Sind wir Anders?

Sind wir Anders?

Terror. Wir kennen die Angst vor der Islamisierung. Genau wie der mutmaßliche norwegische Massenmörder Anders Breivik

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Die Opfer von Anders Breivik waren noch nicht begraben, die zerborstenen Fensterscheiben in der Innenstadt von Oslo noch nicht ersetzt, die Spurensicherung auf der zur Todesfalle gewordenen Ferieninsel Utøya noch nicht beendet – da näherten sich die Aufräum­arbeiten an einem anderen Schauplatz der Tragödie bereits ihrem Abschluss: überall dort nämlich, wo sich in den Köpfen das unangenehme Gefühl geistiger Nähe zur Gedankenwelt des Attentäters eingenistet hatte.

Breivik, ein begeisterter Christ? Ein glühender Europäer? Ein aufrechter Konservativer? Einer, der den drohenden Untergang des Abendlandes nicht einfach hinnehmen will? Ein Islamkritiker? Als all das sieht sich der mutmaßliche Massenmörder von Norwegen selbst, und hätte er für seine Ideen nicht 77 Menschen umgebracht, wäre er damit bloß einer von vielen. Man könnte auch sagen, wenngleich das bestimmt niemand hören will: einer von uns.

Einer jener 97 Prozent der Österreicher, die bei einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts IMAS im Jahr 2010 erklärten, dem Wort „Islam“ keinerlei Sympathie entgegenbringen zu können. Einer jener 56 Prozent der Deutschen, die nach Angaben der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ der Ansicht sind, dass der „Krieg der Kulturen“ bereits in vollem Gang ist. Oder einer jener 63 Prozent der Niederländer, die Moslems für nicht fähig halten, sich an die moderne Welt Europas anzupassen.
Natürlich schiebt jeder Breivik so weit von sich weg wie möglich; je näher er dran ist, umso weiter. Der Attentäter von Oslo muss ein „Psychopath“ sein (FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache), ein „Monster in Menschengestalt“ (der Kolumnist und Blogger Henryk M. Broder), ein „fanatisierter Einzelgänger“ (die islamkritische Website SOS Österreich), ein „Irrsinniger“ (die rechtskonservative schweizerische SVP).

Mit höchster Wahrscheinlichkeit ist er das alles auch. Andernfalls hätte er es kaum geschafft, seine Wahnsinnstat über Jahre hinweg penibel vorzubereiten und dann präzise auszuführen – bis hin zur Wahl des rechten ­Zeitpunkts, um sich der Polizei zu ergeben und somit am Leben zu bleiben, um seine Motivation öffentlich zu er­läutern.

Aber wenn er für seinen Wahn erst eine passende Folie suchen musste, dann hat er sie in einer Weltsicht gefunden, die in der Gesellschaft sicher verankert ist; politisch einst von weit rechts gekommen, hat sie inzwischen den Mainstream erreicht.

Ihr Zentrum ist die Vorstellung, dass Europa davorsteht, von einem expansiven Islam erobert zu werden. Wer es noch etwas düsterer haben will, sieht die Muslime zudem noch gezielt nach einem Masterplan vorgehen; wer weniger verschwörungstheoretisch veranlagt ist, macht schlicht Demografie und höhere Fertilität der andersgläubigen Zuwanderer dafür verantwortlich.

Die Grundidee wird nicht nur am Narrensaum der Bevölkerung formuliert, diskutiert und ventiliert, sondern überall: von katholischen Bischöfen wie Egon Kapellari über den ehemaligen deutschen Bundesbanker Thilo Sarrazin bis hin zur Frauenrechtlerin Alice Schwarzer.
Von rechtskonservativen Politikern wie Heinz-Christian Strache sowieso. Und auf zahllosen Websites im Internet, deren Foren vor einschlägigen Beiträgen geradezu übergehen, ebenfalls.

Die Angst vor dem Islam oder wenigstens ein Unwohlsein angesichts des wachsenden muslimischen Bevölkerungsanteils hat weite Teile der Gesellschaft erfasst. Viele sind zur Auffassung gelangt, man müsse etwas tun; eine Gefahr abwenden; sich zur Wehr setzen. Anders ­Breivik war jemand, der daraus tödliche Konsequenzen gezogen hat.

Er entwarf einen teuflischen Plan, an den nicht einmal die schlimmsten islamophoben Hetzer je gedacht hätten. Doch seine Analyse des Problems hätten wohl viele – wenn auch unausgesprochen – geteilt. Ebenso wie seinen Wunsch, ein christlich-monokulturelles Europa zu bewahren.
Wie viel von Anders Breivik steckt in uns? Und: Wenn es schon unzulässig ist, direkte Schuldzuweisungen an seinen Ideengebern vorzunehmen – wäre die Tragödie von Oslo nicht wenigstens ein Anlass, das Weltbild zu überprüfen, aus dem sie entstanden ist?

