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Detroit: Wie sieht die Krise aus, wenn sie wirklich zuschlägt?

Detroit. Wie sieht die Krise aus, wenn sie wirklich zuschlägt?

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Weil jede Krise ja angeblich auch eine Chance ist, gibt es Veranstaltungen wie diese: Das „Detroit Works Project“ (stadtnah) hat gemeinsam mit den „Detroit Venture Partners“ (Privatwirtschaft) zum Informationsfrühstück geladen, es gibt Kaffee, Croissants und Aufbruchstimmung, garniert mit attraktiven Investmentmöglichkeiten. Journalisten, Stadtplaner, Beamte und Investoren treffen sich im fünften Stock eines Prunkbaus aus dem frühen 20. Jahrhundert, der damals Madison Building hieß, später lange leer stand, kürzlich renoviert und als the m@dison wiedereröffnet wurde. Das soll wohl modern klingen und auch so aussehen: Sichtbeton, Panoramafenster, poppige Designerstühle, kreativ-flexible New-Economy-Büros. Über Leinwände flackern Powerpoint-Präsentationen; die Vortragenden flackern vor lauter Gründerzeitstimmung.

Durch die Panoramafenster sieht man, was hier neu gegründet werden soll: De­troit, Betonung auf oi, die Welthauptstadt des Automobils, die Stadt, in der das Fließband erfunden wurde und die amerikanische Mittelklasse (sowie die dazugehörigen Mittelklassewagen), wo Soul und Techno groß wurden, König Eminem regierte und schon vor mehr als 30 Jahren das ausbrach, was in der restlichen Welt heute Krise heißt. Direkt vor den m@dison-Büros verläuft die zentrale Verkehrsachse Detroits, die Woodward Avenue, ein sechsspuriger Boulevard, den Stadtvermarkter „The All American Road“ genannt haben. Es sind nur wenige Autos zu sehen, dafür umso mehr Schlaglöcher. Motortown ist abgebrannt.

Jede Krise ist eine Chance
Aber genau darum gibt es ja auch Veranstaltungen wie diese, denn wie gesagt: Jede Krise ist eine Chance. Nicht für die, die in der Krise stecken, klar, aber immerhin für die, die ihr Geld hineinstecken: die Investoren, Entwickler und Glücksritter, die sich da bei Kaffee und Croissants Gedanken darüber machen, was man hier tun, entwickeln, kaufen könnte. Nach der letzten Powerpoint-Präsentation werden sie per Bus auf eine Tour durch potenzielle Entwicklungsgebiete kutschiert, auf eine Ruinen-Safari mit Gewinnaussicht.

Die fröhliche Aufbruchstimmung der m@dison-Gesellschaft endet allerdings schon zwei Häuser weiter. Crystal Starr, 28, eigentlich Künstlerin, aber wie die meisten Künstler Detroits meistens Kellnerin, schäumt hinter der Bar des 1515 Broadway Café Milch auf, serviert Sandwiches und beantwortet Fragen. Sie ist seit Kurzem ein bisschen prominent in Detroit, weil sie in dem Dokumentarfilm „Detropia“ aufgetreten ist, der, natürlich, von Detroit handelt und seinen Problemen: die höchste Rate an Gewaltverbrechen im Land; eine Arbeitslosenquote, die sich offiziell um 20 Prozent, ohne Schönrechnung aber Richtung 50 Prozent bewegt; 20.000 zwangsversteigerte Häuser pro Jahr (von denen die Hälfte nicht einmal zum Mindestgebot von 500 Dollar verkauft wird); kaputte Straßen, kaputte Busse, kaputte Menschen.

Wenn in Detroit ein Haus brennt, erkundigt sich die Feuerwehr, ob Anwohner in Gefahr sind. Wenn nicht, erledigt sie erst einmal dringendere Aufgaben. Eine gute Gegend in Detroit erkennt man daran, dass leer stehende Häuser vernagelt sind, in den schlechten verfallen sie unkontrolliert. Durchaus auch in bester Innenstadtlage: Das Nachbargebäude des 1515 Cafés, die ehemals prächtige, 14-stöckige, 1982 verlassene Zentrale des Musikmaschinen-Konzerns Wurlitzer, bröckelt vor sich hin, immer wieder brechen Terracotta-Teile aus der Hochhausverzierung und schlagen Löcher ins Dach. Niemand tut etwas dagegen, weil die Stadt kein Geld hat, sich selbst zu erhalten, und die Privateigentümer kein Interesse, sich darum zu kümmern, weil sie lieber noch ein bisschen zuwarten, ob sich vielleicht doch noch ein Investor findet.

