Germany – zéro points!

Deutschland: Die Identitätskrise der schwarz-gelben Regierung

Deutschland. Die Identitätskrise der schwarz-gelben Regierung bedroht auch die Europäische Union

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Es ist noch gar nicht so lange her, da sah die Welt Deutschland als Motor der europäischen Entwicklung, als Hort politischer Stabilität, und Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde gemeinhin als „Mrs. Europe“ gefeiert. Vier Jahre hintereinander (von 2006 bis 2009) firmierte die deutsche Regierungschefin auf der berühmten „Forbes“-Liste als die „mächtigste Frau der Welt“. Unlängst titelte die „New York Times“ „Germany vs. Europe“ und kritisierte Deutschland als Bremse der europäischen Integration. Frau Merkel ist in der Gunst der internationalen Öffentlichkeit dramatisch abgestürzt. Ihre neuen Spitznamen: „Zeitlupenkanzlerin“ und „Madame No“. Und Deutschland, das lange als europäischer Musterschüler galt, wird des flagranten Wirtschaftsegoismus geziehen. Auch in der Heimat ist die im Berliner Kanzleramt residierende ostdeutsche Pfarrerstochter in schwere Bedrängnis geraten. Die seit Ende Oktober des Vorjahrs regierende schwarz-gelbe Koalition der konservativen Union CDU/CSU mit der liberalen FDP hat längst keine Mehrheit mehr in der Bevölkerung, und schon wird gemutmaßt, sie könnte demnächst, lange vor Ende der Legislaturperiode, zerbrechen. Was ist los mit den Deutschen? Wie konnte es so weit kommen? Und müssen sich Europa und der Rest der Welt wieder vor einem „deutschen Sonderweg“ fürchten?

Nichts geht mehr

Die Anzugträger im großen Saal des Berliner Hotels Inter Continental trauten am Mittwochabend vergangener Woche ihren Ohren nicht. Kurt Lauk, Präsident des Wirtschaftsrats der CDU, machte sich für die Schwachen stark. „Wenn alle etwas geben müssen in dieser Gesellschaft, Arm und Reich, dann müssen auch alle dabei sein.“ Lauk kritisierte die Ungerechtigkeit des von Merkel Anfang vergangener Woche verkündeten „historischen Sparpakets“ und plädierte für die Anhebung des Spitzensteuersatzes. Lauk ist beileibe keiner der linken Kritiker des Pakets, sondern vielmehr als neoliberale Speerspitze in Merkels Partei bekannt. Was ist der schwarz-gelben Regierung nur eingefallen?, fragt die deutsche Öffentlichkeit – zu Recht, denn nur ganz geringfügig wird den Reichen etwas weggenommen. Hauptopfer des Austeritätskurses sind zuallererst die sozial am meisten Benachteiligten: Wohngeldempfänger verlieren den Heizkostenzuschuss, das Elterngeld wird gekappt, und den Arbeitslosen wird künftig kein Übergangsgeld bezahlt. Sind bei solcher Schieflage des Sparpakets Unruhen nicht vorprogrammiert? Gefährdet dieses nicht den sozialen Zusammenhalt? Der Wirtschaftsflügel der CDU hat das offenbar angstvoll begriffen.
„Die schwarz-gelbe Koalition ignoriert den gesunden Menschenverstand, das bedroht ihr Überleben“, diagnostiziert die „Süddeutsche Zeitung“. Schlecht geht es der Regierungskoalition freilich bereits seit Längerem. Der Juniorpartner FDP unter Parteichef und Außenminister Guido Westerwelle ist im Begriff, sich völlig zu marginalisieren. Nach aktuellen Umfragen müssten die Liberalen bei vorgezogenen Neuwahlen sogar um den Einzug in den Bundestag bangen. Die Basis beider Regierungsparteien wird dramatisch schmäler.
Und Angela Merkels Autoritätsverlust ist dramatisch. Die einst gewiefte Machttaktikerin, der man Leadership und Durchsetzungsvermögen zuschrieb, hält die Zügel nicht mehr in der Hand. „Jetzt wird sie von allen Seiten angegriffen“, meint der deutsche Politikwissenschafter Claus Leggewie. „Sie schien nur unantastbar, solange sie erfolgreich war.“ Roland Koch, Ministerpräsident von Hessen und einer der mächtigsten CDU-Granden, trat unvermittelt zurück, da er nach eigenen Aussagen die Politik einfach satthatte. Wenige Tage später warf – noch überraschender – Bundespräsident Horst Köhler, eine Merkel-„Erfindung“, resigniert das Handtuch. Peinlich für die Kanzlerin.

