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Avantgarde

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„Es dauert lang, jung zu werden.“ Pablo Picasso

Picasso hatte oft Recht, auch darin. Persönliche Erfahrung bestätigt seine Weisheit. Ich war als Kind ein Greis, als Jugendlicher ein Grufti. Ich brauchte einst 35 bis 40 Jahre, um endlich 16 zu werden. Erst dann wurden mir die Frischefaktoren der Jugend zuteil, also Naivität, Freundesglaube, Optimismus, Übermut, Aufwärtsdrang und eine wahllose Begeisterung für alles Neue wie neue Gefährtinnen, neue Werkzeuge und neue Kunst. Sogar neue Wirtschaftstheorien bezauberten. In dieser Zeit entwickelte sich eine merkwürdige Leidenschaft. Wie Vladimir Nabokov sammelte ich Schmetterlinge, allerdings ziemlich große, schwere, zweibeinige „Riesenfalter“: die neuen Wirtschafts-Mächtigen unserer Zeit. Kraft meiner Naivität schaffte ich, was skeptische, echt alte Kollegen für unmöglich gehalten hatten. Bald fingen sich im Fangnetz die schönsten, schillerndsten Exemplare. Besonders wertvoll waren zwei Herrschaften, einer aus dem Piemont, einer aus Massachusetts. Sie zeigten als dia­lektisches Lehrbeispiel die volle Spannweite der CEOs und presidents, die in der dünnen Luft jenseits der Baumgrenze flattern. Der eine, Carlo de Benedetti von Olivetti, stand fürs Leichte, Schlitzohrige, Schönheitsliebende, der andere, Ken Olsen von DEC, fürs Düstere, Selbstgerechte, Technikliebende. Beide faszinierten und waren letztlich Gescheiterte, Opfer ihrer extremen Natur.

Affenstolz erzähle ich auch gern von frühen Begegnungen mit Bill Gates und den freundlichen Super-Japanern wie Kaku, Yajima, Yamamoto, Kishimoto, doch mein feinster Fang blieb weitgehend unbekannt: Stan Shih, Gründer der erfolgreichen Computer-Company Acer. In der „Far Eastern Economic Review“ hatte ich gelesen, er sei der reichste Chinese. Was damals noch logisch Taiwan vulgo Nationalchina alias Formosa bedeutete, nicht das heute explodierende Rotchina oder Mainland China, das beflissen-buckelnde Handelsherren nur noch „China“ nennen, als gäbe es den früheren Freund Taiwan nicht mehr. An Shih denke ich gern, weil es eine tolle, aussichts­­lose Jagd war. Shih ist introvertiert und fluchtaffin, ein mo­-
v­ing target. Ich verfolgte ihn fürs Wirtschaftsmagazin „trend“ buchstäblich um die ganze Welt. Schließlich stellte ich ihn in seinem persönlichen US-Headquarter, einer Suite im Waldorf-Astoria, New York. Dass er mich überhaupt empfing, hatte nichts mit der „Macht der Medien“ zu tun, nur mit der sagenhaften Liebe der höheren, asiatischen Klassen zur klassischen Musik Europas. Die Losungsworte Wien und Salzburg öffnen auch Suiten.
Was Stan Shih über Börsen, Microsoft und Mozart erzählte, beschleunigte den Puls weniger als seine Geschäftsphilosophie. Sie bot einen neuen Zugang zum Begriff „Avantgarde“. Shih erinnerte mich höflich an etwas, das ich nie gewusst hatte: Avantgarde ist ein Begriff der napoleonischen Heere. Er bezeichnete die erste Reihe der Soldaten, die immer auf dem Feld blieben, als Kanonenfutter.

Der Acer-Boss, für das US-Magazin „Time“ „the engineer who turned Taiwan into a PC-manufactoring power­house“, hat daraus seine Lehre gezogen. Er hielt es für seine wichtigste Leistung, die Götzen Frontstellung, Geschwindigkeit und State of the art neu zu bedenken. Grob zusammengerafft teilt er seine Firma in Gebiete unterschiedlicher Geschwindigkeit. Etwa so: Zeitlupe für alle „poetischen Prozesse“ wie Werbeauftritt und Design und den Blick aufs Ganze. Schönheit und Klugheit schöpfen aus den Brunnen der Langsamkeit. Dafür aber: rasende Geschwindigkeit in der Produktion, allerdings auf bedachtsam verlegten Schienen. Die Zurüstung darf Zeit kos­ten, die Fertigung selber nicht. Das Herzstück des Acer-Erfolgs liegt im Bereich der mittleren Geschwindigkeit, dort, wo Stan Shih zum Begriff fresh technology vorstieß. Hier legte er Wert auf präzise Auslegung: Frische Technologie heißt nicht alte Technologie, die man allenfalls den Schwellenländern zumuten darf. Sie ist aber auch nicht die Technologie on the edge, ganz vorn an der Kante. Shih stellte sich bei Intel & Co nie um den letzten Prozessoren-Schrei an. Er kaufte den vorletzten Schrei. Der klang für ihn besser. Er war dramatisch billiger und zugleich zuverlässiger, mit Sicherheit frei von Kinderkrankheit. Die Philosophie wurde auch bei Kabeln, Netzgeräten, Tastaturen und Bildschirmen durchgezogen. So kamen die Acer-Desktop-PC und Acer-Notebooks bald in den Ruf großer Zuverlässigkeit bei gleichzeitig erstklassigem Preis-Leistungs-Verhältnis, das durch die resche Arbeitswelt Taiwans (Extremleister mit Niedriglöhnen) noch begünstigt war.

Persönlich langweilt mich Stan Shihs Philosophie enorm. Ich gehöre zur Risikogruppe der first hour users. Diese sind Junkies des teuren Neuesten, besorgniserregend süchtig. Ich werde natürlich mein zuverlässiges 13-Zoll-MacBook gegen das neue, papierdünne MacBook Air tauschen, egal, was es mir antun mag. Aus ökonomischer Vogelschau freilich ist Shih genial. Der New Economy Crash rund ums Millennium zeigte es. Die Avantgardisten starben zu Tausenden, wie bei Napoleon. Kaum einer hat die Kraft, eine neue Technik oder neue Software übers erste Jahr zu füttern. So viel ist zu tun. So viel ist zu lehren – im Haus und beim Konsumenten – und so viel zu werben, und Kinderkrankheiten heißen nicht grundlos so. Es ist daher keine Schande für Kleinunternehmer, den Satz „Die Zweiten werden die Ersten sein“ zu studieren.