Nie losgelassen
„Das wird ein kalter Winter hier drinnen“, sagt Starr und äußert Zweifel an der Renaissance Detroits, wie sie in den Entwicklerprospekten gepredigt und in den Lifestyle-Magazinen verheißen wird, die glauben, in Michigan das neue Berlin gefunden zu haben. Die Wiedergeburt der Stadt aus dem Geiste der creative industries? Euphorie im Atelier? „Arm, aber sexy“ funktioniert nur, wenn die Armut nicht zu deutlich wird. „Mich kotzt die Selbstgerechtigkeit dieser Investoren an“, sagt Crystal Starr: „Klar ist es schön, wenn kaputte Häuser zu Künstlerquartieren umgebaut werden. Aber was hat das mit Detroit zu tun? Was wir wirklich brauchen, sind funktionierende Busse und Schulen. Wenn die Hipster, die jetzt in die Stadt kommen, weil sie Detroit oder das Image von Detroit aufregend finden, alt genug für eine eigene Familie sind, werden sie ihre Kinder kaum in Detroit großziehen wollen. Dann können wir wieder von vorn anfangen.“
Crystal Starr ist in Detroit geboren, groß geworden und fortgegangen, als sie alt ­genug war. „Aber irgendwie hat mich die Stadt nie losgelassen. Sie hat mich zurückgerufen. Und ich bin zurückgekommen.“ Es gibt tatsächlich genug Gründe, diese Stadt zu verlassen. Aber man lernt sie auch zu schätzen, wenn man sie erst einmal kennen lernt. Das dauert. Detroit sperrt sich gegen oberflächliche Bekanntschaften. Wenig ist hier offensichtlich, einfach oder selbsterklärend. Das macht das Leben in dieser Stadt gleichermaßen aufregend wie beschwerlich. Das muss man mögen. Lokalpatriotismus kann auch so klingen: „Wenn die Scheiße vom Himmel fällt, trifft sie als erstes Detroit“, meint Starr. „Die Kavallerie ist noch nie gekommen, um uns zu retten. Aber aufgeben ist keine Option.“

Auf T-Shirts und Baseballkappen tragen viele Detroiter das inoffizielle Stadtmotto vor sich her: „Detroit Hustles Harder“, Detroit rackert härter. Sich-Abstrampeln als Lebensgefühl. Ob die neuen Bewohner Detroits, die Lifestylemagazin-Leser und Immobilienentwickler-Kunden, dazu bereit sind, lässt sich bezweifeln. Neben ihrer Arbeit im Café recherchiert Crystal Starr gerade für ein Theaterstück. Es soll um geborene Detroiter gehen, um die Geschichten der Menschen, die schon seit Jahrzehnten hier leben und alles gesehen haben, die gute Zeit und die vielen schlechten Zeiten. „Die wichtigste Frage, die du einem Detroiter stellen kannst, ist: Warum lebst du eigentlich noch hier? Dann erzählen sie dir, was wirklich zählt in Detroit.“
Dieselbe Frage kann einem aber auch ernüchternde Antworten einbringen. Eine breit angelegte Umfrage der Tageszeitung „The Detroit News“ zeichnete im Oktober ein eher gedämpftes Stimmungsbild: 66 Prozent der Befragten waren der Meinung, ihre Stadt sei auf dem falschen Weg; 51 Prozent erklärten, sie würden woanders leben, wenn sie könnten. 40 Prozent haben vor, die Stadt in den nächsten fünf Jahren zu verlassen. Derzeit leben noch knapp 700.000 Menschen in Detroit. In den 1950er-Jahren waren es fast zwei Millionen gewesen. Allein in der vergangenen Dekade verlor Detroit ein Viertel seiner Bevölkerung. Denen, die geblieben sind, bleiben jede Menge Sorgen. Und ein paar echte Probleme.

Mit Stichtag Mittwoch der Vorwoche verzeichnete das Detroit Police Department 362 Morde seit Jahresbeginn – nur vier weniger als in New York, einer Stadt mit mehr als zehnmal so vielen Einwohnern. George Hunter, Crime Reporter der „Detroit News“, sagt: „Ein Mord ist für uns keine Geschichte. Zu alltäglich.“ Trotzdem kürzt die Stadtverwaltung dem Police Department regelmäßig das Budget, so wie sie auch das Schul- und das Transportbudget kürzt – weil es nicht anders geht. Demnächst soll ein „Notfinanz-Manager“ installiert werden, um die Stadt mit externer Expertise vor dem Anfang 2013 drohenden Bankrott zu bewahren. An den regelmäßig abgehaltenen Gemeindeversammlungen kann Bürgermeister Dave Bing, ein ehemaliger Basketballprofi, längst nur noch unter verstärktem Personenschutz teilnehmen. Vor dem Protestgebrüll seiner Bürger kann ihn seine Security allerdings nicht bewahren. Bings Vorgänger Kwame Kilpatrick sitzt derweil vor Gericht. Er soll befreundete Unternehmer mit öffentlichen Aufträgen bedacht und selbst Kickback-Zahlungen kassiert haben. In der besagten Umfrage der „Detroit News“ gaben 31,3 Prozent der Detroiter an, dass sie sich als nächsten Bürgermeister „niemanden“ wünschen würden. Amtsinhaber Bing kam auf 9,5 Prozent.

