ÖGB und das Schnee- wittchen-Syndrom

Das Schneewittchen-Syndrom: Die Gewerkschaft ist plötzlich wieder gefragt

Die Gewerkschaft ist plötzlich wieder gefragt

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Ja, die Gewerkschaft steuere möglicherweise mit den Kalamitäten bei Post und Telekom auf die ersten Massenstreiks seit Jahrzehnten zu, aber: „Jetzt haben wir immerhin einen Streikfonds. Vor zwei Jahren war der leer und bestand nur aus wertlosen Bawag-Aktien.“ Jetzt sei er wieder mit einem „dreistelligen Millionenbetrag gefüllt“.

Sollten die 27.141 Postler wirklich streiken, würde dies pro Tag rund zwei Millionen Euro kosten. Das könnte die Streikkasse des ÖGB geraume Zeit verkraften – auch wenn alle betonen, dass sie auf konziliante Lösungen hoffen und Streik nur das allerletzte Mittel sei. Der Verkauf der Bawag erfolgte zur rechten Zeit. Ein Preis von 3,2 Milliarden Euro wäre heute nicht mehr erzielbar. Finanziell ist die Gewerkschaft saniert, 2007 wurde mit einem Überschuss von rund 100 Millionen Euro bilanziert, die Kontrollkommission wird seit dem Bawag-Debakel von einem Christgewerkschafter geleitet. In den vergangenen zehn Jahren hat der ÖGB zwar 250.000 Mitglieder verloren, allein aus den Beiträgen seiner jetzt 1,2 Millionen Mitglieder dürfte er 2007 aber rund 190 Millionen Euro lukriert haben. Doch das ideologische Kapital wurde nicht aufgestockt. Die versprochene Reform wird wie durch einen Bummelstreik immer wieder verzögert, bereits anberaumte Klausuren kamen nicht zustande. Immer schob sich Dringlicheres dazwischen: Im Frühjahr war es der Wunsch der Regierung nach Sozialpartner-Konzepten zur Gesundheitsreform, im Sommer die Neuwahl, derzeit die Regierungsbildung. In den vergangenen Wochen war die ÖGB-Spitze ohnehin mit ganz anderen Umgruppierungen beschäftigt: In kleinen Männerklüngeln wurden der neue Sozialminister und der neue ÖGB-Präsident ausgemacht.

Die uralten und für Nicht-Gewerkschaftsfunktionäre unverständlichen Rivalitäten zwischen Angestellten- und Arbeitergewerkschaft flammten dabei neu auf und verhinderten Wolfgang Katzian, den Vorsitzenden der Gewerkschaft der Privatangestellten (GPA), als Sozialminister. Nun will Hundstorfer selbst seine Trüm­mer­arbeit in der Gewerkschaft und seine diskrete Mithilfe bei der Demontage von ­Alfred Gusenbauer mit einem Ministeramt belohnt wissen. Als seinen Nachfolger designierte er inoffiziell Metallergewerkschafter Erich Foglar, der ihm in der ­Bawag-Krise als Finanzchef zur Seite gestanden war. Beigezogen war in diese Beratungen nur der Chef der Fraktion sozialdemokratischer Gewerkschafter, Wilhelm Haberzettl. Vielen stößt dieses Ge­mauschel im kleinen Kreis bitter auf: „Offenbar geht es uns noch nicht schlecht genug, um die Verhaltensweisen zu ändern“, sagt der Chef einer der Teilgewerkschaften.

Nur wenige Spitzenfunktionäre der Arbeitnehmervertretung wagen sich mit Kritik aus der Deckung. Rudolf Kaske, Vorsitzender der 158.000 Mitglieder starken Gewerkschaft vida, spricht aus, was viele denken: „Ein transparenter Auswahlprozess stünde dem ÖGB neu gut an.“ Für die Zukunft schwebt Kaske überhaupt die Direktwahl des Präsidenten durch die Mitglieder vor. Bei der anstehenden Kür will er zumindest eine breitere Diskussion im ÖGB-Vorstand: „Wir haben gute Kandidaten, etwa Foglar oder Katzian. Aber es wäre auch gut zu schauen, ob wir nicht eine gute Frau finden könnten.“

