DDR-Spione in Österreich

Spionage. Die Geschäfte des ostdeutschen Geheimdienstes mit Wiener Szene-Promis im Kalten Krieg

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Von Herbert Lackner und Thomas Riegler

Das Lokal sieht fast immer noch so aus wie damals in den siebziger Jahren: Die vom Zigarettenqualm gegerbten Wände, die kleinen Tische, das legendäre Hinterzimmer. Aus den Adabei-Spalten der Zeitungen ist das „Gutruf“ in der Wiener Milchgasse aber schon lange verschwunden. Damals hatten sich hier die in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten groß gewordenen Künstler und Schreiber zum Erfinden, Schmäh-Scheiben und Saufen versammelt: Helmut Qualtinger und Gerhard Bronner, die Maler Markus Prachensky, Josef Mikl, Adolf Frohner und Franz Ringel, die Journalisten Thaddäus Pod­gorski, Günther Broscheit und Reinhard Tramontana, der Star-­Karikaturist Erich Sokol, die Stadt-Originale Udo Proksch, Fatty ­George, Otto Kobalek und Helmut Zilk. Auch Hugo Schönborn, Vater des heutigen Kardinals, schaute gerne vorbei. Der frühere Besitzer des Lokals, Hannes Hofmann, gilt als Qualtingers Vorlage für den Herrn Karl.

Nur wenige handverlesene Frauen hatten zu diesem politisch hochdispersen Männerbund regelmäßig Zugang, wie etwa die Schauspielerin Erni Mangold, die Schriftstellerin Elfriede Gerstl und die Journalistin Eva Deissen. Der Hausschnaps, das wichtigste Produkt des Etablissements, bestand aus einem Drittel Obstler, einem Drittel Gin und einem Drittel Wodka – alles aus dem Tiefkühlfach. Er hat einige der Stammgäste hingerafft.

Als Patron dieser illustren Partie fungierte seit 1972 ein kleiner, kräftiger Mann mit großem Schnauzbart. Er hieß – wie passend für einen Wirt – Rudolf Wein. Amüsiert munkelte man im Lokal, der Rudi habe etwas mit Spionage zu tun, was der 1930 geborene Sohn einer jüdischen Wiener Schneiderfamilie, der sich zeitlebens als Kommunist bezeichnete, gern neckisch kommentierte. „Spionage? Den Begriff verwende ich nicht.

Aufklärertätigkeit für ein sozialistisches Land war für einen Kommunisten Klassenkampf auf höherer Ebene“, sagte Wein noch im 2006 erschienenen Buch „Das Gutruf, ein Hinterzimmer wird 100“, her­ausgegeben von den Stammgästen Peter Allmayer-Beck, Thaddäus Podgorski und Herbert Völker. Wenn er solche Sprüche im Lokal abließ, lachte das Hinterzimmer.
Und doch war der Gutruf-Wirt, er ist im Vorjahr im 81. Lebensjahr verstorben, alles andere als bloß ein kauziger Salonkummerl. Von profil in Berlin eingesehene Dokumente zeigen: Rudolf Wein war nicht weniger als der Chef der Wiener Residentur des DDR-Auslandsgeheimdiensts – einer Gruppe von Agenten, die mit hochspezifischen Informationen das Hightech-Programm der DDR „fütterten“. Wein und seine Leute lieferten alles, was gut, teuer und hinter dem Eisernen Vorhang wegen des technologischen Rückstands nicht herstellbar war: Mikroelektronik, Halbleiter, Festplatten, integrierte Schaltkreise, Kohlefaser-Produkte, Informationen über Kunststoffverfahren, Laser- und Holografie-Technologie, aber auch Konsumgüterelektronik. In den 1980er-Jahren sprachen US-Journalisten von Wiener „Technobanditen“, die dem Westen im Kalten Krieg großen Schaden zugefügt hätten. Die österreichischen Behörden ließen dennoch alle Beteiligten ungeschoren – auch weil sie nicht wahrhaben wollten, welchen Umfang die „Geschäfte“ hatten.

