Claude Lanzmann: Nicht auf Zehenspitzen
Claude Lanzmanns filmisches Oeuvre ist an Titeln schmal. An Substanz ist es derart reich, dass sein Schöpfer längst als Titan des dokumentarischen Kinos gilt. Dabei hat er nicht mehr als acht Filmarbeiten veröffentlicht, und nur fünf davon können als Hauptwerke angesehen werden. Die fünfte und jüngste, seine fast vierstündige Benjamin Murmelstein-Studie, die er Der Letzte der Ungerechten genannt hat, wird in wenigen Tagen beim Filmfestival in Cannes ihre Uraufführung erleben.
Shoah
Lanzmann, geboren in Paris 1925, begann spät mit dem Kino, war in der Résistance, studierte Philosophie, arbeitete als Lektor, Journalist, Herausgeber. Seit Anfang der 1970er-Jahre dreht er auch Filme. Die Vernichtungsgeschichte des Holocaust definiert Lanzmanns Schaffen. In Shoah, seinem 1985 uraufgeführten, neuneinhalbstündigen Meisterwerk, protokollierte er über Interviews und Landschaftsaufnahmen, was genau in Treblinka, Auschwitz, Chelmno und Belzec geschehen war. Die Gegenwärtigkeit der NS-Jahrhundertverbrechen ist dabei zentral: Wenn Lanzmann historisches Material verwendet, so stammt es in aller Regel aus seinem eigenen Archiv; den tausendfach wiederholten KZ-Leichenbildern misstraut er (fast so sehr wie Hollywoods Shoah-Business), weil sie unsere Erinnerung deformieren, verengen auf die paar immergleichen Motive.
Lanzmanns Interviewtechnik erscheint spröde, bisweilen auch hart. Er stelle seine Fragen sehr präzise, meinte Lanzmann im profil-Gespräch, als er 2007 auf Einladung des Österreichischen Filmmuseums Teile des unbearbeiteten Rohmaterial des mehrtägigen Murmelstein-Interviews zeigte und ich gehe nicht auf den Zehenspitzen weg, wenn jemand in Tränen ausbricht. Es gehe ihm nicht um Erinnerung, vielmehr um das immemorial, das nicht Erinnerbare. Er blicke in seinen Filmen nicht zurück, sagt Lanzmann kühl. Sein monumentales Werk gibt ihm Recht.