schüssel-Position – und die Querschüsse kommen wieder aus der Kärntner FP. So funktioniert Politik in Österreich.

Oder die Schulen:
Seit 35 Jahren (!) werden Gesamt- und Ganztagsschule in Schulversuchen getestet. Man könnte also meinen, die Bildungspolitiker müssten langsam zu einem Schluss kommen, ob die Modelle sinnvoll sind oder nicht. Diskutiert wird aber nicht darüber, sondern über die Frage, ob der Bund oder die Länder über die Lehrer verfügen dürfen. Was ganz nebenbei beweist, dass Regierungsabkommen nicht das Papier wert sind, auf dem man sie druckte: Im derzeit gültigen – ihm haben 2008 auch die schwarzen Landeshauptmänner zugestimmt – ist eindeutig festgeschrieben, dass diese Kompetenz dem Bund zufallen soll.
Oder die Universitäten: Natürlich war allen Verantwortlichen klar, dass Gebühren für eine akademische Ausbildung in der Höhe des Mitgliedsbeitrags in einem Fitnesscenter mittlerer Qualität durchaus zumutbar waren, zumal die große Mehrheit der Studenten aus Familien mit eher kommoden Einkommensverhältnissen kommt. Aber der kostenlose Uni-Zugang wurde von SPÖ und Grünen zur Fahnenfrage erhoben, und nur unkonventionelle Geister wie die Salzburger Landeshauptfrau Gabi Burgstaller wagen es, das Vernünftige vorzuschlagen: nämlich Studiengebühren plus ein gerechteres Stipendiensystem.

Oder das Wahlrecht:
Im Regierungsprogramm aus dem Jahr 2008 wurde vereinbart, das Briefwahlrecht missbrauchssicher zu machen. Eine Stimmabgabe nach Schluss der Wahllokale müsse verhindert werden. Sechs Landtagswahlen und viele aufgeflogene Missbrauchsfälle später gibt es noch immer kein neues Briefwahlrecht. Ganz im Gegenteil: Am Montag nach der Wiener Landtagswahl forderte die ÖVP in Inseraten dazu auf, noch schnell die Briefwahlstimme zur Post zu bringen. Wie durchgeknallt darf Politik sein?

Oder die Hacklerregelung:
Sie wurde vor zehn Jahren vom damaligen FPÖ-Sozialminister Herbert Haupt ersonnen. Seither wurde offenkundig, dass sie vor allem von Beamten und Bankangestellten genutzt wird, aber kaum je von Arbeitern, für die sie gedacht war. Jetzt macht man den Nachkauf von Versicherungszeiten merklich teurer – dann können sich ihn nur noch die Besserverdienenden leisten, und man hat die letzten Hackler draußen.

Das ist der Fluch von unserm edlen Haus: / Auf halben Wegen und zu halber Tat / Mit halben Mitteln zauderhaft zu streben.“ In Grillparzers „Bruderzwist“ erhebt Herzog Mathias diesen Vorwurf an seinen kaiserlichen Bruder Rudolf II., den das Volk für untätig hält. Er wird übrigens später gestürzt.

Der Habsburger gab damit gleichsam das Motto für jene Tragikomödie vor, die unter dem sperrigen Namen „Staats- und Verwaltungsreform“ als Wiedergänger durch Österreichs politischen Diskurs geistert. An keinem anderen Projekt wird so augenfällig, wie schwungvoll-elegant in Österreich große Vorhaben auf Nimmerwiedersehen schubladisiert werden. Der in mancher Hinsicht unterschätzte Bundeskanzler Wolfgang Schüssel hatte 2003 zu einem „Österreich-Konvent“ geladen, der darüber nachdenken sollte, wie die öffentlichen Aufgaben und Befugnisse neu und kostengünstiger sortiert werden könnten. In der Folge berieten die besten Köpfe der Verfassungsjuristerei in vielen langen Sitzungen mit allen Parlamentspräsidenten, Landeshauptleuten und Landtagspräsidenten. Den Vorsitz führte der frühere Rechnungshofpräsident Franz Fiedler.

Zwei Jahre später, 2005, überreichte Fiedler dem Bundespräsidenten und der Bundesregierung ein umfangreiches Konvolut von Ideen: Reform des Bundesrats, Stärkung des Rechnungshofs, länderübergreifende Gemeindeverbände, kostengünstigere Bund-Land-Aufteilung, einfachere Schulverwaltung. Fiedler hatte sogar die Schwerarbeit nicht gescheut, auf der Basis der Beratungen eine neue Bundesverfassung zu formulieren.
Die Regierung übermittelte die so mühsam erarbeiteten Papiere dem Nationalrat, der einen eigenen Ausschuss zu ihrer Beratung einsetzte. Der Ausschuss beriet, kam auf keinen grünen Zweig und gelobte, die Arbeit nach den damals anstehenden Nationalratswahlen 2006 fortzusetzen.

Nach den Wahlen wurde freilich nur noch eine „Expertengruppe“ eingesetzt – die Leitung hatte wieder Franz Fiedler inne –, die abermals einen Bericht mit Vorschlägen erarbeitete, die dem nun neuen Bundeskanzler Alfred Gusenbauer überreicht wurden. Doch ach: Die Länder waren böse, weil ihnen bestimmte Zentralisierungsabsichten – etwa im Schulbereich – nicht gefielen. Also wurden bloß ein paar Trümmer toten Rechts entsorgt, „und dann ist die Sache versandet“, erinnert sich Franz Fiedler. „Die derzeitige Regierung hat auf diesem Gebiet offenkundig keine großen Ambitionen. Ich kann mir eigentlich überhaupt nicht vorstellen, dass sich noch je eine Regierung zu einer großen Verfassungsreform aufschwingen kann.“

So also sehen Sackgassen in Österreichs Politik aus. Eine noch viel ausweglosere könnte sich am Abend der nächsten Nationalratswahl eröffnen. Wie die Dinge derzeit laufen, ist es gut möglich, dass SPÖ und ÖVP – gemeinsam! – unter die 50-Prozent-Grenze rutschen. Und dann? Rot-Grün oder Schwarz-Grün geht sich nicht aus; in einem Dreier-Pack werden die Dinge nicht einfacher. Schwarz-Blau hatten wir schon, und die Staatsanwaltschaft ermittelt noch immer.

Aber in drei Jahren kann ja alles anders sein. Im Streit um die Kompetenzen für die Lehrer sprach der Kanzler vergangene Woche jedenfalls schon ein „Machtwort“. Es lautete: Ende der Debatte. Alles bleibt, wie es ist. Na also.