Der offenbart sich in einem ganz besonderen Quellenbestand des Stasi-Archivs in Berlin, der profil auszugsweise vorliegt: die so genannte „SIRA“-Datenbank, auch das „Pharaonengrab“ der Stasi genannt. Darin befinden sich die Decknamen der „Inoffiziellen Mitarbeiter“ (IM) im Westen sowie Zeitpunkt, Art, Umfang und „Benotung“ der von ihnen gelieferten Informationen. Der SIRA-Bestand ist deshalb so wichtig, weil ein Großteil der Akten der DDR-Auslandsspionage kurz nach der Wende 1989 noch rechtzeitig in den Reißwolf gesteckt worden war. So war es bislang nicht möglich, die genauen Hintergründe der mysteriösen „Wiener Residentur“ aufzuklären, deren unterschätzte Zentralfigur Rudolf Wein war.

Schon sein Lebenslauf war im Stadium des Gerüchts geblieben: Er sei während der NS-Zeit mit seinen jüdischen Eltern nach Theresienstadt deportiert worden, hieß es, dort seien die Eltern ermordet worden. Bei einem Fluchtversuch habe er mehrere Finger durch die Explosion einer Granate verloren. Im April 1945 sei Wein, damals 15, auf einem Panzer der Roten Armee nach Wien zurückgekehrt und habe danach eine Chemigrafen-Lehre im KPÖ-Verlag absolviert.

Wein wollte zu alldem zeitlebens nichts ­Genaues sagen. Faktum ist, dass er bei den KP-Weltjugendfestspielen 1957 in Moskau den vier Jahre jüngeren Udo Proksch kennen lernte, Sohn einer NS-affinen Familie, der gerade an der Akademie für angewandte Kunst studierte. Das ungleiche Paar freundete sich an. Proksch begann für den „Kunststoffkönig“ Wilhelm Anger Brillen im Porsche-Design zu entwickeln und holte Freund Rudi nach, der sich bald mit dem Chef überwarf. „Er war damals noch ein „Schlurf“, erinnert sich ein Weggefährte.

1966 gründeten Wein und Proksch die erste gemeinsame Firma namens „KIBOLAC“, was „Kunststoffe, Industrie, Bau, Optik, Lizenzen, Anlagen, Chemie“ bedeuten sollte. Tatsächlich war der Name ein Wortspiel: Der Jude Wein brachte das KIB von Kibbuz, das Nazi-Kind Proksch das OLA von Napola, der NS-Schule. Und dann hängte man eben noch ein C dran. Die KIBOLAC gehörte zu 60 Prozent Proksch und zu 40 Prozent Wein. Später nahm Wein Proksch im Suff 50 Prozent ab und besaß damit 90 Prozent. Die Firma widmete sich vorgeblich dem Erfinden. Wein und Proksch ersannen Dinge wie ein selbstmordsicheres Schlafmittel, ein Gerät, mit dem man Schnäpse älter machen konnte, einen Autoreifen, der nie platzte, und einen „Volks-Safe“, einen billigen, aber strapazfähigen Plastiktresor, der nur mit Ultraschall geöffnet werden konnte. Auf ihn war Wein besonders stolz. Aber nichts von alldem ging in Serie.

Das große Geld kam bald von ganz woanders her. Wein hatte schon seit einigen Jahren Kontakt zum DDR-Geheimdienst unterhalten. Sein Führungsoffizier war der Stasi-Major Horst Müller.

1968 stellte Wein für Müller die Verbindung zum Wiener Physiker Rudolf Sacher her, der in Wien-Neubau gemeinsam mit seinem Schulfreund und Studienkollegen Karl Heinz Pfneudl ein kleines Technikunternehmen betrieb. Als Test beauftragte die DDR Sacher und Pfneudl mit der Entwicklung eines elektronischen Heizungssteuerungssystems, das die Vereinigung volkseigener Betriebe Leipzig ankaufte. Proksch und Wein kassierten 1,2 Millionen Schilling Provision.

Das System funktionierte, die Auftraggeber waren zufrieden. 1969 gründete man die Rudolf Sacher Ges.m.b.H., die formal Sacher und Pfneudl gehörte, bei der aber Rudolf Wein, sein Führungsoffizier Müller und als Rechtsbeistand der Wiener Anwalt Karl Zerner den Ton angaben (siehe Interview Seite 25). Zeitweilig beschäftigte das Technikbüro in der Apollogasse fast 40 ­Mitarbeiter, die Dinge ersannen, zu denen man in der DDR nicht fähig war. Egal, ob es um Analysen der US-Raumfahrtmissionen ging, um Know-how in Sachen Halbleitertechnik, Transistoren, integrierte Schaltkreise oder Gas-Chromatografen – die Wiener beschafften, was die DDR brauchte. Mehrmals vergab man an wissenschaftliche Institute in den USA Forschungsaufträge, deren Ergebnisse ihren Weg in den Osten fanden.
Rudolf Wein wurde in der Stasi-Kartei jetzt unter dem Decknamen „Prokurist“ geführt, der Technikspezialist Sacher unter „Sander“.

Das größte Projekt der Sacher-Truppe war eine komplexe Ionen-Implantationsanlage zum Beschichten von Steuerplatten. Als erste Tranche wurden dafür 1971 rund 25 Millionen Schilling aus Ostberlin überwiesen. Zehn Prozent davon flossen wieder als Provision an die KIBOLAC von Wein und Proksch. 1972 kaufte sich Wein das Café Gutruf, in dem er seit vielen Jahren Stammgast war und in dessen Obergeschoß sich das KIBOLAC-Büro befand.

Die Geschäfte liefen weiterhin prächtig.
Wie die von profil ausgewerteten SIRA-Dokumente zeigen, lieferte IM „Sander“, also Rudolf Sacher, zwischen 1969 und 1978 nicht weniger als 344 Einzelinformationen.
Ein Jahr später, 1979, war der Wiener Außenposten Ostberlins mit einem ernsten Problem konfrontiert: Der Oberleutnant des DDR-Auslandsgeheimdiensts Werner Stiller war unter Mitnahme zahlreicher Akten in den Westen übergelaufen. Hektisch listete man in der Berliner Stasi-Zentrale alle Agenten auf, die Stiller hochgehen lassen konnte, darunter auch Wein und Sacher. „IM Prokurist, Wein Rudolf, öst. Staatsbürger. Dem Verräter nicht persönlich bekannt. Stabile Zusammenarbeit. Schaffte Voraussetzungen zur Materialbeschaffung auf dem Gebiet der Elektronik“, heißt es dazu im entsprechenden Akt. Tatsächlich packte „der Verräter“ Werner Stiller umfassend aus: Er war über die Geschäfte zwischen den tüchtigen Technikern in Wien-Neubau und der DDR recht genau informiert, wenngleich er nicht deren Gesamtumfang abschätzen konnte. Innerhalb weniger Stunden hatte die Staatspolizei alle von Stiller genannten Namen identifiziert und Hausdurchsuchungen bei Wein und Sacher veranlasst. Und dann geschah – nichts.

Die Öffentlichkeit erfuhr von alldem erst neun Jahre später, als der Journalist Hans Pretterebner in seinem Buch „Der Fall Lucona“ – es wurde 380.000-mal verkauft – Details der Aussagen Stillers veröffentlichte. Pretterebner war offenbar von Stapo-Leuten mit Material versorgt worden, die wegen der klandestinen Niederschlagung des Falls erbost waren. Denn obwohl die Staatsanwaltschaft wusste, dass Wein, Proksch und Sacher Technologietransfer in die DDR betrieben, hielt sie 1980 in ihrem Schlussbericht fest, es hätten sich „keine konkreten Anhaltspunkte für ein gerichtlich strafbares Verhalten eines der Beschuldigten“ gefunden.

Hat die SPÖ-Alleinregierung eine unangenehme Causa einfach unter den Tisch ­gekehrt? Immerhin war Bundeskanzler ­Bruno Kreisky unmittelbar vor Stillers Seitenwechsel als erster westlicher Staatsmann in die DDR gereist und hatte mit Staatschef Erich Honecker fette Aufträge für die österreichische verstaatlichte Industrie ausgehandelt.

Allerdings war auch die Rechtslage nicht eindeutig: Das österreichische Strafrecht (§ 256) sieht nur dann Sanktionen für Spionage vor, wenn sich diese „gegen österreichische Interessen“ richtet, was sie im konkreten Fall nicht wirklich tat. Wenn es um militärische Zwecke geht, fällt diese Einschränkung weg.

Und militärisch verwendbar seien die für die DDR entwickelten Bauteile durchaus gewesen, befand schon damals ein geheim gehaltenes Gutachten des österreichischen Heeresnachrichtenamts, ihnen komme „hoher, ja zum Teil höchster militärischer Wert zu“, heißt es in dem Papier.