Am unteren Ende der Woodward Avenue, am Ufer des Detroit River, zwischen den glitzernden Bürotürmen der General-Motors-Zentrale und der acht Meter hohen Statue des „Spirit of Detroit“, sitzt Betty, eine stolze Detroiterin Anfang Achtzig – ihr genaues Alter wie auch ihren Nachnamen will sie nicht verraten – und erzählt von früher, von der guten Zeit, als in Detroit noch alles möglich war, der Zeit vor der Ölkrise, die die Autoindustrie zum ersten Mal ruinierte, vor den Detroit Riots 1967, welche die weiße Mittelschicht massenweise aus der Stadt trieben. Die Bewohner von Detroit erzählen gern von Detroit, es ist ihr Lieblingsthema, oft auch ihr einziges, weil es ohnehin unerschöpflich ist: was war, was ist, was kommt und was nicht. Bettys Mann war in den 1950er-Jahren einer der ersten afroamerikanischen Manager bei Ford, die Familie lebte im noblen Indian Village an der East Side, und Betty liebte es, über den innerstädtischen Washington Boulevard zu promenieren. „Die Leute nannten Detroit damals das Paris des Mittleren Westens. Alle europäischen Designer hatten Boutiquen am Washington Boulevard, man spazierte unter uralten Bäumen vorbei an Dior, Chanel und Hermès. Detroit war eine Weltstadt.“ Betty weiß, dass das nicht wiederkommen wird.

Schock in der Innenstadt
Heute findet man keine Boutiquen mehr am Washington Boulevard, auch keine Bäume, nicht einmal eine Starbucks-Filiale, nichts, was man aus amerikanischen Städten so kennt: keine geschäftig vor sich hin hastenden Menschen mit iPhone im Anschlag, keine Taxis, keine Straßenhändler. Dass die Wohnviertel von Detroit mit ihren endlosen Reihen aus Einfamilienhäusern in großem Maßstab verfallen, dass ganze Blocks versteppen, halbe Viertel schlicht aufgegeben werden, weiß man womöglich schon aus den derzeit so beliebten So-kaputt-ist-Detroit-Bildbänden („Ruin Porn“ sagt der Detroiter dazu und findet es gar nicht lustig; wer Fotos von beschädigten Häusern macht, wird böse weggestarrt).

Der eigentliche Schock erwartet einen aber in der Innenstadt: Detroit ist keine Stadt mehr, zumindest keine amerika­nische. Zwischen all den prächtigen Art-Deco-Wolkenkratzern auf den stattlichen Boulevards von Downtown Detroit herrscht täglich Wochenendstimmung: Bürgersteige: hochgeklappt; Verkehr: spärlich; eine Apotheke als einziger Nahversorger, eine Handvoll Sandwichläden für die Büroarbeiter. Dazu drei Sportstadien, die immerhin an Spieltagen Leben in die Stadt bringen, sowie drei Casinos, die ihr zahlreiches Publikum sehr effektiv von der Außenwelt abschirmen. Wo immer das neue Berlin sein mag, hier ist es nicht.

Auf dem Weg durch Detroit lässt sich eine unangenehme Frage kaum je abschütteln: Ist diese Stadt ein Sonderfall? Oder doch vielleicht ein Vorbild? Wird Athen auch bald so aussehen? Madrid? Hat Detroit jene Zukunft nur vorweggenommen, in der das westliche Wohlstandsmodell endgültig outgesourced sein wird? Wird es auch in anderen Städten so laufen wie hier, wo die Politik nach jahrzehntelangem Missmanagement nur noch handlungsfähig spielt und die Leute ihr Geschick selbst in die Hand nehmen? Detroit ist nach langem, öffentlichem Leiden im postöffentlichen Zeitalter angekom-men. Wo es keinen öffentlichen Verkehr mehr gibt (also in weiten Teilen der Stadt), sind private Fahrgemeinschaftsunternehmen entstanden. Parks und Brachflächen wurden zu Gemeinschaftsgärten umgewidmet. Nachbarschaftsinitiativen sorgen in ihren eigenen vier Straßen für Sicherheit, Beleuchtung und die notwendigsten Reparaturen. Und die, die gar nichts mehr haben, keinen Garten und keine Nachbarschaft, gehen in die Kirche. Sie suchen dort keine Spiritualität. Sie suchen Suppe.

