Zum Greifen nah

Berlinale: Zum Greifen nah

Berlinale. Auftakt mit drei erstaunlichen Arbeiten aus Österreich.

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Die Mama auf Sexurlaub im glühend heißen Mombasa, die durchgedrehte Tante in Wien auf ra­dikal-katholischer Missionierungstour: Während die Erwachsenen den Sommer nutzen, um ihren Neigungen nachzugehen, muss das arme Kind, weil es zu schwer und zu träge ist, die Ferien im ­Diätlager zubringen, in einer tristen Mehrzweck-Betonburg irgendwo in Niederösterreich, in einer von kaum kompetent wirkendem Personal betriebenen Zurichtungsanlage mit Kinderdrill, Work-out-Einheiten und Ernährungsumstellung. Aber die Libido schlägt, wie in der Sextouristinnen-Farce „Paradies: Liebe“ und in der religionskritischen Sublimierungsorgie „Paradies: Glaube“, auch in „Paradies: Hoffnung“ durch – und verpasst jener Trilogie, mit der Ulrich Seidl seit Mai 2012 die Wettbewerbe der drei großen europäischen Filmfestivals (Cannes, Venedig, Berlin) in Folge unsicher gemacht hat, ein stimmiges Finale. Am späten Freitagabend vergangener Woche brachte Seidl den letzten seiner drei „Paradies“-Filme bei der Berlinale zur Uraufführung.

Themenminenfeld Sex
Melanie, 13, verliebt sich darin in den Arzt des Camps (Joseph Lorenz), der nicht nur gute vier Jahrzehnte älter ist als sie, sondern sich auch genuin unseriös verhält. Er lächelt sie, als er begreift, wie sehr sie sich für ihn interessiert, mehrmals zu lange (und zu vieldeutig) an, und seine infantilen Rollenspiele im Untersuchungszimmer tragen auch nicht dazu bei, die Fronten zwischen Teenager und Verantwortungsträger vernünftig zu klären. So wird das Problem kurzerhand ins Mädchenzimmer verschoben, wo man in ausführlichen Dialogen das Themenminenfeld Sex zur Sprache bringt. Seidl-Skeptiker könnten nun befürchten, dass hier ein berüchtigter Regie-Autokrat aus Wien arglose Halbwüchsige mit seinen eigenen Zwangsvorstellungen zu adoleszenter Sexualität oder gar Pädophilie behellige – au contraire: Ulrich Seidl überlässt klugerweise den Mädchen das Feld, sperrt sie nicht in seinen Formalismus ein, nützt lieber ihre ununterdrückbaren Energien. Tatsächlich wird man angesichts vieler Szenen den Eindruck nicht los, Seidls jugendliche Darstellerinnen – und hier vor allem: Protagonistin Melanie Lenz und Partnerin Verena Lehbauer – hätten seinen Film gekapert, um ihn mit Teenie-Jargon und Selbstdarstellungslust zu füllen. Das Übergewicht, das diese Piratinnen auf die Waage bringen, kommt ihnen auch als Kinoheldinnen zu.
Mit ihrem hohen Grad an Stilisierung passten die beiden anderen österreichischen Beiträge zu den 63. Filmfestspielen Berlin nicht schlecht zu den artifiziellen Bildern, mit denen das Festival am Donnerstagabend vergangener Woche seinen Betrieb eröffnete: Wong Kar-wai, selbst ein Regiegroßmeister aus Hongkong, brachte sein Kung-Fu-Spektakel „The Grandmaster“ und sein anmutiges Starduo Zhang Ziyi und Tony Leung in die von sanftem Schneetreiben berieselte Stadt. Der Film selbst, ein aus majestätischer Zeitlupe, viel Abschiedsmelancholie und ultrakünstlichem Kampfsport-Ballett gebautes Historienepos, besetzte dann allerdings das heikle Terrain zwischen weltferner Schönheit und Arthouse-Dekor, blieb im Fegefeuer zwischen Kunst und Kunstgewerbe hängen.

Die drei österreichischen Berlinale-Filme, die Festivaldirektor Dieter Kosslick strategisch in die ersten Spieltage legte, entschieden sich allesamt deutlicher für Ersteres. Die junge Filmemacherin Anja Salomonowitz etwa beweist in ihrem Dokumentarfilm „Die 727 Tage ohne Karamo“ ein der Arbeit Ulrich Seidls durchaus verwandtes Verständnis von der potenziellen Zuspitzung oder Verdichtung realistischer Erzählgrundlagen im Kino. Ihr Film kreist um die fast unüberwindlichen politischen, bürokratischen und emotionalen Hürden, die binationale Paare in Europa überwinden müssen – oft mit der Unterstellung, illegale Scheinehen geschlossen zu haben. Die auftretenden Menschen agieren in exakt farbabgestimmten Kostümen und mit Blick in die Kamera, begleitet von fiktionalisierender Musik: als Selbstdarsteller in einer Serie fragmentarischer Dramen, die von der Regisseurin souverän im Gleichgewicht zwischen Individualgeschichte und Modellhaftigkeit gehalten werden.

Strategisch platziert
Noch konzeptueller geht der Wiener Filmemacher Gustav Deutsch ans Werk. Für seine verblüffende kunsthistorische Fabel „Shirley – Visions of Reality“, wie Salomonowitz’ Film in der prestigereichen „Forum“-Schiene der Berlinale untergebracht, greift der bislang vor allem als Found-Footage-Arbeiter bekannte Deutsch erstmals auf die Malerei zu: Er hat 13 der berühmten Räume, die der amerikanische Maler Edward Hopper entwarf, im Studio nachgebaut – und die mysteriösen Frauensehnsuchtsfiguren Hoppers mit der Tänzerin und Performance-Künstlerin Stephanie Cumming besetzt. Ein Glücksgriff: Die charismatische Darstellerin dominiert den Film trotz des schlafwandlerischen Bewegungsrepertoires, das ihr Deutsch auferlegt. Die fiktive Erzählung, die in „Shirley“ abläuft, passt perfekt zu den surrealen Lichtstimmungen und den wie mit dem Messer ­gezogenen Architekturen und dockt nebenbei noch, im Tigersprung durch die Jahrzehnte, an die US-Geschichte von Roosevelt bis Kennedy an.
So viel Kunstanstrengung scheut der Realist Seidl eher. „Paradies: Hoffnung“ besitzt trotz der präsenten Seidl-Trademarks (symmetrische Bildkonstruktionen, lange Einstellungen, Impro-Schauspiel) eine ätherische Qualität, die man eher dem französischen Kino unterstellen ­würde als der etablierten Höllenmalerei Ulrich Seidls.

Und auch sonst überrascht der Regisseur mit unüblichen Maßnahmen. Zweimal ziehen sich Melanie und ihr Arzt in den Wald zurück, einmal führt sie ihn hin­ein, einmal er sie. In einer Abzweigung ins Fantastische, ins Irreale kulminiert dieser Film: Auf einer Waldlichtung kommt es zwischen dem Mädchen und seinem Angebeteten zu einer verstörenden Szene, die sowohl ins Märchenhafte als auch ins Animalische, Kreatürliche zielt.
Das Paradies bleibt unauffindbar, nur ein utopischer Fluchtpunkt, der Seidls Dreiteiler der erotischen Abwege seiner Heldinnen insgesamt prägt. Nach der Desillusionierung der Liebenden und dem Ende des Glaubens lässt der Filmemacher seine letzte Kategorie immerhin intakt: Die Hoffnung stirbt eben, wie man sagt, zuletzt.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.