„Kein Lohnverzicht“. Manche würden gerne Dwora Stein, die Geschäftsführerin der GPA, in der Spitzenfunktion sehen. Sie wirkt wie der personifizierte Gegensatz zu traditionellen Gewerkschaftsfunktionären: elegant, Frau, Akademikerin. Ihr Teint hat ihr den Spitznamen „Schneewittchen“ eingetragen, ihr von der Männernorm abweichendes Auftreten eine erkleckliche Zahl an internen Gegnern. Diese Woche hätte Stein intern ihre Reformideen für die künftige Auswahl von Führungskräften präsentieren sollen. Auch diese Reformklausur wurde vertagt. Stein hofft aber, dass ihre Überlegungen irgendwann gehört werden: „Es soll eine echte Debatte über Qualifikation und Fähigkeiten und auch Hearings und Mehrfachkandidaturen geben. So ein Kulturbruch würde uns guttun.“ Derlei ist von Erich Foglar nicht zu erwarten. Der 53-Jährige hat sich als verlässlicher Rechner mit Fleiß und Überblick in der Bawag-Krise bewährt. Innovative Ideen und feurige Reden sind ihm fremd. Interne Kritiker werfen ihm vor, zu wenig Durchsetzungskraft in seiner Metallergewerkschaft zu zeigen: Denn die Sozialpartner hatten die Gesundheitsreform verhandelt, der ÖGB dazu Ja gesagt – und danach wurde das Konzept vor allem von Funktionären der Metallergewerkschaft kritisiert.

Die Gesundheitsreform ist derzeit jedoch nicht das dominante politische Thema. Die Gewerkschaften sind mit der Abfederung der Wirtschafts- und Finanzkrise beschäftigt. Foglar gibt sich wild entschlossen, in den laufenden Kollektivvertragsverhandlungen den Forderungen der Wirtschaft nach mäßigen Lohnabschlüssen nicht nachzugeben: „Lohnzurückhaltung hat noch nie Kündigungen verhindert. Wir halten von Lohnverzicht gar nichts.“ Rund 30.000 Menschen sind beim Arbeitsmarktservice derzeit bereits zur Kündigung angemeldet. Das Wirtschaftsforschungsinstitut rechnet für das Jahr 2009 mit bis zu 34.000 Arbeitslosen mehr. Foglar mahnt von der kommenden Regierung neben der Steuerreform mehr Mittel für das Arbeitsmarktservice und ein starkes Konjunkturprogramm ein: „Bisher wurde vor allem für die Banken etwas getan. Das ist zu wenig.

Investitionen, die ohnehin in der Lade liegen, müssen rasch umgesetzt werden. Das Budgetdefizit hat derzeit nur zweite Priorität.“ Der Politologe Ferdinand Karlhofer, der viel über Gewerkschaften geforscht hat, konstatiert: „Der ÖGB ist gegenüber der Wirtschaftsseite ein geschwächter Partner, aber er ist nicht aus dem Spiel. Seit 2006 ist doch einiges an zerbrochenem Porzellan gekittet worden.“ Er sieht eine Renaissance der Sozialpartnerschaft, die Finanzkrise werde den Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretungen wieder eine bedeutendere Rolle zuweisen: „Da ist der ÖGB nicht so schlecht aufgestellt.“

Kantiger. Der Organisationsgrad des ÖGB ist im internationalen Vergleich nach wie vor ansehnlich. In Großbritannien etwa halbierte sich die Zahl der gewerkschaftlich Organisierten seit den achtziger Jahren auf mittlerweile 6,5 Millionen. Die deutschen Gewerkschaften verloren seit 2000 mehr als 1,3 Millionen Mitglieder, ihnen gehörten 2007 noch 6,4 Millionen Menschen an. Da ist der ÖGB im zehnmal kleineren Österreich mit seinen 1,2 Mil­lionen Mitgliedern nach wie vor vergleichsweise eine Größe.
Aber in der derzeitigen ÖGB-Struktur braucht Neues Zeit. Monika Kemperle, die in der ÖGB-Zentrale die Reform koordiniert: „Auf dem Papier sind Reformmaßnahmen schnell getätigt. Aber wir müssen die Menschen mitnehmen, das dauert halt.“ Von Hundstorfer und Foglar abwärts versprechen alle Gewerkschaftsgrößen mehr Demokratie, Transparenz und Mitgliederbeteiligung. Markus Kosza, der Vertreter der Unabhängigen Gewerkschafter im Bundesvorstand: „Die wirkliche Erneuerung ist absolut ins Stocken geraten.“

Manche Reformideen wurden überhaupt verworfen. Die GPA etwa wollte ein Ende der rivalisierenden Teilgewerkschaften zugunsten eines starken ÖGB. Dieses radikale Konzept bekam im Krisenjahr 2006 keine Mehrheit, und noch jetzt ist Hundstorfer überzeugt: „Die Auflösung der Teilgewerkschaften ist nicht der Weg, um den Verein weiterzubringen. Wir sehen ja am Beispiel der deutschen ver.di, wie schwierig das Zusammenwachsen ist.“ Zumindest der Reformpunkt „Glaubwürdigkeit wiedererlangen“ falle aber in der Wirtschaftskrise leichter, findet Rudolf Kaske. Insofern könnte die Gewerkschaft als Krisengewinnerin dastehen: „Wir können jetzt kantiger formulieren und deutliche Signale an die Arbeitnehmer aussenden. Die Wirtschaftskrise ist auch eine Chance für den ÖGB, Vertrauen zurückzugewinnen.“

Von Marianne Enigl und Eva Linsinger