Anstellen für den Gemüseeintopf
Es kann empfindlich kalt werden im Detroiter Herbst, von den großen Seen her pfeift ein hartnäckiger Wind in die Stadt. Der Keller der St. Leo’s Catholic Church an der 15. Straße, in einem der schlechteren unter den schlechten Vierteln an der West Side von Detroit, ist zum Glück gut geheizt. Freiwillige Helfer, die meisten von ihnen Pensionisten, betreiben hier eine Suppenküche. Viel könne er leider nicht beitragen, sagt Phil Laciura, der immer ein paar Packungen Socken mitbringt, wenn er hierherkommt: „Aber das bisschen, was ich tun kann, muss ich tun. Diese Leute würden sonst zugrunde gehen.“ 60.000 Mahlzeiten hat allein die St.-Leo’s-Suppenküche im vergangenen Jahr ausgegeben. Phil ist stolz auf das, was hier getan wird, aber auch besorgt: „Es kommen immer mehr Leute zu uns. Aber das Schlimmste ist: Es kommen immer mehr kleine Kinder.“ Tatsächlich: Ganze Großfamilien stellen sich um Gemüseeintopf an, Babys greinen, Kleinkinder zupfen im Altkleiderhaufen, während ältere Obdachlose wortlos Phils frische Socken in Empfang nehmen (Größe: egal, Hauptsache: warm) oder sich vor der Besenkammer anstellen, in der ein Zahnarzt gratis ordiniert. Anfang des Jahres hat die Kirchengemeinde erfahren, dass auch die Erzdiözese von Detroit sparen muss und St. Leo’s wohl umstrukturieren – sprich: in eine benachbarte Gemeinde eingliedern – wird. In jeder Krise eine Chance? Nicht in dieser.

Der Hoffnungsschimmer liegt an derselben Straße wie St. Leo’s, ein paar hundert Meter in südlicher Richtung, schon in Sichtweite der alten Michigan Train Station, eines vor sich hinbröckelnden Monuments des alten Detroit. Den Investoren vom m@dison-Frühstück hätte es hier bestimmt gefallen: Corktown, das alte irische Viertel, erlebt gerade einen kleinen Aufschwung, mausert sich zur Vorzeigezone für das, was vielleicht doch noch geht, wenn alles gut geht. Vor ein paar Jahren drückten Pendler in dieser Gegend noch ein bisschen fester aufs Gaspedal (nicht, weil der Asphalt hier besser in Schuss wäre – im Gegenteil, man braucht in Detroit wirklich gute Stoßdämpfer), heute sitzen schöne junge Leute vor einer Espressobar, die äthiopischen Lagenkaffee ausschenkt. Nebenan warten Menschen stundenlang auf einen Tisch im überregional bekannten BBQ-Imbiss, dazwischen werden in einer schick vergammelten Cocktailbar Drinks gemischt, wie sie auch in New York oder Chicago gemischt werden könnten.

Drei Läden für ein Halleluja. Das ist nicht sehr viel, aber auch nicht nichts. Für Detroiter Verhältnisse sogar eine ganze Menge. Und es muss fürs Erste reichen. Aufschwung dauert. In der Espressobar sitzt Jerry Paffendorf vor seinem Caffè Latte und erzählt, warum es ihn mit seinem New-Economy-Unternehmen vor drei Jahren von New Jersey nach Detroit verschlagen hat. Eine „crazy city“ sei das hier, mit „crazy opportunities“ , extrem spannend, irre aufregend. Aber natürlich schon auch schwierig. Vor zwei Jahren hat Paffendorf mit Kollegen bei einer Zwangsversteigerung zwei leer stehende Häuser gleich ums Eck ergattert, renoviert und zum Kreativ-Campus ausgebaut, inklusive Galerie, Künstlerwohnungen, IT-Büro. Berlin, Michigan. In den Morgenstunden des 27. Juni dieses Jahres stand der Komplex plötzlich in Flammen. Brandstiftung. Die Feuerwehr kam zu spät. Die Ruine kann noch besichtigt werden. Auf einer Seitenwand, die das Feuer überstand: ein überdimensionales Graffiti. „It’s okay“ steht da. Ist es natürlich nicht. Aber: Aufgeben gilt nicht. Detroit rackert härter.

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Sebastian Hofer

Sebastian Hofer

schreibt seit 2002 im profil über Gesellschaft und Popkultur und ist seit 2020 Textchef dieses Magazins.