Biedermeier 2.0: Kriminelle müssen die Vorratsdatenspeicherung nicht fürchten
Eine Wienerin macht in einem Naturschützer-Forum im Internet ihrer Empörung über Pelztierfarmen Luft. Was die Frau nicht weiß: Im Vorstand des Vereins, der das Forum betreibt, sitzt ein Tierschützer, der wegen Verdachts auf Bildung einer terroristischen Vereinigung angeklagt wurde. Die Polizei verdächtigt nun auch die hitzige Posterin, der Gruppierung anzugehören, und forscht sie über ihre IP-Adresse aus. Nach Monaten schafft sie es, den Verdacht abzuschütteln. Doch bei der Polizei ist sie nun aktenkundig.
Ein Internet-User verwendet zu Hause ein WLAN ohne Passwort. Sein Nachbar benützt es heimlich mit, um sich Kinderpornografie anzuschauen. Ins Visier der Kriminalpolizei gerät nicht der Nachbar, sondern der ahnungslose WLAN-Besitzer. Auch er kann den Irrtum aufklären, doch seine Beziehung geht im Gefolge monatelanger Ermittlungen in die Brüche.
Die Beispiele sind erfunden, könnten aber laut Christof Tschohl, Experte am Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte (BIM), bald Wirklichkeit werden. Vergangenen Donnerstag verabschiedete das Parlament die Vorratsdatenspeicherung. Künftig werden - ohne jeden Anlass - Handydaten, IP-Adressen und E-Mails von Millionen Menschen sechs Monate lang von den Providern gespeichert. Polizei und Justiz sollen darauf zugreifen dürfen, teilweise ohne richterliche Genehmigung und bereits bei Verdacht auf irgendeine Straftat - also nicht nur, wenn es um Schwerkriminalität geht -, in einigen Fällen sogar für präventive Zwecke.
Vergeblich warnten BZÖ, FPÖ und Grüne vor Datenlecks und staatlichen Übergriffen. "Wo die Gesellschaft Schranken zieht, ob es überhaupt welche gibt, war für die Regierung kein Thema, klagt der grüne Justizsprecher Albert Steinhauser. "Das ist so, als würde man die Post beauftragen, bei jedem Brief aufzuschreiben, wann er abgeschickt wurde, wann er befördert wurde und wem er zugestellt wurde, und als würde an jeder Straßenecke jemand stehen und notieren, wann man daran vorbeikommt. So ein Gesetz würde jeder als autoritär bezeichnen. In der elektronischen Kommunikation geht alles durch.
Warum eigentlich? Es leuchtet jedem Staatsbürger ein, dass Kinderschänder im Internet nicht anonym bleiben sollen und Anwälte unter Geldwäscheverdacht sich nicht hinter dem Berufsgeheimnis verschanzen dürfen. Wer keine Spuren hinterlässt, kann nicht für kriminelle Taten zur Rechenschaft gezogen werden. Eine Studie in Deutschland zeigt jedoch, dass das Sicherheitsargument fadenscheinig ist. Zur Aufklärung schwerer Kriminalität taugt die Vorratsdatenspeicherung nämlich nicht. Täter wissen sich mit Wertkartenhandys und Anonymisierungs-Servern vor polizeilicher Verfolgung zu schützen. "Hängen bleiben kleine Fische und unbescholtene Bürger, warnt Hans Zeger vom Verein Arge Daten.
Bei der beschlossenen Vorratsdatenspeicherung gibt es keine Ausnahmen. "Nur bei der Verwertung der Daten sind das Redaktions- oder das Anwaltsgeheimnis zu beachten, erklärt Zeger. Wie schnell diese ausgehebelt werden können, zeigte das Beispiel des ORF-Journalisten Ed Moschitz, der eine Dokumentation über Neonazis drehte. Die FPÖ verdächtigte ihn der Wiederbetätigung. "Schon war er Beschuldigter und konnte sich nicht mehr auf das Redaktionsgeheimnis berufen, sagt Franz C. Bauer, Vorsitzender der Journalistengewerkschaft. Bauer schwant Übles: "Das Redaktionsgeheimnis ist mangelhaft abgesichert. Je lückenloser die Überwachung, umso gefährlicher ist es, wenn es in der Praxis nicht hält. Ist ein Informant einmal preisgegeben, hilft es ihm wenig, dass er sich im Nachhinein dagegen wehren kann. "Er bleibt für immer beschädigt.
