In die Tiefe: Ulrich Seidl irritiert in Cannes
Die Wellen schlugen schon im Vorfeld hoch, bereits vor Wochen, als man das diesjährige Festivalprogramm gerade erst bekannt gegeben hatte - aber erst kurz vor der Eröffnung selbst kam es dann tatsächlich zum Eklat. Denn eines steht längst fest: Die Goldene Palme der 65. Filmfestspiele in Cannes wird am 27. Mai an einen Mann vergeben werden. Kein einziger der 22 Beiträge im diesjährigen Wettbewerb wurde von einer Frau inszeniert. Ein in der Tageszeitung "Le Monde vor wenigen Tagen veröffentlichter Brief der Regisseurinnen Coline Serreau und Virginie Despentes sowie der Schauspielerin Fanny Cottençon beklagte daher in polemischen Worten die vollständige Abwesenheit weiblicher Regiekräfte: Frauen zeigten in Cannes "ihre lustigen Gesichter, stand da zu lesen, Männer dagegen ihre Filme. Dies bezog sich auch auf das aktuelle Plakatsujet des Festivals, das Marilyn Monroe beim Ausblasen einer Tortenkerze zeigt.
Männer wüssten bei Frauen Tiefe durchaus zu schätzen, gifteten die Autorinnen weiter, "allerdings nur die Tiefe ihres Dekolletés. Zur Abfassung eines solchen Briefs bedarf es, wenn man selbst Autorenfilme inszeniert, übrigens einiger Courage. Denn sich mit der Leitung des bedeutendsten Filmfestivals der Welt anzulegen kann bedeuten, sich den Zugang in den Olymp des Kinos, der in Cannes alljährlich unbescheiden ausgerufen wird, künftig deutlich zu erschweren. Und Cannes-Chef Thierry Frémaux, der natürlich alle Vorwürfe brüsk zurückwies - er würde "niemals einen Film zeigen, nur weil ihn eine Frau gemacht hat -, legte sich die Qualitätslatte damit denkbar hoch: Er muss sich ab sofort mit jedem seiner Wettbewerbsfilme auch an den Hervorbringungen jener zum Teil hochprofilierten Regisseurinnen messen lassen, die hier nur in den Nebenreihen antreten.
Zwei der frühen Wettbewerbseinträge waren jedenfalls nicht dazu angetan, die großspurigen Worte des Direktors zu bestätigen. Der Ägypter Yousry Nasrallah und der Franzose Jacques Audiard legten mit "Baad el Mawkeaa (einem politisch-privaten Drama zu den Ereignissen am Kairoer Tahrir-Platz) und "De rouille et dos (einem hysterisch orchestrierten Außenseiter-Liebesmelodram) ambivalente Arbeiten vor, die trotz hervorragender Darsteller ausgesprochen demonstrativ erschienen: Die Absicht, dieses Festival gleich eingangs mit politischer Aktualität und emotionaler Intensität zu versorgen, war mit Händen zu greifen.
Ulrich Seidl irritiert in Cannes
Die erhitzten Debatten um die Frage, warum es heuer keiner einzigen Filmemacherin vergönnt sein sollte, in den Kampf um die Palme dOr einzugreifen, konnte auch Ulrich Seidl, der erste der beiden österreichischen Aspiranten auf die Goldpalme, nur bestätigen: Mit männlichem Regieblick lotete er Aspekte weiblicher Sexualität aus, in dieser ersten von drei Frauengeschichten, um die sich seine "Paradies-Trilogie drehen wird. Am Freitagnachmittag, fast auf den Tag genau fünf Jahre nach Seidls erstem Cannes-Auftritt mit "Import Export, fand im Palais du Festival die Weltpremiere von "Paradies: Liebe statt. Und sie sorgte, ganz im Sinne des Regisseurs, zuverlässig für Irritation.