Super-Gauck. Noch peinlicher freilich war die Wahl, die Merkel und die FDP-Führung für die Köhler-Nachfolge trafen. Sie schicken Christian Wulff ins Rennen um den Posten des Staatsoberhaupts. Der Regierungschef von Niedersachsen ist ein blasser, netter katholischer Parteiapparatschik. Wie kleinkariert die Aufstellung Wulffs ist, dokumentierte der Coup, der der SPD und den Grünen gelungen ist. Sie präsentieren als ihren Kandidaten für die Wahl – die nicht vom Volk, sondern in der Bundesversammlung getätigt wird – den studierten Theologen, früheren DDR-Dissidenten und offiziellen Stasi-Aufklärer Joachim Gauck: einen allseits respektierten Mann mit einer beeindruckenden Vita. Gauck hat nicht nur die gesamte deutsche Medienlandschaft hinter sich. Auch eine überwältigende Mehrheit der deutschen Bevölkerung würde ihm vor Wulff den Vorzug geben. Bereits jetzt wird von „Merkels Super-Gauck“ gesprochen. In dieser Krisenzeit wirkt die Merkel-Regierung wie ein im Wald ausgesetztes Kind: orientierungslos, verängstigt, handlungsunfähig – und das birgt große Gefahren. Für Deutschland, Europa und die Welt.

Fatales Sparen
Ein Sparpaket nach dem anderen führt nur in die Rezession“, ätzt Nicolas Sarkozy über Merkels Finanzpläne. Ein für Montag vergangener Woche geplantes Treffen des französischen Präsidenten mit der deutschen Kanzlerin wurde kurzfristig abgesagt. Offenbar waren weder sie noch er bereit, gemeinsam vor die Presse zu treten: Zu divergierend sind die wirtschaftspolitischen Kurse der beiden Machtpfeiler der EU. Und nicht nur Paris fürchtet, dass mit der deutschen Antwort auf die Eurokrise
der soeben erst begonnene zaghafte Aufschwung der europäischen Wirtschaft abgewürgt werde. US-Finanzminister Timothy Geithner bekniete die Berliner Regierung förmlich, vorerst weiter auf Wachstum zu setzen. Und auch die Mehrheit der Ökonomen weltweit sagt einhellig: Die Länder im Süden Europas, die über Jahre hinweg über ihre Verhältnisse gelebt haben, benötigen schmerzhafte Reformen. Die reicheren Industrienationen des Nordens dagegen – allen voran Deutschland – müssen, um aus der Krise zu finden, die Binnennachfrage steigern. Mit anderen Worten: Sie müssen mehr konsumieren. Denn wenn alle gleichzeitig die Nachfrage drosseln, dann führt das in der Konsequenz zu einer Deflation. Letztlich finden dann auch die deutschen Exporte keine Abnehmer mehr. Deutsche Sparsamkeit, Genügsamkeit und Disziplin – oder negativ gewendet: der deutsche Geiz – mögen auf traumatische Inflationserfahrungen des 20. Jahrhunderts zurückgehen. Das Erfolgsrezept der vergangenen Jahrzehnte erweist sich nun jedoch als veritables Hindernis der weiteren europäischen Entwicklung.

Germanisches Euroreich. Merkel verteidigte vergangene Woche ihr Sparkpaket unter anderem auch damit, dass Deutschland als größte Volkswirtschaft Europas als Vorbild vorangehen müsse. Das klingt eher wie eine gefährliche Drohung. Der britische Ökonom Martin Wolf bringt es noch freundlich auf den Punkt: „Deutschland will, dass die anderen deutscher werden. Aber das geht nur, wenn es selbst weniger deutsch wird.“ Schon schärfer reagiert man in Frankreich auf die deutsche Spardogmatik. Die Kanzlerin könne sich nur eine „germanische“ Zukunft des Euro vorstellen, schreibt die französische Tageszeitung „Libération“ sarkastisch: „Merkel träumt von einem Heiligen Germanischen Euroreich.“ Auch die „Financial Times“ lässt keinen Zweifel daran, was sie von Merkels Austeritätspolitik hält: „Vielleicht ruiniert diese nicht den Wirtschaftsaufschwung Europas, aber sie nährt die Vorstellung, dass Defizite moralisch falsch sind. Das ist gefährlich“, meint das britische Blatt. Es bedürfe finanzieller Stimuli, damit die europäische Ökonomie sich bewegt. „Die Rhetorik der Merkel-Regierung riskiert, das zu verunmöglichen.“