Der korrekte Verwaltungsbeamte, der fürchten muss, gemobbt zu werden, wenn er Korruption öffentlich macht, kann einen Brief schreiben oder persönlich in der Redaktion vorbeischauen. Sein Handy sollte er dabei nicht mitnehmen, denn auch Standortdaten und Bewegungsprofile können ihn verraten. Die wahren Probleme beginnen aber, wenn Medien bei Behörden nachfragen und weitere Informanten anrufen, die gar nicht wissen, worum es in der Geschichte geht. Bei einer Auswertung von IP-Adressen, E-Mails, Verbindungs- und Standortdaten geraten sie in Verdacht, Vertrauliches hinausgespielt zu haben. "Das wird dazu führen, dass niemand mehr mit Medien reden will. Ähnliches gilt für die Aidshilfe, Suchtberatungen oder Selbsthilfegruppen, wenn jeder Angst haben muss, dass ihn seine Datenspuren verraten, sagt Zeger.
Für Betriebsspione sind Verbindungs- und Standortdaten ein Fundus. Geraten sie - durch Diebstahl oder Korruption - in ihre Hände, können sie im Vorfeld wichtiger Vertragsabschlüsse auskundschaften, was die Konkurrenz vorhat. Kein Wunder, dass Handybetreiber den Entwurf kritisch betrachten. "Der bestmögliche Schutz der Privatsphäre unserer Kunden ist unser oberstes Gut. Wir hoffen, dass auf europäischer Ebene der bereits begonnene Diskussionsprozess zur Erarbeitung einer neuen Richtlinie mehr Augenmaß bringt, sagt Elisabeth Mattes, Sprecherin der Telekom-Austria-Gruppe. Im Zuge der Verhandlungen zur Umsetzung der Vorratsdatenspeicherung sei seitens des Konzerns stets auf die Notwendigkeit des Datenschutzes und des Schutzes der Privatsphäre von Kunden hingewiesen worden. "Eine restriktive Umsetzung war und ist in unserem Interesse.
Doch auf europäischer Ebene geben ebenfalls Justiz- und Innenminister den Ton an. "Das wird nicht mehr ewig so weitergehen, das halten wir wirtschaftlich gar nicht durch, glaubt Datenschützer Zeger. In Gesellschaften, in denen jeder überwacht wird, sterben Innovation und Kreativität, weil alle versuchen, keine Fehler zu machen und nicht aufzufallen. "Wir befinden uns mitten in einem Experiment, das Biedermeier 2.0 heißt.
In den neunziger Jahren dämmerte Ermittlungsbehörden quer durch Europa, auf welchem Datenschatz die Telekomunternehmen sitzen. Als in einigen Ländern die Vorratsdatenspeicherung Gesetz wurde, traten die Handyanbieter auf den Plan: Es sei aus Wettbewerbssicht nicht fair, wenn sie in Irland die Daten vorhalten mussten, in Schweden aber nicht. Erst nachdem im März 2004 Terroristen Sprengsätze in spanischen Pendlerzügen gezündet hatten, bekam die Debatte einen sicherheitspolitischen Drall. 2006 verabschiedete der Rat der EU-Justizminister die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung. Bedenken der Fachausschüsse des EU-Parlaments wurden von Christdemokraten und Sozialdemokraten vom Tisch gewischt. Karin Gastinger, damals österreichische Ressortchefin, segnete die Vorgabe ab. Ein halbes Jahr wäre Zeit für Einwände gewesen. Das Kabinett Schüssel II hatte keine, so wie übrigens auch das Gros der europäischen Regierungen.