Die Beschäftigung der breiten Öffentlichkeit mit dem Islam begann mit dem 11. September 2001. Davor galt die Weltreligion als Dritte-Welt-Phänomen und nahostpolitisches Ärgernis, das mit dem Alltag von Amerikanern und Europäern nichts zu tun hatte.

Anders Breivik war 22 Jahre alt, als die beiden Flugzeuge ins World Trade Center rasten, und wenn man seinem Lebenslauf glauben kann, hatte er gerade ein Unternehmen, das Plakatwände vermietete, verkauft. Es folgten ­wenig glamouröse Jobs in einem Callcenter und „ein Jahr Auszeit, als ich 25 war und hardcore ‚World of Warcraft‘ spielte“. Der junge, gar nicht ungesellige Mann gab sich nach außen noch „politisch korrekt“. Doch in ihm keimte der Gedanke, die gesellschaftlich erwünschten Meinungen, vor allem in Bezug auf den Islam, seien falsch. Er sei ­„geschockt“ gewesen, als er bei der Beschäftigung mit ­islamischer Geschichte entdeckt habe, wie gewalttätig die Religion des Propheten Mohammed sei, schreibt Breivik.
In den USA und in Europa verlief die Auseinandersetzung mit dem Islam nach 9/11 ebenfalls zwiespältig: Einerseits bekräftigten maßgebliche Politiker, dass Muslime selbstverständlich nicht unter Generalverdacht gestellt werden dürften und lediglich islamistische Extremisten eine Bedrohung seien.

Gleichzeitig wurden den Muslimen jedoch immer neue, durchwegs negative Rollen zugewiesen: Man stellte sie etwa als „Schläfer“ dar, deren unauffälliger Lebenswandel bloße Tarnung sei, um irgendwann grauenvolle Attentate verüben zu können; als religiöse Eiferer, die unsere Demokratie bei der erstbesten Gelegenheit ihrem Gott opfern
wollen; als Schmarotzer, die ein Kind nach dem anderen in die Welt setzen, um so einen übermäßig hohen Anteil an Sozialleistungen zusammenzuraffen; als gefährliche ­Reaktionäre, die nur darauf warten, die Freiheit von Kunst und Meinung, die Rechte der Schwulen und andere Errungenschaften des westlichen Liberalismus wieder abzuschaffen; als reaktionäre Patriarchen, die ihre Frauen und Töchter mittelalterlich an Heim und Herd fesseln und sie zwingen, sich mit Kopftuch, Schleier, Niqab und Hijab oder gar Burka zu verhüllen; als Demokratiefeinde, die im Schlagschatten des Rechtsstaats längst damit begonnen haben, die islamische Scharia in Europa einzuführen; als trotzige Bildungsverweigerer, die erst den durchschnittlichen Intelligenzquotienten, dann die PISA-Werte und schließlich die gesamte Gelehrtenkultur des Kontinents in den Abgrund reißen.

Die drohende Islamisierung Europas wird von vielen längst als Realität angesehen, und das bei einem Anteil von zum Beispiel weniger als vier Prozent innerhalb der Europäischen Union. „Deutschland schafft sich ab“, lautet das Resümee des sozialdemokratischen Bestsellerautors Thilo Sarrazin angesichts der demografischen Entwicklung – und seiner apokalyptischen Hochrechnung.

Breivik sieht eine „demografische Kriegsführung“ im Gang, die von den Muslimen bereits am Balkan praktiziert worden sei und darauf hinauslaufe, alles genuin Europäische zu eliminieren. Er fantasiert in seinem 1500 Seiten umfassenden Manifest davon, dass sich muslimische Horden zusammenrotten, um den Kontinent zu unterjochen. In absehbarer Zukunft würden sie das Kreuz aus der norwegischen Flagge verbannen wollen, prophezeit er – und will sogar ein Datum kennen: das Jahr 2030.
Aber all das, beklagt Breivik, dürfe man nicht öffentlich sagen, ohne die öffentliche Ächtung zu riskieren. „Man kann sagen, dass die politische Korrektheit zur generellen Linie des Establishments in Westeuropa geworden ist“, schreibt er in seinem Manifest. „Rede-, Presse- und sogar Gedankenfreiheit sind samt und sonders eliminiert.“

Auch damit ist er nicht der Einzige. Der österreichische Kolumnist und Blogger Andreas Unterberger, ehemaliger Chefredakteur der „Presse“ und der „Wiener Zeitung“, fühlt sich ebenso von der „Knechtschaft der politischen Korrektheit“ unterdrückt wie Thilo Sarrazin: Wer unangenehme Wahrheiten in Bezug auf die „enorme Fruchtbarkeit der muslimischen Migranten“ ausspreche, „sieht sich Anfeindungen ausgesetzt, unter denen der Vorwurf der ,Islamophobie‘ noch der geringste ist“, schreibt Sarrazin in seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“. Dass er diesem von Gutmenschen verhängten Maulkorb-Erlass zum Trotz ­deutlich mehr als eine Million Bücher verkauft hat, fällt für seine Anhänger nicht ins Gewicht. Sie gefallen sich immer noch in der Vorstellung, die Speerspitze einer Minderheit zu sein, die es gegen alle Anfeindungen wagt, sich der Mehrheitsmeinung zu widersetzen.

