Porträt eines Anstößigen

Cannes 2012: Ulrich Seidl im Porträt

Cannes. Der Künstler Ulrich Seidl

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Anpassungsfähigkeit gehört nicht zu Ulrich Seidls augenfälligen Stärken. Von billigem Konsens hält er nichts. Für seine Inszenierungen will er nicht geliebt werden, und die Geschichten, die er erzählt, wirken bisweilen derart deprimierend, dass man (schon aus Selbstschutz) erstens ihre beunruhigende Wirklichkeitsnähe und zweitens den untergründigen Witz aus den Augen verlieren könnte, der seine Filme prägt.

Seidls Forschungsarbeiten dringen in die Randzonen des Sozialen vor, setzen sich wie besessen mit den Verdrängten und Verachteten auseinander – und mit gerade jenen Alltagsdingen, deren Existenz man zwar ahnt, deren Einzelheiten man aber lieber so genau nicht kennen will. So legt Seidl in seinen Produktionen unablässig den Finger in die Wunde, berichtet ungerührt von sexueller Ausbeutung, religiösem Wahn und den verzweifelten Manövern von Menschen im Zustand des Verlusts der letzten Hoffnung.

Es versteht sich von selbst, dass ihm diese Neigung zur Grenzüberschreitung nicht nur Freunde beschert hat. Der Vorwurf, er arbeite spekulativ, mache sich lustig über seine Figuren und Sujets, verfolgt ihn seit den frühen 1980er-Jahren schon, seit seinen allerersten Filmen. Diese Sicht der Dinge beruht allerdings auf einem Missverständnis: Seidl hegt eine genuine Sympathie für Außenseiter, fühlt sich ihnen viel eher verbunden als der Kulturbourgeoisie, in der er sich auch bewegt. Der Rest von Hohn, der sich in Seidls Filmen findet, geht keineswegs zulasten seiner Protagonisten, sondern richtet sich letztlich gegen den Betrachter selbst: gegen das weit verbreitete Unvermögen, sich dem Realen auch dort zu stellen, wo es kaum fassbar erscheint. Und man darf nicht glauben, dass diesem Regisseur das öffentliche Aufsehen, das er zuverlässig erregt, allein schon genüge. Er kann gut damit leben, wenn sich ein Teil seiner Zuschauerschaft von den Dingen provoziert fühlt, die er zeigt; aber er arbeitet nicht jahrelang mit großer Akribie an jedem seiner Filme, nur um ein bisschen zu schockieren. Seidl, der seit einem Jahrzehnt auch als sein eigener Produzent fungiert, setzt sich mit jedem seiner Werke buchstäblich selbst aufs Spiel.

In den kommenden Wochen wird Seidls sehr spezieller Blick auf die Welt wieder im Zentrum mutmaßlich heftiger Debatten stehen. Denn er legt dieser Tage an den Münchner Kammerspielen nicht nur letzte Hand an seine zweite Theaterproduktion, die im Rahmen der Wiener Festwochen am 5. Juni uraufgeführt werden soll (siehe umseitige Reportage); bereits am Freitagnachmittag dieser Woche wird Seidl zudem im Rahmen der 65. Filmfestspiele in Cannes den ersten Teil einer Kino-Trilogie, der er den (natürlich trügerischen) Titel „Paradies“ gegeben hat, aus der Taufe heben.

Die neuerliche Einladung in den erlauchten Kreis der Sélection officielle im Wettbewerb des Festivals an der Croisette, wo er bereits 2007 mit „Import Export“ für nicht geringe Irritation sorgte, zeigt jedenfalls an, dass Ulrich Seidl – wie sein Kollege Michael Haneke, dessen neues Drama „Amour“ ebenfalls in Cannes laufen wird – nach drei Jahrzehnten Kinoarbeit endgültig im Pantheon des internationalen Autorenfilms angekommen ist.

Der Stoff des neuen Seidl-Epos, das nun „Paradies: Liebe“ heißt, deutet schon an, dass es auch diesmal nicht ohne drastische Bilder gehen wird: Dieser Einstieg in das Seidl-Triptychon wird sich um eine Gruppe österreichischer Sextouristinnen drehen, die sich in Kenia von ihrem Luxus-Strandresort aus junge Liebhaber suchen – und am Spagat zwischen Liebesillusion und den handfesten ökonomischen Zwängen der Beach-Boys zu scheitern drohen. Um Frauengeschichten drehen sich alle drei Teile des Seidl’schen „Paradies“-Komplexes, um drei sehr verschiedene, aber familiär verbundene Frauen: Als Heldinnen fungieren neben der von Margarethe Tiesel gespielten Afrika-Touristin deren Tochter, ein übergewichtiger Teenager im Diät-Camp, sowie die Schwester der Reisenden, eine katholische Fanatikerin (Maria Hofstätter), die an ihrer Ehe mit einem muslimischen Mann (Nabil Saleh) leidet.

Ideologischen Zündstoff birgt die Trilogie definitiv: Es geht um Kolonialismus und Rassismus, um Jugendgefährdung und Pädophilie, um eine religiös-sexuelle Konfrontation, in der man auch einen Kampf der Kulturen in nuce sehen mag. Seidl selbst nennt seine drei Storys „Sehnsuchtsgeschichten“, und er betont mit nur leise ironischem Unterton, dass er eigentlich eine Art „Frauenfilmer“ sei.

Die Offenheit zur Welt hin ist ein Ziel der Methode Seidls, dessen Filme ohne Drehbuch entstehen. In der Schauspielerarbeit fordert er viel, denkt stets auch die Privatbefindlichkeiten seiner Mimen mit, um den Naturalismus, die „Authentizität“ der Ergebnisse zu erhöhen. In Seidls Ensembles arbeiten Laien- und Profidarsteller ganz selbstverständlich miteinander. Es ist sogar immens schwierig, die eine Gruppe von der anderen zu unterscheiden.

Im kommenden November wird Seidl 60. Davor wird er drei neue Kinofilme, ein Bühnenstück und eine dokumentarische Arbeit („Im Keller“) fertiggestellt haben. Seine Kar­riere wird dieser Tage neu konfiguriert. Er verweigert dabei jede Verlangsamung. Die Zumutungen des Alters haben Ulrich Seidl noch nicht erreicht.

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Foto: Daniel Gebhart de Koekkoek

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.