Denn darauf legt es Ulrich Seidl an: In der gewohnten Mischung aus improvisierten Szenen und festgelegten Choreografien, aus fiktiven Tragikomödien in quasi-dokumentarischen Settings geht er in diesem neuen Film den Erlebnissen einer 50-jährigen Behindertenbetreuerin aus Wien nach, die sich ihren Urlaub in Kenia mit einer Reihe erotischer Begegnungen zu versüßen plant. Das hermetisch abgeriegelte Kitsch- und Luxus-Resort, in dem sie ihr Zimmer gebucht hat, verlässt sie nur, um Kontakt zu den zahlreich sich anbietenden jungen Einheimischen (den so genannten "Beach Boys) aufzunehmen. Als "Sugar Mama, wie weiße Sextouristinnen in Kenia genannt werden, dringt sie mit ihnen in eine andere Welt vor - in schäbige Motelzimmer und schmucklose Bars in den weniger lauschigen Bezirken von Mombasa.
"Paradies: Liebe" zeichnet einen Prozess der Desillusionierung auf. Naiv stürzt sich die Heldin in ihre sexuellen Abenteuer, versetzt sich in den Zustand der Verliebtheit und findet ihre Rolle schließlich in einer Art Liebespädagogik: Sie leitet ihre Lover zur Zärtlichkeit an, bringt ihnen jene Handgriffe bei, die "white ladies eben zu schätzen wüssten. Den streng ökonomischen Hintergrund, vor dem all diese Einlassungen stattfinden, blendet sie zunächst aus; aber bald muss sie sich der Verzahnung von Sex und Geschäft stellen. Sie beginnt damit, die verarmte Familie ihres Liebhabers zu finanzieren.
In Seidls neuem Film gibt es weder Täter noch Opfer, keine guten Taten und keine reinen Gemeinheiten. Der erste Teil dieses "Paradies-Triptychons skizziert die Komplikationen einer nur scheinbar simplen Situation in tausend Grautönen, vermeidet die solchen Sujets angestammte Schwarz-Weiß-Malerei ebenso wie moralische Zuweisungen. Die Ausbeutung, von der Seidl erzählt, ist gegenseitig; hier wird mit offenen Karten gespielt, man bleibt einander nichts schuldig. Er zeige die Welt, wie sie sich ihm darstelle, sagt Seidl gern, aber das klingt einfacher, als er denkt und filmt. Pessimismus sei für ihn keine Kategorie; es gehe um nichts als die Wahrheit. Tatsächlich kreist sein Film auch um Beklemmendes, um den ganz alltäglichen Rassismus etwa, der an solchen Urlaubsorten herrscht, und um den postmodernen Kolonialismus, den die kapitalistische Welt im eigenen Interesse so gern in Kauf nimmt; und selbstverständlich erzählt das Werk auch von der Depression, in die seine Heldin immer wieder abtaucht. Aber viele Szenen zeugen hier eher von Seidls Talent zu komödiantischer Zuspitzung und vitaler Porträtkunst. So ist "Paradies: Liebe auch zum Triumph für die Wiener Schauspielerin Margarethe Tiesel geworden: Eine zweite derart furchtlose und differenzierte Performance wird im Rahmen dieses Festivals nicht leicht zu finden sein.
Unter Kollegen war man in Cannes übrigens solidarisch: Michael Haneke, dessen jüngster Film, "Amour, erst für Sonntag auf dem Programm stand, nahm einen früheren Flug, um Ulrich Seidls Weltpremiere im Festivalpalast beiwohnen zu können. In markantem Gegensatz zu Österreichs Kulturpolitik: Ministerin Claudia Schmied fand ebenso wenig wie Wiens Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny die Zeit, um in Cannes einen neuen Höhepunkt der internationalen Wertschätzung für das österreichische Kino zu erleben. Vielleicht hat das Monroe-Bild, das über Cannes 2012 schwebt, für Österreich ja eine besondere Bedeutung: Irgendwann geht das Licht dann trotzdem aus.