Weit verbreitet ist inzwischen auch der Topos, Muslime würden mehr als alle anderen Migrantengruppen permanent die Berücksichtigung ihrer eigenen, für Europa ­wesensfremden, religiösen und kulturellen Bedürfnisse verlangen – und mit dieser Forderung bei einer willfährigen Politik und einer ebensolchen Öffentlichkeit auch noch durchkommen. Der deutsche Publizist Henryk M. Broder verhöhnt in seinem Buch „Hurra, wir kapitulieren! Von der Lust am Einknicken“ den seiner Meinung nach viel zu nachsichtigen Umgang mit muslimischen Einwanderern und verwendet dabei unter anderem den Begriff der „Inländerfeindlichkeit“. Ähnlich argumentiert Breivik, wenn er schreibt, dass „Menschenrechte“ heute dazu verwendet würden, „eine ganze Zivilisation auszulöschen, im Namen von Toleranz und Vielfalt“, und dass es „den Inländern ausdrücklich untersagt ist, dagegen zu protestieren“.

Wie verrückt also ist Breivik? ­Daran gemessen, wie groß der Anteil der Bevölkerung ist, der seiner politischen Analyse zustimmen würde (wenn man verheimlicht, dass der norwegische Terrorist der Verfasser ist), erscheint er plötzlich ganz normal.

Schließlich ist die Paranoia des Einzeltäters längst kollektiv salonfähig gemacht worden. Vier Minarette gibt es in der Schweiz, 367 Burkas vermutete der französische Inlandsgeheimdienst im ganzen Land. Das reichte, um erst die Schweizer und Franzosen und in weiterer Folge die gesamte europäische Öffentlichkeit geradezu panisch Überlegungen anstellen zu lassen, wie man diesen Gefahren begegnen sollte. Man entschied sich jeweils für Verbote.

Breivik ist nicht minder alarmiert, dass in manchen Spitälern für Muslime Mahlzeiten auf islamisch korrekte Art, also „halal“, zubereitet werden. Solche Alarmsignale der unaufhaltsamen Islamisierung der westlichen Welt rauben auch Elisabeth Sabaditsch-Wolff, einer österreichischen Bloggerin, die sich hauptberuflich vor dem Islam fürchtet, Schlaf und Ruhe.
Dass es eine kleine hysterische Szene gibt, in der sich eine verschworene Gemeinde in Panik suhlt, wäre kein Problem. Das Internet ist geduldig. Und Fälle wie Breivik sind keine logische Konsequenz dieses Unsinns, so weit kann man die Verteidigungslinie der Islamophoben unterschreiben.
Aber wie konnte es dazu kommen, dass ganze europäi­sche Gesellschaften dem Anti-Islam-Wahnsinn verfallen sind und es jetzt nur mit Mühe schaffen, sich von einem geistig abnormen Massenmörder abzugrenzen? Geert Wilders, der niederländische Islamhasser, hat mit Breivik schrecklich viel gemein – außer natürlich, dass Wilders ein unbescholtener Bürger ist und nicht zu Gewalt neigt. Er will bloß den Koran verbieten und sieht überall in Europa Scharia-Gerichte aus dem Boden schießen.

Doch wie konnte seine „Partei für die Freiheit“ innerhalb weniger Jahre zur drittgrößten Kraft im Land werden? Wieso diktieren Leute wie Wilders in den Nieder­landen, Marine Le Pen in Frankreich und Heinz-Christian Strache den konservativen und sozialdemokratischen Regierungsparteien die Ausländerpolitik?

Eine Erklärung dafür könnte so lauten: Die im Niedergang begriffenen Großparteien gehen vorsichtshalber davon aus, dass auch ihre Wählerschaft beim Thema Islam und Zuwanderung von den grassierenden Ängsten befallen ist – und wenden eine Doppelstrategie an: Sie weisen xenophobe Tendenzen verbal entschieden zurück, kommen ihnen aber bei der Gesetzgebung oftmals entgegen.

Breiviks wahnwitzige Angst hat viele von uns befallen. Sicher, wir schotten uns nicht von unseren Freunden ab, planen keinen europäischen Bürgerkrieg in drei Stufen und produzieren nicht in rauen Mengen Sprengstoff aus Kunstdünger. Aber im politischen Handeln des vergangenen Jahrzehnts steckt so viel Anders Breivik, dass man sich längst fragen musste, wo er bleibt.

Jetzt ist er da, und während Henryk M. Broder unsere Kapitulation beklagt, hat Breivik für uns zu den Waffen gegriffen.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur