Rainer Nikowitz

Der Rufmord

Der Rufmord

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Als der Abgeordnete Niederbieger nach einem gewohnt arbeitsreichen Wochenende, das ihn auf das Zeltfest der Freiwilligen Feuerwehr Ürnfritz an der Ürn, den Bieranstich der Trachtenmusikkapelle Häuslstein, die Podiumsdiskussion der Bürgerinitiative „Bürger gegen Bürgerinitiativen“ im kleinen Festsaal des Gasthauses Groß in Gatschbach, die feierliche Eröffnung des sechsten Kreisverkehrs in Dreihausen, die Versammlung der Partei-Ortsgruppe Öd zum Thema „Allfälliges“, das Bauernschnapsturnier des Kulturvereins Hinterwald – für das er übrigens aus eigener Tasche den zweiten Preis, eine ganze halbe Sau, gespendet hatte – und nicht zuletzt zum für den Abstieg aus der 2. Klasse Brachland vorentscheidenden Lokalderby zwischen Lurchloch und Gstettenstetten geführt hatte, in sein Büro im Parlament kam, streifte ihn beinahe ein Schlagerl. Die heutige Plenarsitzung, auch schon wieder die dritte in den letzten vier Monaten, die ohnehin schon durch die Drohung mit Tagesordnungspunkten, bei denen man vorher nie genau wusste, wann der richtige Moment zum abstimmenden Aufstehen gekommen sein würde, die Grenzen des Erträglichen auslotete, war überfallsartig um eine Stunde verlängert worden. Und er hatte keine „Rätsel-Krone“ mit.
Niederbieger fühlte, wie die in ihm hochsteigende Welle der berechtigten Empörung seinen Krawattenknopf zu eng werden ließ. Hochgradig verärgert wollte er eben seine Sekretärin anweisen, ihn mit dem zwei Zimmer entfernt sitzenden Klubobmann zu verbinden – es war ohnehin Zeit, dass ihn der einmal kennen lernte –, als sein Kollege Hackstock in der Tür stand. Auch der sah alles andere denn erfreut drein. „Hast scho glesen?“, fragte Hackstock mit einer Stimme, die Niederbieger das letzte Mal so zittrig gehört hatte, als Hackstock am letzten Wahlabend im Reststimmenverfahren um ein Haar zur Höchststrafe verurteilt worden wäre.

Niederbieger dachte, Hackstocks Frage beziehe sich auf die Gesetzesvorlage zur Gesundheitsreform, die heute zur Behandlung anstand. „Bin i Apotheker?“, antwortete er – weil seine über alle Fraktionsgrenzen hinweg gerühmte Launigkeit verlor er auch in bitteren Stunden nicht. Hackstock sah ihn verständnislos an. Dann wachelte er mit einer Zeitung. „Der Kanzler. Weißt, was der in Argentinien gsagt hat? ‚Bei uns sind Senatoren nach 16 Uhr kaum mehr bei der Arbeit anzutreffen.‘ Verstehst? Der meint uns!“ Jetzt war der Moment gekommen, an dem Niederbiegers Krawattenknopf endgültig daran glauben musste. Da setzte man sich jahrelang ein – oder vielmehr auf der Hinterbank nieder, dass man schon Schwielen am Hintern bekam – und dann das! Verbittert dachte Niederbieger an seine Zeit im Bundesrat, in dem er, bevor er in den Nationalrat gekommen war, bei einer Bezahlung, für die sich heutzutage niemand mehr unter Aufgabe jeglichen Selbstwertgefühles auf eine wählbare Stelle zwingen ließe, stets als große Zukunftshoffnung gegolten hatte. Und zwar die ganzen elf Jahre lang. Dann, im Nationalrat, jagte von Anfang an ein schwieriger Termin den anderen. Ein Ausschuss hier, der andere dort. Gut, eigentlich war er nur in einem, aber der hatte es in sich: Es war kein geringerer als der „Ständige gemeinsame Ausschuss im Sinne des §9 des Finanz-Verfassungsgesetzes 1948“. Nach der ersten und bislang letzten Sitzung im November 2006 hatte sich Niederbieger fest vorgenommen, seine Sekretärin anzuweisen, sie möge nachschlagen, was denn der Sinn des §9 des Finanz-Verfassungsgesetzes von 1948 sein könnte – aber man kam ja zu nichts. Außerdem war Niederbieger noch Ersatzmitglied im „Unvereinbarkeitsausschuss“ – für Hackstock. Und weil der gefunden hatte, die dritte Sitzung in eineinhalb Jahren sei mit dem zeitlich begrenzten Angebot eines unschlagbar günstigen All-inclusive-Arrangements in Gran Canaria unvereinbar, hatte Niederbieger da auch schon einmal reinbeißen müssen.

Nein, Niederbieger erwartete sich keinen Dank. Dazu kannte er die Welt zwischen Ürnfritz und Lurchloch zu gut. Aber Respekt – Respekt konnte man doch verlangen! Hackstock unterbrach Niederbiegers trübes Grübeln mit einem gequälten Aufseufzen. „Darauf haben sie ja alle wieder nur gewartet. Was i mir beim nächsten Pensionistenkirtag in Schotterberg anhören werd müssen – na, frage nicht!“ Niederbieger hatte mit einem Mal unbändige Lust, alles hinzuschmeißen. Einfach in die Politikerpension nach dem alten System zu gehen – einer, der aus seinem Holz geschnitzt war, würde sicher auch kein Problem mit einem entbehrungsreichen Leben haben – und aus. Doch dafür war er natürlich leider viel zu verantwortungsbewusst. Es würde schließlich nichts Besseres nachkommen, so viel war klar. „Das war wirklich eine Gemeinheit“, sagte er dann und spürte, wie seine Wut langsam einer tiefen Traurigkeit wich. „Der Kanzler weiß, was wir tagtäglich leisten! Das sollte doch reichen.“
Hackstock stierte eine Zeit lang schweigend zu Boden. Und dann sagte er: „Genau. Er muss es wirklich nicht auch noch weitererzählen.“