Um die Richtlinie umzusetzen, musste das Telekommunikationsgesetz (TKG) geändert werden. Dafür ist das Infrastrukturministerium zuständig. Werner Faymann, damals Ressortchef, schickte im Sommer 2007 einen Entwurf aus, der weder Handybetreibern noch Nichtregierungsorganisationen, noch Ermittlungsbehörden passte. Faymann betraute das Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte (BIM) damit, die Lage in den anderen EU-Ländern zu sondieren. Sie war reichlich unübersichtlich: Die Dänen etwa hatten die Richtlinie ausufernd umgesetzt, in Deutschland wurde sie bekämpft. Das BIM hielt die Richtlinie für "per se grundrechtswidrig und stellte klar, "dass auch die beste Umsetzung daran nichts ändert, so Tschohl.
Nach den vorzeitigen Neuwahlen wurde Doris Bures als Infrastrukturministerin angelobt. Es lag nun an ihr, die auf Eis liegende Richtlinie umzusetzen. Auch sie wandte sich an das BIM und bat, einen Entwurf auszuarbeiten, der die Grundrechtseingriffe zumindest weitgehend abfedert. Im September 2009 schickte sie diesen in Begutachtung. Die Ressorts Justiz und Inneres, in deren Zuständigkeit es fiel, die Vorratsdatenspeicherung in das Sicherheitspolizeigesetz (SPG) und in die Strafprozessordnung (StPO) hineinzuschreiben, lehnten sich zurück - obwohl der Datenschutzrat mahnte, die Vorratsdatenspeicherung sei erst zu beurteilen, wenn alle Gesetze vorlägen.
Brüssel wurde ungeduldig und initiierte ein Vertragsverletzungsverfahren. Bures stand unter Druck. Wie sollte sie der Bevölkerung in Sparzeiten erklären, dass hohe Bußgelder an Brüssel fließen, weil Österreich es verabsäumt, eine Richtlinie umzusetzen? Die Verhandler aus Justiz- und Innenministerium nützten ihre Zwangslage, um auf Rechtsschutz und Datensicherheit zu pfeifen und lockeren Zugang zu Daten von acht Millionen Österreichern zu verlangen. Vieles davon ging durch - etwa der ungehinderte Zugriff selbst für präventive Zwecke. Die ebenfalls verlangte Öffnung der Datensätze für Zivilverfahren blockte die SPÖ ab.
Als das Innenministerium nicht aufhörte zu behaupten, es könne Kinderpornografie nicht bekämpfen, käme man seinen Wünschen nicht nach, konterte das Ludwig Boltzmann Institut mit einer Presseaussendung. "Das war eine Schutzbehauptung. Die Polizei bekommt bisher schon alle Stammdaten und IP-Adressen bei allen Straftaten. Da ist unsauber gespielt worden, erzählt BIM-Experte Tschohl.
Die Gesetzesänderungen, die Justiz und Inneres durchboxten, gingen nie in öffentliche Begutachtung, sondern wurden im März 2011 im Innenausschuss des Parlaments abgenickt. Der Opposition ging der Entwurf zu weit, auch SPÖ-Mandatare legten sich quer. SPÖ-Klubchef Josef Cap tauchte - flankiert von seinem schwarzen Pendant Karlheinz Kopf - bei der Sitzung auf und blieb so lange, bis die Vorratsdatenspeicherung beschlossen war. "Die Stimmung war ziemlich aufgeladen, berichtet ein Teilnehmer.
"Man schafft es nicht mehr, den Wert von Freiheit zu erklären, stöhnt Zeger, Autor des Buchs "Mensch. Nummer. Datensatz. Unsere Lust an totaler Kontrolle. "Wir leben in einer aggressiven Gesellschaft, wo niemand mehr dem anderen Freiräume lässt. Nicht, dass offenliegt, wann man mit wem telefoniert hat oder wem man ein E-Mail geschickt hat, sei das Problem, sondern dass man auf diese Daten so leicht zugreifen und sie nach Gutdünken interpretieren könne. "Nicht vor den Fakten selbst, sondern davor, welche Schlüsse daraus gezogen werden, muss man sich fürchten.