Dabei dürfte die deutsche Strategie nicht zuletzt auf einer Fehlanalyse der Eurokrise beruhen. Das mangelnde Vertrauen der Märkte in den Euro liegt weniger an der Gesamtverschuldung der EU-Staaten, wie man in Berlin anzunehmen scheint, als vielmehr an der Unfähigkeit der europäischen Führungen, koordiniert zu handeln. Steht hinter der gemeinsamen Währung kein gemeinsamer politischer Wille, sondern ein Widerstreit wirtschaftlicher Strategien, dann darf es nicht wundern, wenn die Investoren aus dem Euro in andere Währungen flüchten. Solange aber die deutsch-französische Achse – seit jeher Kraftzentrum der EU – so angeknackst bleibt wie jetzt, können die Ausblicke in die Zukunft Europas düsterer nicht sein.

Neudeutscher Nationalismus

Als 1989 die Mauer fiel, ging die Angst um. Würde das neue große Deutschland nun in einen nationalen Rausch verfallen und wieder einen Sonderweg einschlagen?, fragte sich die Welt eingedenk der katastrophalen Erfahrungen, die man in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit den Deutschen gemacht hatte. Nichts dergleichen geschah. Deutschland blieb nicht nur fest in die EU eingebunden, es avancierte zur Avantgarde der europäischen Integration, und im Unterschied zu den meisten ­anderen EU-Ländern hatten radikal-natio­nalistische Strömungen keine Chance. Deutschland zeigte sich stabil und zivilisiert. In der aktuellen Krise vermeinen Beobachter plötzlich, den „hässlichen Deutschen“ wiederzuentdecken. „Im schlimmsten Moment wendet sich das Land nationalistischen Illusionen zu“, analysiert die „New York Times“ in einem Leitartikel. „Die wirtschaftlichen Erfolge Europas werden plötzlich als deutsche Erfolge gesehen. Und die großen ökonomischen Probleme haben hingegen alle, nur nicht Deutschland, verursacht.“

Tatsächlich stand Berlin seit Beginn der Krise immer an vorderster Front unter jenen, die mögliches gemeinsames europäisches Handeln verhindern wollten: So war es bereits beim Stimuluspaket, das Merkel und Co nur auf nationaler Ebene geschnürt sehen wollten. Besonders dramatische Folgen hatte das konstante Lavieren von Schwarz-Gelb bei der Finanzhilfe für Griechenland. Anfang des Jahres, als sich Berlin immer noch weigerte, Athen beizustehen, schlug die „Bild“-Zeitung vor, die Griechen sollten die Akropolis verkaufen. Einige Politiker aus Merkels Partei heizten die Stimmung weiter an und provozierten mit ähnlich absurden Vorschlägen: Athen könne doch einige der vielen Ägäis-Inseln versteigern, um zu Geld zu kommen.

Hemmschuh. Anstatt bei der Bevölkerung die Einsicht zu befördern, dass europäische Solidarität in Krisenzeiten besonders wichtig ist, verharrte man in der Berliner Staatskanzlei lange auf dem durchaus populären Standpunkt, die frivolen mediterranen Staaten wie Griechenland, Italien, Spanien und Portugal sollten doch selbst die Suppe auslöffeln, die sie sich mit ihrer Verschwendungssucht eingebrockt hätten. Das deutsche Zögern hat nicht nur die Spekulanten weiter ermuntert und das ohnehin bereits marode Griechenland noch weiter an den Rand des Abgrunds getrieben. Merkels hinhaltender Widerstand gegen den Anfang Mai schließlich doch noch beschlossenen EU-Krisenmechanismus von 750 Milliarden Euro hat die gemeinsame Währung ­weiter geschwächt. Die gesamte Euro-
zone wurde letztlich durch Merkels Taktik gefährdet.

Verschwörungstheoretiker mögen glauben, dass Deutschland ganz gezielt auf die Abwertung des Euro hinarbeitete, um damit die heimischen Exporte zu fördern. Selbst wenn das nicht stimmt: Derzeit scheinen nicht mehr die Briten der große Hemmschuh auf dem Weg in die europäische Zukunft zu sein, sondern die Deutschen.

Nun muss sich niemand ernsthaft vor einem nationalistischen Rausch der Germanen fürchten. Der nun virulent werdende deutsche Wirtschaftsnationalismus unter der schwarz-gelben Regierung könnte nicht nur Griechenland, sondern in letzter Instanz das gesamte europäische Projekt gefährden. Berlin hat sich offenbar von der EU abgewandt – und Europa von Berlin. Dabei kann einem durchaus bange werden.

Georg Hoffmann-Ostenhof