Die von profil eingesehenen Akten lassen darauf schließen, dass noch brisantere Ware Richtung Osten ging. Am 17. Mai 1971 vermerkt ein Eingangsblatt vom IM „Prokurist“ (Wein) Informationen über „Isotopenherstellung, Neutronenfluss, künstliche Isotope“, die direkt an das DDR-Zentralinstitut für Kernforschung in Rossendorf übermittelt wurden, dem ersten und leistungsstärksten Forschungsreaktor der DDR. Hatte der rundliche Wirt auch Atomgeheimnisse aus den USA beschafft und sie der DDR verkauft?

Das Überlaufen Stillers und die Nachforschungen der Staatspolizei hatten die Wiener Residentur keineswegs verstummen lassen: Nach nur einem Jahr „Pause“ wurde die Tätigkeit, wenngleich reduziert, wieder aufgenommen. IM „Sander“ besorgte unter dem neuen Decknamen „Wendel“ noch bis Mitte der achtziger Jahre Spitzeninfos, so etwa einen Forschungsbericht zu Mikroelektronik im Umfang von 1585 Seiten. Die Stasi war begeistert: „Material ist von hoher strategischer Bedeutung. Es unterstützt maßgeblich Erzeugnis- und Verfahrensentwicklung und festigt Forschungsverlauf. Es führt zu hohem volkswirtschaftlichem Nutzen.“ Im selben Jahr lieferte „Wendel“ zwei weitere mit Bestnote bewertete technische Berichte: „Material entspricht Informationsbedarf, unterstützt Verfahrensentwicklung und hilft Entscheidungen vorzubereiten.“ Empfänger war in den meisten Fällen das Zentrum für Forschung und Technologie der Mikroelektronik in Dresden, Hightech-Herzstück der DDR.

Rudolf Wein dürfte noch bis 1984 unter dem neuen Alias „Richter“ aktiv gewesen sein. Er reichte unter anderem ein Verzeichnis von Handelshäusern weiter, die keine Exportlizenzen der US-Regierung erhielten, sowie eine Liste von Waren, die vom Embargo betroffen waren. „Thema ist von außenwirtschaftlicher Bedeutung, Unterlage ist internes Überblicksmaterial“, merkte die Stasi an. Auch über „Aktivitäten eines vermutlichen BND-Agenten in der Volksrepublik Polen“ berichtete Wein an seine Auftraggeber.

Unschönerweise scheint er auch Informationen über Gäste des Café Gutruf nach Ostberlin geliefert zu haben, etwa über die 1956 aus Ungarn geflüchteten Publizisten Stefan Vajda und Paul Lendvai: Eine Karteikarte aus dem März 1981 vermerkt, Wein habe Informationen über deren Mitarbeit bei Radio Free Europe übermittelt, einem von der CIA bezahlten Sender in München, auf den wenige Tage vor Weins Bericht ein Sprengstoffattentat verübt worden war. Auch für die Wiener Freimaurerloge „Humanitas“ interessierte sich die Stasi. Wein brachte die gewünschten Informationen im Mai 1984 bei.

Im selben Jahr traten in Österreich auf Druck der USA neue Außenhandelsbestimmungen in Kraft, welche die Weitergabe von Hochtechnologie an den Ostblock unter Strafe stellten. Das war auch das Ende der Aktivitäten von Weins Residentur.

Der tüchtige Techniker Rudolf Sacher, inzwischen 73, lebt noch heute in jenem Haus im 7. Wiener Gemeindebezirk, in dem er einst seinen so effizienten Betrieb hatte. Er will zu alldem nichts mehr sagen, nur so viel: Er sei einfach ein Osthändler gewesen, alle Ermittlungen gegen ihn hätten nichts erbracht.

So hatte sich auch der nicht mehr unter den Lebenden weilende Rudolf Wein stets erklärt. Er wurde wohl in vielerlei Hinsicht unterschätzt – auch als Erfinder: Immerhin hatte er schon in den sechziger Jahren Freunden anvertraut, er tüftle gerade an Materialien, um eine Glühbirne zu bauen, die nicht so heiß wird und viel weniger Energie verbrauche.

Lesen Sie im profil 21/2012: "Es war wie im Film" - Der Wiener Kernphysiker Karl Heinz Pfneudl über seine Zeit als "Embargohändler" für die DDR und die Rolle Rudolf Weins.